Soziale Ungleichheit – Diversity – Inklusion
Ethnische, linguistische und religiöse Pluralität sind schon seit langer Zeit eine Realität in der bundesdeutschen Gesellschaft. Das Wirtschaftswunder der 1960er Jahre löste eine Zuwanderungswelle in die Bundesrepublik Deutschland aus, allerdings wurden die MigrantInnen, die überwiegend aus der Türkei, Spanien, Italien und Griechenland einwanderten, bis zum Ende des 20. Jh.s nicht als dauerhafte „Zuwanderer“ sondern als „Gastarbeiter“ auf Zeit gesehen, in der Annahme, dass die meisten von ihnen sich nur für begrenzte Zeit in Deutschland aufhalten würden. Die Realität war jedoch eine andere: Der weitaus größte Teil der Zuwanderer zog mitsamt der Familie nach Deutschland.
Der Osten Deutschlands erlebte Zuwanderung zwar in begrenzterem Umfang, aber auch in die ehemalige DDR wanderten Menschen aus unterschiedlichen Ländern Afrikas und Asiens ein. Dieser dauerhafte Zuzug von MigrantInnen hat die Demografie deutscher Klassenzimmer nachhaltig verändert: Ethnische, linguistische und religiöse Diversität bildet heute überall in Deutschland die Ausgangsbasis für die Gestaltung von Bildungsprozessen (siehe Karl Ermert „Demografischer Wandel und Kulturelle Bildung in Deutschland"). Die bewusste Wahrnehmung von Diversität als Gestaltungsaufgabe in Bildungsprozessen hat durch die „empirische Wende“ in der Bildungsforschung deutlichen Auftrieb erfahren. Erst durch die großen internationalen Schulstudien wie TIMSS und PISA wurden Fragen des Zusammenhangs zwischen sozialer Herkunft, Bildungsbeteiligung und Bildungserfolg systematisch untersucht. Die PISA-Daten haben erstmals in großem Stile gezeigt, dass soziale Herkunft in Deutschland in einem erheblichen Maße den Bildungserfolg beeinflusst (Baumert/Stanat/Watermann 2006; Stanat/Christensen 2006). Dass Kinder aus bildungsfernen Familien sowie Kinder von Einwanderern in die Bundesrepublik Deutschland in den weniger anspruchsvollen Schulformen auf Sekundarstufe I stark überrepräsentiert sind, hängt damit zusammen, dass das Schulsystem bis Ende des vergangenen Jh.s wenig unternommen hat, um bestimmte Faktoren der Bildungsbenachteiligung, wie zum Beispiel geringe Kompetenzen im Sprechen und Schreiben der deutschen Sprache, systematisch durch frühe Förderangebote zu kompensieren. Seit der Jahrtausendwende genießt die Integration von Zuwanderern Priorität in den Programmen der Regierungen (Bommes/Krüger-Potratz 2008). Nach dem derzeitigen Diskurs gilt ein Zuwanderer als „integriert“, wenn er oder sie die deutsche Sprache beherrscht und auf dem Arbeitsmarkt den eigenen Lebensunterhalt verdienen kann. Eine logische Konsequenz aus diesem Verständnis gelungener Integration ist, dass staatliche Bildungssysteme Angebote machen müssen, die junge Menschen – unabhängig von familiären Sozialisationsbedingungen – bestmöglich fördern, damit diese Bildungsabschlüsse erreichen, die ihnen als Erwachsene politische und ökonomische Teilhabe sowie ein autarkes und selbstbestimmtes Leben ermöglichen (Auernheim 2006; Gogolin 2008; Neumann 2008).
Neben der deutlichen Verbesserung der Rahmenbedingungen für den Bildungserfolg von Zuwanderern stellt die Inklusion von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung in Regelschulen, die durch die Ratifizierung der UN-Konvention zu einem politischen Gebot geworden ist (Wansing 2005), einen weiteren, erheblichen Lernprozess dar, den das deutsche Bildungssystem derzeit durchläuft. Nach der Verfolgung und Diskriminierung von Menschen mit Behinderung durch das nationalsozialistische Regime (1933-1945) empfand es die Politik Westdeutschlands als moralische Verpflichtung, behinderten Menschen „geschützte Räume“ im Bildungssystem zu schaffen, in denen eine professionelle Förderung und Lernunterstützung von Individuen mit unterschiedlichen Behinderungen möglich sein würde. Das Resultat war die Schaffung eines hochdifferenzierten Systems an sogenannten „Sonder-“ bzw. später „Förderschulen“, an denen SchülerInnen mit Behinderung in kleinen Gruppen von gut ausgebildetem und spezialisiertem Fachpersonal gebildet wurden. Die Grundannahme dieses Systems war, dass Kinder und Jugendliche mit Behinderungen sich am besten entwickeln können, wenn sie außerhalb des Regelschulwesens in besonderen Lernumgebungen von hochspezialisiertem Personal beschult würden. Trotz wiederholter öffentlicher Debatten über ein Mehr an Inklusion, blieb dieses „Sonderschul“-System mehr oder weniger stabil bis ins neue Jahrtausend bestehen. Zunächst waren es – zumeist sehr gut ausgebildete – Eltern von Kindern mit Behinderungen, die die kategorische Trennung zwischen ihren eigenen behinderten Kindern und den vermeintlich „normalen“ Kindern im Regelschulwesen in Frage stellten. In den vergangenen Jahrzehnten gelang es einzelnen Eltern immer wieder, das System auch rechtlich herauszufordern, indem sie eine inklusive Beschulung ihres Kindes mit Erfolg einklagten. Bis vor wenigen Jahren hatten diese Urteile jedoch keine Auswirkungen auf die separierende Logik des Gesamtsystems. Nur in einigen Bundesländern wurden vor allem im Bereich der Grundschulbildung sukzessive inklusive Bildungssettings für Kinder mit und ohne Behinderung geschaffen. Im Jahr 2009 vollzog die Bundesrepublik Deutschland dann den Paradigmenwechsel hin zu einem inklusiven Schulsystem: Im März 2009 wurde nach ihrer Ratifizierung die so genannte UN-Behindertenrechtskonvention für die Bundesrepublik Deutschland rechtsverbindlich. Mit diesem Schritt gilt der Zugang zu inklusiver Bildung nun als ein Menschenrecht, dessen Umsetzung Staaten durch gesetzliche Rahmenbedingungen gewährleisten müssen. Die Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention stellt einen Meilenstein in der Umsetzung von Diversitätskonzepten im Bildungsbereich der Bundesrepublik Deutschland dar. Im internationalen Vergleich schließt Deutschland damit zu einer Entwicklung auf, die in vielen Ländern international längst vollzogen ist. In England z.B. wird der „Index for Inclusion“ seit Jahren erfolgreich eingesetzt, um Schulprogramme auf ihre Tauglichkeit im Hinblick auf die Inklusion aller Kinder, unabhängig von deren sozialer Herkunft oder kognitiver Entwicklung, zu evaluieren. In Kanada erfolgte der Paradigmenwechsel hin zur inklusiven Beschulung aller Kinder in Regelschulen mit unterrichtlicher und schulorganisatorischer Binnendifferenzierung bereits seit Anfang der 70er Jahre des vergangenen Jh.s, als ein wegweisendes Verfassungsgerichtsurteil bereits das Menschenrecht auf inklusive Bildung zu einer kanadischen Rechtsnorm erhob. Der Begriff „special needs“ beschreibt im kanadischen Kontext die Tatsache, dass es in jeder Schule in größerer Zahl Kinder und Jugendliche gibt, deren besondere Bedürfnisse beim Lernen Berücksichtigung finden müssen, damit sie sich erfolgreich entwickeln können. Der Begriff ist weit gefasst und deckt neben Kindern mit Behinderungen und Lernbeeinträchtigungen auch Kinder mit Hochbegabungen ab. Die Diversität von Individuen wird im kanadischen Schulsystem als positive Ressource betrachtet und auch so kommuniziert. Die inklusive Beschulung von Kindern und Jugendlichen mit besonderem Förderbedarf wird in der Zukunft dazu führen, dass auch jede deutsche Schule ein Konzept im Umgang mit Diversität entwickeln muss, das sich auf so unterschiedliche Bereiche wie die innere Differenzierung im Unterricht, die Binnenorganisation von Schulen, die Einbindung außerschulischer Partner und nicht zuletzt auch die Leistungsbewertung und -rückmeldung beziehen muss. Entscheidend für den Erfolg dieser Schulkonzepte wird sein, ob es ihnen gelingt, Diversität als Gewinn und nicht als Bedrohung zu rahmen und entsprechend zu leben.
Frühe Selektion als Barriere einer Entwicklung von Diversitätskonzepten im Bildungsbereich
Durch die frühe Selektion der Kinder in unterschiedliche Schulformen je nach kognitiven Leistungsfähigkeiten wurde in Deutschland – zumindest auf der Ebene der Sekundarstufen I und II – lange Zeit die Fiktion homogener Lerngruppen aufrecht erhalten. Durch das hohe Maß an Spezialisierung in unterschiedliche Typen von Sonderschulen und durch die sukzessive Einführung von Spezialschulen für hochbegabte SchülerInnen haben sich Schulformen so stark ausdifferenziert, dass Lehrkräfte von weitgehend homogenen Lerngruppen ausgehen konnten, auch wenn die Forschung im Nachklang zu PISA eindeutig zeigen konnte, dass Homogenität durch Selektion eine Fiktion ist. Die PISA-Daten zeigen, dass statistisch gesehen die Spitzengruppe der SchülerInnen an Realschulen bessere Lernergebnisse zeigt als ein Teil der GymnasiastInnen. Begabungen verlaufen zum einen domainspezifisch, sodass eine eindeutige und trennscharfe Zuordnung zu den Schulformen gar nicht leistbar ist, wie das Beispiel von autistischen SchülerInnen mit hoher mathematischer Begabung zeigt, die in der Vergangenheit zu Unrecht teilweise in Sonderschulen beschult wurden. Jüngere Forschung zur Entwicklung von Intelligenz im Jugendalter zeigen zudem, dass sich die durch Tests messbare Intelligenz im Laufe des Jugendalters deutlich verändern kann (Ramsden/Richardson u.a. 2011).
Das grundlegende Paradigma, dass Selektion im Schulsystem zu homogenen Lerngruppen führt und dass diese lernförderlich ist, wird also derzeit in mehrfacher Weise herausgefordert. Das Denken entlang von „Normalität“ und den Abweichungen davon hat im deutschen Schulsystem bis ins 21. Jh. eine lange Tradition (Tillmann 2006). Nach der schwierigsten Aufgabe im Lehrerberuf gefragt, antwortete der Pädagoge Johann Friedrich Herbart (1776-1841) „die Verschiedenheit der Köpfe“. Der erste deutsche Pädagogikprofessor, Ernst Christian Trapp (1745-1818) vertrat die Ansicht, dass Lehrkräfte sich am Durchschnitt orientieren sollten, da es unmöglich sei, die momentane Disposition jedes einzelnen Schülers in einer Schülergruppe zu berücksichtigen (Trapp 1780). Trapps Rat war, sich an den „Mittelköpfen“ zu orientieren. Die logische Konsequenz dieser Tradition war die Schaffung und Aufrechterhaltung eines Schulsystems, das auf homogene Lerngruppen ausgerichtet war. Die Ausrichtung am „Durchschnitt“ legitimierte ein relativ uniformes Lehren, das die gleichen Lerninhalte und Lernziele, ähnliche Lernschritte und eine zeitliche Gleichtaktung des Lernens von SchülerInnen einer Lerngruppe vorsah. In der Leistungsbewertung spielte die soziale Bezugsnorm, also der Vergleich der SchülerInnen in einer Lerngruppe untereinander gegenüber der individuellen Bezugsnorm (dem Vergleich der Leistung eines Schülers mit den eigenen Vorleistungen) und der kriterialen Bezugsnorm (dem Vergleich mit Bildungsstandards oder übergeordneten Kriterien) eine dominante Rolle.
Studien zur Lehrerrolle und Lehrerprofession zeigen, dass eine Orientierung an einem imaginierten „Durchschnittsschüler“ angesichts der enormen ethnischen, linguistischen und sozioökonomischen Diversität der Gegenwartsgesellschaft nicht mehr tragfähig sind (Gomolla 2005; Gomolla/Radtke 2009). Professionelles Handeln im Bildungskontext impliziert im 21. Jh. immer auch das bewusste Wahrnehmen und Reflektieren von unterschiedlichen Ausgangsbedingungen, dem unterschiedlichen Vorwissen der Lernenden und erheblichen Unterschieden in den familialen Sozialisations- und damit auch Lernbedingungen von Kindern und Jugendlichen. Die Forschung zu diesem Themenfeld entwickelt sich seit der Veröffentlichung der ersten PISA-Studie (2000) dynamisch, befindet sich aber insgesamt noch in den Kinderschuhen (Stanat/Segeritz 2009). Aufgrund des fehlenden Bewusstseins für die Diversität von Lernenden in unserem Bildungssystem standen differenzierte Daten über Lernbedingungen und Lernerfolge von Kindern aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Sozialisationsmilieus lange Zeit nicht in einer Form zur Verfügung, die ein bewusstes Diversity Management zugunsten der beiden Zieldimensionen „Chancengerechtigkeit“ und „Exzellenz“ ermöglicht hätte. Erst im vergangenen Jahrzehnt wurde auf nationaler und kommunaler Ebene ein systematisches Bildungsmonitoring zum Zwecke der Qualitätsentwicklung implementiert (z.B. Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2012b).
Es sind aber über das neue Diversitätsbewusstsein hinausgehend auch die mittlerweile von einer breiten Öffentlichkeit diskutierten Forschungsergebnisse der pädagogischen Psychologie und der neurowissenschaftlichen Hirnforschung, die zu Beginn des 21. Jh.s dazu führen, jedes Kind – unabhängig von seiner Herkunft – als individuelles Wesen mit einem hohen Lern- und Entwicklungspotential zu sehen (Istance/Dumont 2010). Das Resultat dieser veränderten Betrachtungsweise ist ein neuer Fokus auf die Personalisierung von Lernprozessen und die individuelle Förderung.
Von der Homogenität zur Diversität im deutschen Bildungssystem
Das deutsche Bildungswesen befindet sich mitten in einem Paradigmenwechsel: Begriffe wie „individuelle Förderung“, „Binnendifferenzierung“ und „Heterogenität“ haben Hochkonjunktur in der Bildungsforschung und den pädagogischen Fachpublikationen. Regionale und nationale Programme dienen der Stärkung des Schulsystems im Umgang mit heterogenen Lerngruppen. Während noch bis zum Ende des 20. Jh.s das Paradigma der homogenen Lerngruppen vorherrschte, zeigt eine Analyse der im Bildungsbereich verwendeten Semantik eine Weiterentwicklung des Systems zugunsten der Wahrnehmung und Anerkennung von Heterogenität. Kaum ein Wort findet sich in bildungswissenschaftlichen Veröffentlichungen des frühen 21. Jh.s so häufig, wie der Begriff der Heterogenität. Dennoch ist auffällig, dass Heterogenität häufig noch in einem Atemzug genannt wird mit Begriffen wie „Problem“ oder „Herausforderung“.
Länder mit einer längeren Tradition der Zuwanderung, so wie Kanada, Australien oder Neuseeland, scheinen in puncto Diversität einen Schritt weiter zu sein: Statt Heterogenität als Herausforderung zu betrachten, wird Diversität als Bildungsgewinn und zentrale Ressource von Bildung gesehen. Interindividuelle Unterschiede zwischen Menschen dienen als Ressource für wechselseitiges Lernen. Bildungsräume ohne Unterschiede in Interessen, Fähigkeiten und Sichtweisen einerseits und ohne Unterschiede in kulturellen, ethnischen und religiösen Identitäten andererseits, würden als karge und inspirationslose Orte betrachtet.
Das deutsche Bildungswesen hat den entscheidenden Paradigmenwechsel von der Leitidee der Homogenität zu der der Heterogenität bereits vollzogen. Der Weg, der dem deutschen Bildungssystem in den nächsten Jahren bevorsteht, führt vom Verständnis der Heterogenität als Problem bzw. Herausforderung zu einem Verständnis von Diversität als Bildungsgewinn und als Bildungsressource. „Schulen der Diversität“ müssen sich dazu in mehrfacher Hinsicht weiterentwickeln: Neben der Personalisierung und Binnendifferenzierung von Lernprozessen, der Nutzung unterschiedlicher Sozialformen wie kooperatives Lernen, projektorientiertes Lernen und Peer-Lernen sowie der verstärkten Anwendung der individuellen und der kriterialien Bezugsnorm in der formativen Leistungsrückmeldung und der Leistungsbewertung, impliziert dies auch, dass Diversität als Wert kommuniziert und als Bildungsressource genutzt wird. Individuen haben multiple, hybride und sich wandelnde Identitäten, ihr kulturelles Wissen und ihre individuelle Perspektiven lassen sich nicht nur in sozialemotionaler sondern auch in kognitiver Hinsicht in der Gestaltung von Lernprozessen nutzen. Der Weg von der „Heterognität als Herausforderung“ zur „Diversität als Ressource und als Gewinn“ wird das deutsche Bildungssystem eine guten Schritt weiter in die Lebensrealität des 21. Jh.s führen. Kulturelle Bildung sollte ihren Beitrag dazu leisten.