Der Sozialraum als Bildungslandschaft – Wie sozialraumorientierte Kulturelle Bildung zur Teilhabe befähigt
„Sozialraumorientierung“ wird in der Kulturellen Bildung in letzter Zeit vermehrt dann angeführt, wenn es um das Ziel „mehr (kulturelle) Teilhabe“ geht. Kulturelle Bildung soll sich hierbei, ebenso wie Schulen, „in den Sozialraum öffnen“ und mit „sozialraumorientierten Partnern" kooperieren. Laut Wikipedia ist Sozialraumorientierung „die Bezeichnung für eine konzeptionelle Ausrichtung Sozialer Arbeit, bei der es nicht (wie traditionell) darum geht, Einzelpersonen mit pädagogischen Maßnahmen zu verändern, sondern Lebenswelten so zu gestalten und Verhältnisse zu schaffen, die es Menschen ermöglichen, besser in schwierigen Lebenslagen zurechtzukommen“. Diese Definition weist schon darauf hin, dass es bei dem Begriff um weit mehr als um die Einbeziehung nahegelegener bzw. vertrauter „Orte“ und „Institutionen“ geht.
„Sozialraumorientierung“ lässt sich als Perspektive und Paradigma begreifen – sie ist damit weniger eine neue Methode oder ein pädagogisches Konzept, sie sensibilisiert vielmehr dafür, dass es eine spezielle Verbindung zwischen Raum und sozialem Agieren gibt und dass es darum geht, diese wechselseitige Bedingtheit für erfolgreiche Sozial- und Jugend- sowie Bildungs- und Kulturarbeit zu nutzen. (Vgl. hierzu auch Benedikt Sturzenhecker: „Sozialräumliche Aneignung als ästhetische Selbstbildung.")
Was aber sind die zentralen Annahmen sozialräumlichen Denkens? Das Modell richtet seine Aufmerksamkeit auf die Tatsache, dass Kinder und Jugendliche in einem sozialen Raum aufwachsen, der
- sich geografisch, d. h. real-räumlich, beschreiben lässt.
Es ist unbestreitbar ein Unterschied, ob Kinder und Jugendliche im ländlichen Raum oder in urbanen Ballungszentren aufwachsen, aber auch innerhalb von „Land“, „Stadt“ oder „Peripherie“ gibt es große Unterschiede. Der real-räumliche Sozialraum ist gekennzeichnet durch Infrastrukturen und (architektonische) Erscheinungsbilder, durch vorhandene, zerstörte wie auch in Bau befindliche Orte und Institutionen. Er hat Grenzen, die durch den Aktionsradius, die Mobilität und das Bewegungsprofil der Kinder und Jugendlichen bestimmt sind.
- administrativ bestimmt ist.
Quartier oder Wohngebiet, Stadtteil oder -bezirk, Region oder Landstrich – die öffentliche Verwaltung organisiert „ihre“ Arbeit in administrativen Einheiten, die neben der geografischen Situation auch durch die Zusammensetzung und die Lebenslagen der Wohnbevölkerung gekennzeichnet sind. Daten sind hierzu beispielsweise die ökonomische und Bildungssituation der EinwohnerInnen, ihre ethnischen und kulturellen Hintergründe oder die Alters- und Familienstruktur. Geografie und Bevölkerung lassen administrativ aus Räumen „soziale Brennpunkte“ oder „verödete Landstriche“ „entstehen“.
Für die außerschulische Kulturelle Bildung sind diese ersten beiden Dimensionen z. B. mit der Frage verbunden, ob non-formale Einrichtungen der Jugend-, Kultur- und Bildungsarbeit vorhanden sind, wo sie sich befinden oder wo ihre Angebote durchgeführt werden, ob und wie sie erreichbar sind und durch wen sie genutzt werden (bzw. durch wen nicht) und wie sich die Bevölkerungszusammensetzung in ihnen spiegelt – inwieweit sie als Infra- und Angebotsstruktur also zum real-räumlichen Sozialraum von Kindern und Jugendlichen zählen.
- durch (soziale) Beziehungen und Handlungen geprägt wird.
Sozialraum ist durch Soziales bestimmt und bedingt Soziales. Er ist einerseits durch Beziehungen gekennzeichnet – also durch soziale Kontakte und Netzwerke, AnsprechpartnerInnen und -personen, welche Vertrauensbeziehungen (z. B. Peer, Familie) oder funktionelle Beziehungen (z. B. VerkäuferInnen, LehrerInnen, SozialarbeiterInnen ..) darstellen. Zum zweiten schließt diese Dimension ein, dass sich Kinder und Jugendliche, indem sie (sozial) handeln, Räume erschließen und diese somit beleben und gestalten. Sie nutzen, erweitern oder beschränken ihre Aktionsradien, sie gehen Verpflichtungen oder Hobbys nach, sie engagieren oder verweigern sich.
- innere Perspektiven umfasst.
Die inneren Dispositionen haben entscheidenden Einfluss auf den Sozialraum von Kindern und Jugendlichen. Die physische und die emotionale Konstitution jeder_s Einzelnen im Zusammenspiel mit den Deutungsmustern, Traditionen und Regeln der Gemeinschaften, denen sie/er sich zugehörig fühlt, prägen die jeweils individuelle Wahrnehmung und Bewertung, aus denen sich wiederum Handlung ergibt. Die sich darin ausdrückenden Lebenswelten und -perspektiven, Selbstkonzepte und Weltbilder sind die subjektive Seite des Sozialraums. In diesem Zusammenhang spielen auch Kulturverständnis und Kulturerfahrungen eine entscheidende Rolle.
- zeitliche Dimensionen hat.
Sozialraum ist im doppelten Sinne zeitlich geprägt: Es eröffnet sich dabei zum einen ein biografischer Raum, der auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der einzelnen Kinder und Jugendlichen im Dialog mit dem gesellschaftlich-sozialen Umfeld verweist (Individualisierung und Enkulturation/Sozialisation). Zum anderen werden konkrete Zeiträume gebraucht, geschaffen und genutzt, um sich am Familienleben zu beteiligen, in die Schule zu gehen, sich mit Freunden zu treffen, Freizeitaktivitäten nachzugehen etc. (Rhythmisierung und Freiräume im Alltag).
Für die außerschulische Kulturelle Bildung bedeuten diese unterschiedlichen Dimensionen, Kultur und Bildung beziehungs- und handlungsorientiert (also sozial) zu begreifen. Diese Orientierung drückt sich von Hochkultur bis hin zur Jugendkultur ganz unterschiedlich aus – je nachdem, wo und mit wem Kunst und Kultur „stattfinden“, wie fern oder nah sie den Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen sind, ob sie aktiv oder passiv wahrgenommen werden, welche sinnlichen Erfahrungen und ästhetischen Ausdrucksformen sie ermöglichen etc. Auch ist Kultur nicht ohne subjektive Prozesse und zeitliche Räume denkbar: Wie ein Mensch wahrnimmt, empfindet, bewertet, handelt, ist immer kulturell und biografisch geprägt und davon, welche Zeit zur Verfügung steht.
Kulturelle Bildung und Aneignung
Ein zentraler Begriff und Impuls sozialraumorientierter Arbeit ist „Aneignung“, der alle fünf genannten Dimensionen berücksichtigt: Ein Mensch entwickelt sich, indem er sich aktiv mit seiner Umwelt auseinandersetzt, also wahrnimmt, deutet und verarbeitet, und sich die gegenständliche und symbolische Kultur erschließt bzw. diese (mit-)gestaltet. Kulturelle Bildung öffnet dafür Gelegenheiten und greift dabei alle Aspekte des Aneignungskonzeptes (z. B. Deinet 2009b) auf, insbesondere:
- Kulturelle Bildung ist eigentätige Auseinandersetzung mit der Umwelt und schöpferischer Prozess mittels kultureller und künstlerischer Methoden;
- Sie regt die (kreative) Gestaltung von (realen) Räumen mit Symbolen an;
- Kunst und Kultur sind Inszenierung und verorten sich im öffentlichen Raum sowie in Institutionen;
- Kulturelle Bildung erweitert motorische, gegenständliche, kreative und mediale Kompetenz und unterstützt die eigentätige Nutzung neuer Medien zur Erschließung virtueller sozialer Räume;
- Künstlerische Prozesse ermöglichen es, ein verändertes Verhaltensrepertoire zu erproben.
Sozialräumliche Potenziale der Kulturellen Bildung
Kulturelle Bildung findet nicht nur in zwei wesentlichen (raumgreifenden) sozialräumlichen Kontexten statt, nämlich der Familie und der Kita/Schule, sondern zu einem sehr bedeutenden Anteil auch in weiteren sozialräumlichen Umgebungen: informell z. B. in selbstorganisierten Jugendkulturen, mit Freunden und in medialen sozialen Netzen oder non-formal beispielsweise in Einrichtungen der Jugend- oder Kulturarbeit. Damit ist Kulturelle Bildung Teil des Sozialraums – womit noch nichts über das Ausmaß und die Wirkung gesagt ist.
Gerade weil Kultureller Bildung ein weiter und ganzheitlicher Bildungsbegriff zugrunde liegt, kann sich daraus sozialraumorientierte Bildungsarbeit ableiten. Also eine Bildungsarbeit, welche das soziale und emotionale Lernen berücksichtigt, der Selbstbestimmung und -steuerung des Lernens Raum gibt, Subjekt- und Lebensweltorientierung ins Zentrum rückt, Wahrnehmungsschulung und Perspektivwechsel ermöglicht. Sozialraumkonzepte beanspruchen dabei ebenso wie die Kulturelle Bildung, dass sie Kinder und Jugendliche stärken und dafür partizipative Methoden und Settings anbieten.
Sozialraum, Kultur und Teilhabe
Sozialraumorientierung ist ein Ansatz, der Teilhabe und Mitbestimmung aller Kinder und Jugendlichen am kulturellen und gesellschaftlichen Leben zum Anspruch hat und fördern kann. Schlüssel zu diesem Ziel ist es, dass nicht mehr der Einzelfall „bearbeitet“ wird, sondern die Lebenslagen und -(um)welten in den Blick genommen und verändert werden. Sozialraumorientierung hat mit der Kulturellen Bildung gemein, dass sie
- einen konsequent subjekt- und lebensweltorientierten Blick auf die Zielgruppen realisieren und sich konsequent an den Bedürfnissen der Kinder und Jugendlichen ausrichten (Orientierung am Willen und den Bedarfen der Menschen),
- Lebenslagen so verändern und Menschen dahingehend empowern möchten, dass sich Lebensperspektiven verbessern (Unterstützung von Eigeninitiative und Selbsthilfe),
- Bürgernähe, -beteiligung und -mitgestaltung stärken möchten – und dies im Dialog mit öffentlichen Aufgaben und Trägern,
- die Stärken und Ressourcen (der Menschen, der Einrichtungen und der Vernetzung) nutzen und bündeln,
- die örtliche Dimension, die Lebensbedingungen/-lagen und die subjektive Perspektiven miteinander verbinden,
- institutionelle Differenzierungen und Versäulungen überwinden und ressortübergreifende Vernetzung verwirklichen (Kooperation und Koordination zwischen den Trägern/Einrichtungen inkl. Kommunalverwaltung und ihren Angeboten);
Wenn dieses alles beachtet und realisiert wird, hat sozialräumlich orientierte Kulturelle Bildung die Chance, alle Kinder und Jugendliche zu erreichen. Dabei ist es unbedingt hilfreich, sich kritisch bei allen Angeboten mit folgenden Fragen auseinanderzusetzen und sie bewusst zu entscheiden bzw. zu beantworten:
- Wer soll und kann teilhaben: Sind es wenige Auserwählte oder sind es potenziell Alle, sind es (bisher) Kulturinteressierte oder sind es Kulturverweigerer?
- Woran sollen und können die Kinder und Jugendlichen teilnehmen: Liegt dem Konzept ein enger Kunstbegriff oder ein weiter (transkultureller) Kulturbegriff zugrunde, geht es um (Hoch)Kultur oder um Lebenswelt?
- Mit welchem Ziel soll Teilhabe gefördert werden: Geht es um Audience Development, Persönlichkeitsbildung oder gesellschaftliche Entwicklung, geht es um Spaß oder Empowerment?
- Wie soll und kann beteiligt werden: Wie verortet sich das Angebot zwischen Stigma und Inklusion? Sind geeignete Fachkräfte, Mittel der (An-)Sprache und Methoden vorhanden?
- In welchem Umfang soll und kann Teilhabe gewährleistet werden: Geht es um ein kurzfristiges Projekt oder um nachhaltige, langfristige, grundsätzliche Teilhabe? Geht es um Teilnahme in real-räumlichen Orten oder um Gestaltung sozialer Räume?
Diese Pole ermöglichen eine „Skalierung“ und Verortung – wobei, das sei ausdrücklich erwähnt, es hierbei nicht darum geht, Angebote zu entwerten oder zu verhindern, die sich z. B. an wenige kulturinteressierte Kinder und Jugendliche wenden, sich mit elaborierter Kunst auseinandersetzen, spezifische künstlerische Kompetenzen vermitteln und kurzfristig angelegt sind. Es soll aber angeregt werden, dass auch dieses (in diesem Fall sehr zugespitzte) Angebot unter sozialräumlicher und teilhabeorientierter Perspektive reflektiert wird und sich damit weiterentwickeln kann.
Konsequenzen für kulturpädagogische Einrichtungen und Angebote
Zum Abschluss werfe ich Fragen auf, welche die Konzeption, Methoden und die professionelle Haltung betreffen. „Das Angebot“ meint im Folgenden dabei sowohl die (Kommunal)Verwaltung und die Träger/Einrichtungen und Fachkräfte (Anbieter) als auch die konkreten Veranstaltungen und Aktivitäten der Jugend(kultur)arbeit und Kulturelle Bildung.
- Hat das Angebot einen weiten Sozialraumbegriff in seiner Konzeption verankert und berücksichtigt alle fünf Dimensionen?
- Sind die Zielgruppen für das Angebot identifiziert und weiß das Angebot ausreichend über die Zielgruppen?
- Ist das Angebot teilhabeorientiert – damit auch inklusiv, kultursensibel und diversitätsbewusst – ausgerichtet?
- Werden die Ressourcen und Wünsche aller Beteiligten erforscht und berücksichtigt? Greift das Angebot z. B. Familien- und Elternarbeit sowie Peer-Education auf?
- Ist sich das Angebot seiner eigenen ideellen und Habitus-Hürden bewusst (z. B. Kulturbegriff)? Reflektiert das Angebot kritisch und gesellschaftspolitisch/sozialräumlich das Selbstverständnis als „KünstlerIn“ oder „KulturpädagogIn“?
- Inwieweit fördert das Angebot Demokratie und Engagement?
- Werden der reale und der virtuelle Raum berücksichtigt? Und welche aktiven Gestaltungsmöglichkeiten für diese Räume eröffnet das Angebot?
Literatur:
BKJ e. V. (2014): Themenheft Sozialraum. RAUM BILDUNG HORIZONTE. Kooperationen sozialräumlich gestalten. http://www.kuenste-oeffnen-welten.de/wp-content/uploads/2014/02/BI_20140110_Themenheft_Sozialraum_Titel_web.png
Deinet, Ulrich (Hrsg.) (2009a): Sozialräumliche Jugendarbeit. Grundlagen, Methoden und Praxiskonzepte. 3. überarbeitete Auflage. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2009.
Deinet, Ulrich (2009b): Der offene Bereich als Aneignungs- und Bildungsraum. In: sozialraum.de (1) Ausgabe 2/2009. URL: http://www.sozialraum.de/der-offene-bereich-als-aneignungs-und-bildungsraum.php, Datum des Zugriffs: 05.08.2014
Deinet, Ulrich (o.J.): Sozialraumorientierung in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit. http://mobilenetzwerker.netzcheckers.net/assets/mobilenetzwerker/dateibox/1327676335_Sozialraumorientierung_in_der_offenen_Kinder-_und_Jugendarbeit_.pdf
Jung, Markus (o.J.): „Sozialraum“ – ein Trendbegriff? Eine Annäherung an einen für die Soziale Arbeit relevanten Begriff. http://www.socialmente.de/Raum.html
Kessl, Fabian / Reutlinger, Christian (2010): Sozialraum. Eine Einführung. Wiesbaden.
Reutlinger, Christian (2009): Vom Sozialraum als Ding zu den subjektiven Raumdeutungen. URL: http://www.sozialraum.de/reutlinger-vom-sozialraum-als-ding.php, Datum des Zugriffs: 27.03.2014