Bei sich selbst anfangen... Kulturelle Bildungsarbeit vor dem Hintergrund von Flucht und Migration
Abstract
Um angesichts einer immer diverser werdenden Gesellschaft weiterhin relevante Kulturarbeit zu leisten und mehr Teilhabe zu ermöglichen, muss bei den Strukturen der Kultureinrichtungen angesetzt werden. Der folgende Artikel plädiert für mehr Vertrauen in die Potenziale kultureller Bildungsprozesse und in die Wirkmacht diversitätssensibler Strukturen, entbindet damit aber keineswegs PolitikerInnen, KulturvermittlerInnen und Kulturschaffende von ihrer Verantwortung.
Das Jahr 2016 hat uns im Besonderen gezeigt, dass wir unsere inhaltliche Arbeit an Einrichtungen der Kulturellen Bildung, in „Hochkultureinrichtungen“ wie staatlichen Museen oder Theatern, in soziokulturellen Häusern, Stadtteilkulturzentren und anderen Bildungs- und Begegnungseinrichtungen vor dem Hintergrund der aktuellen politischen und gesellschaftlichen Veränderungen neu reflektieren müssen. Deutschland wird wie die Daten des statistischen Bundesamtes zeigen – nicht nur durch die in den letzten Jahren ankommenden geflüchteten Menschen – immer heterogener. Auch bestehen starke Unterschiede im Zugang zu Bildung, ökonomischen und politischen Ressourcen. Daher fokussiert der folgende Beitrag nicht allein auf das Thema Flucht und Migration, sondern versucht einen weiteren Bogen zu spannen und dabei der Frage nachzugehen, wie sich kulturelle Bildungsarbeit verändern muss angesichts einer diversen und zunehmend diverser werdenden Gesellschaft und dem Recht jedes Einzelnen auf kulturelle Teilhabe.
Kunst und Kultur als Integrationsgarant?!
Kunst und Kultur wird häufig von Seiten der Politik, aber auch von den Kulturschaffenden und KulturvermittlerInnen selbst als Integrationsmotor verstanden. Damit soll gemeinhin ausgedrückt werden, dass wer sich mit Kunst und Kultur des Einwanderungslandes beschäftigt, besser integriert werden kann. Der hier implizit verwendete Integrationsbegriff wirft viele Fragen auf: Was passiert mit der mitgebrachten Kunst und Kultur der Herkunftsländer? Wessen Aufgabe ist Integration eigentlich und welche Kunst und Kultur ist eigentlich genau gemeint, wenn von Integration die Rede ist? (siehe hierzu auch den Artikel von Susanne Keuchel: Diversität, Globalisierung und Individualisierung: Zur möglichen Notwendigkeit einer Neuorientierung in der Kulturpädagogik)
Man muss den Integrationsbegriff, oft noch verstanden als eine einseitige Leistung, die von den Einwanderern zu erbringen sei, aber nicht gänzlich „verteufeln“. Naika Foroutan und andere plädieren für eine Rehabilitation des Integrationsbegriffs im Sinne der Integrationsfähigkeit einer Gesamtgesellschaft, also eines post-migrantischen Integrationsbegriffs. Voraussetzungen für eine solche Integrationsfähigkeit aller Bürgerinnen und Bürger in eine Gesellschaft wären laut Foroutan „Anerkennung, Chancengerechtigkeit und Teilhabe“ für jede und jeden (Vortrag am 10.11.2016 in der Stiftung Genshagen). Um echte Teilhabe, d.h. aktive Mitgestaltung einer Gesellschaft zu ermöglichen, muss das Individuum – ob mit oder ohne Migrationshintergrund – Selbstermächtigung und Selbstwirksamkeit erfahren. Für diese Selbst-Erfahrungen sind ästhetische Wahrnehmungsformen sowie die produktive Auseinandersetzung mit den Künsten oder ästhetischen Praxen bestens geeignet, wie uns die Erkenntnis aus zahlreichen kulturellen (Bildungs-)Projekten lehrt (vgl. beispielsweise Taube/Fuchs/Braun 2017).
Auch im Rahmen einer repräsentativen Umfrage des Zentrums für Kulturforschung, dem „1. InterKulturBarometer“ (siehe hierzu auch Susanne Keuchel: Das 1. InterKulturBarometer – Zentrale Ergebnisse zum Thema Kunst, Kultur und Migration) konnte dies und auch die Wirkung kultureller Partizipation auf die Migrationserfahrung nachgewiesen werden. „Die positive Bewertung von Migrationserfahrung steht vor allem in einem Wechselverhältnis zur kulturellen Partizipation, einer hohen Bildung und auch häufigen Besuchen im Herkunftsland. Dabei ist der Zusammenhang der als sehr vorteilhaft erlebten Migrationserfahrung mit dem Interesse am Kulturgeschehen noch stärker.“ Und weiter: „Die Wertschätzung von Kulturgeschichte des Aufnahme- und Herkunftslandes unterstützt positiv erlebte Migrationsprozesse.“ (Keuchel 2012:63) Es geht also bei der Wirkmächtigkeit von Kunst und Kultur nicht um das Interesse und die Beschäftigung mit der sogenannten „Leitkultur“ des Einwanderungslandes, sondern eben um eine breite Auseinandersetzung mit kulturellen und künstlerischen Formen des Einwanderungs- und des Herkunftslandes oder auch anderer Länder. Also um einen Kultur- und Kunstbegriff, der – ganz im Sinne der UNESCO – von Vielfalt geprägt ist.
Alles eine Frage der Teilhabe?!
Teilhabe an gesellschaftlichen Wissens- und Auseinandersetzungsformen scheint der Schlüssel für Integrationsfragen aller Art zu sein, doch was meint teilhaben an Gesellschaft in der Umsetzung? (vgl. auch: Jens Mädler und Kerstin Witt: Gelingensbedingungen kultureller Teilhabe) Das Konzept der Teilhabe kann in mehrere Dimensionen aufgeschlüsselt werden, die alle Ausdruck von Teilhabe und aktiver Gestaltungsfähigkeit des Individuums in einer Gesellschaft sind und ganz konkret überprüft werden können.
Zunächst ist als eine wichtige Dimension von Teilhabe die politische Teilhabe zu nennen. Das Recht auf politische Mitbestimmung, d.h. das Wahlrecht, aber auch das Recht sich politisch zu äußern und zu organisieren ist eine wichtige Facette aktiver Mitgestaltung und Beeinflussung von Gesellschaft. Dafür ist meist die soziale Teilhabe, d.h. die Einbindung des Einzelnen in Gruppen, Vereine, Organisationen, Freundeskreise etc. von wesentlicher Bedeutung. Sie geht einher mit sozialer Anerkennung und der Überprüfung subjektiver Wertvorstellungen. Eine ökonomische Teilhabe wird ermöglicht über grundsätzliche finanzielle Ressourcen, die dem Individuum zur freien Verfügung stehen und selbstbestimmtes Handeln unterstützen, wenn gar erst ermöglichen. Ein bedingungsloses Grundeinkommen wäre beispielsweise Ausdruck einer ökonomischen Teilhabefähigkeit für alle. Strukturelle Teilhabe wird über einen Arbeitsplatz, eine Wohnung oder andere grundsätzliche, lebenswichtige Absicherungen erreicht. Kulturelle Teilhabe schließlich ist dann gewährleistet, wenn es dem Individuum möglich ist, am kulturellen Leben einer Gesellschaft – nicht nur an den Künsten – zu partizipieren. Das setzt ein grundsätzliches Interesse, eine Informiertheit und ein Grundverständnis über die Angebote sowie letztlich dann den tatsächlichen Besuch von kulturellen Veranstaltungen voraus. Das Recht, am kulturellen Leben einer Gemeinschaft vollumfänglich teilhaben zu können, ist festgeschrieben in den Allgemeinen Menschenrechten (Artikel 27, 1). D.h. es ist eben nicht purer Luxus, sich eine Theater- oder Konzertkarte leisten zu können bzw. ein Grundverständnis für verschiedene kulturelle und künstlerische Formen zu entwickeln – es ist ein festgeschriebenes Menschenrecht! (siehe auch: Max Fuchs: Kulturelle Bildung als Menschenrecht?)
Kulturelle Teilhabe - oft gegenüber den anderen Teilhabeformen unterschätzt – ist jedoch so wichtig, da das kulturelle und symbolische Kapital, d. h. Geschmack, Ausdrucks-, Umgangsformen, Bildung - eben die „feinen Unterschiede“ nach dem Soziologen Pierre Bourdieu (Bourdieu 1999) maßgeblich unseren Habitus bestimmen und daher Einfluss haben auf das ökonomische und soziale Kapital sowie unsere politischen Einflussmöglichkeiten. Folgt man dieser bourdieuschen Argumentation, so kann das kulturelle Kapital als der Schlüssel zu weiteren Kapitalsorten verstanden werden und erhält dementsprechend eine enorm hohe gesellschaftliche Bedeutung. Dabei ist wichtig zu betonen, dass kulturelles und symbolisches Kapital keineswegs nur ein Faktor für Inklusion sein kann, sondern eben auch in hohem Maße für Exklusion. Gerade KulturvermittlerInnen sollten sich dies immer wieder vor Augen führen und ihre Angebote dementsprechend reflektiert und inklusiv gestalten.
Was die großen, staatlichen Kultureinrichtungen in Deutschland mangels einer inklusiven Kulturvermittlung meist nicht schaffen, können soziokulturell geprägte, kleinere Einrichtungen paradigmatisch leisten. Die etablierten staatlichen Kultureinrichtungen haben meist immer noch einen großen Anteil an Nicht-Nutzern, d. h. Personen, die niemals solche Häuser betreten (vgl.: Thomas Renz: Nicht-BesucherInnen öffentlich geförderter Kulturveranstaltungen. Der Forschungsstand zur kulturellen Teilhabe in Deutschland). Stadtteilkulturzentren sind näher an den Bedürfnissen der Teilnehmenden und des Publikums und die aktive Mitgestaltung und Identifikation mit dem kulturellen Angebot in der Kommune ist für den Einzelnen höher als bei klassischen Kultureinrichtungen. MultiplikatorInnen mit dem Zugang zu unterschiedlichen „communities“ schaffen schnell eine persönliche Beziehung und Kulturarbeit wird so zur „Herzens“- und Alltagssache. Stadtteilkulturzentren können somit direkte Partizipation ermöglichen und zwar für alle Alters- und Bevölkerungsgruppen, von Anfang an. Wissenschaftlich wurde in einigen Studien nachgewiesen: je früher das Kind in Kontakt mit ästhetischen Prozessen kommt, desto intensiver und nachhaltiger ist das lebenslange Kulturinteresse (zum Beispiel Keuchel/Wiesand 2006). Doch wie gelingen Partizipation, Teilhabe und Zielgruppenerweiterung in der Praxis?
Mehr Teilhabe durch diversere Strukturen?!
Eine Antwort auf die oben gestellte kulturelle Teilhabefrage, besonders im Kontext von Migration und Flucht, ist Diversität. Je mehr Kontakt der Einzelne mit individueller Vielfalt und dem für ihn, für sie „Fremden“ hat, desto eher wird der Abbau von Stereotypen und Vorurteilen gefördert. Dieser Befund, der durch mehrere soziologische Studien bestätigt ist, erklärt, warum die Angst vor einer Überfremdung gerade in Gebieten mit wenig sozialer Vielfalt besonders ausgeprägt ist. Dem Narrativ der letzten Jahre zur Angst vor einer Invasion fremder Kulturen und dem damit zusammenhängenden angeblichen Verlust europäischer Kultur, steht beispielsweise in Deutschland im Jahr 2015 eine Zuwanderungsrate von 55% der Eingewanderten aus Europa, damit die größte Einwanderergruppe, entgegen. Wer also tatsächlich einwandert, ist alles andere als ein „Fremder“ im Sinne der historischen kulturellen Entwicklungen. Der Begriff des Jahres 2016 „post-faktisch“ bringt diese irrealen Ängste und daraus folgende narrative Veränderung der tatsächlichen Befunde und Daten treffend auf den Punkt.
Das Konzept der Diversität ist jedoch nicht nur durch unterschiedliche ethnische Hintergründe beschrieben. Mindestens sechs Dimensionen von Diversität können benannt werden: Unterschiede in Bezug auf Geschlecht, Alter, Milieu, Religion, Handicap und eben ethnische Herkunft und Zugehörigkeit. Das heißt, dass umfassende kulturelle Teilhabe breiter Bevölkerungsteile nur erreicht werden kann, wenn im kulturellen Angebot einer Kommune, Region oder Organisation mindestens diese Dimensionen von Diversität Ausdruck finden. Die Anstrengungen, die hierzu unternommen werden sollten, müssen nicht rein aus altruistischen Zwecken geschehen. Städte, Regionen und Kulturbetriebe profitieren von einem Zuwachs an EinwohnerInnen oder Publikum und müssen sich meist um ihre Legitimation oder ihre Zukunftssicherung keine Sorgen mehr machen, wenn es ihnen gelingt, Menschen mit diversen Hintergründen und Lebensformen anzusprechen (vgl. Körber Stiftung 2016).
Die verschiedenen Dimensionen von Diversität zeigen des Weiteren, dass eine Dekonstruktion des Migrationsnarrativs notwendig ist. Es geht, wenn wir gesamtgesellschaftlich integrationsfähig sein wollen, um mehr als um ethnische Zugehörigkeit. Das bedeutet vor allem, Bildungs- und Teilhabestrukturen zu verbessern und damit eine Gesellschaft zu entwickeln, die jede und jeder aktiv mitgestalten kann. Gerhard Kowař, der Leiter der Einrichtung KulturKontakt Austria, hat einmal treffend formuliert: „Um Teilhabe zu ermöglichen, müssen wir bei uns und unseren Einrichtungen anfangen!“ Dies setzt zunächst eine spezifische Form der Haltung voraus, die an der Gestaltung des Lebens in einer pluralen und diversen Gesellschaft interessiert ist und diese befördern möchte. Wie erreichen wir jedoch einen Umbau etablierter, homogener Strukturen im Kulturbereich? Was hat das mit Kultureller Bildung zu tun und warum können uns die Künste bei der Umsetzung und Gestaltung von diversitätssensiblen organisationalen Strukturen helfen?
4. Vertrauen in künstlerische und ästhetische Prozesse?!
Eine ästhetisch und pädagogisch anspruchsvolle Kulturelle Bildung enthält zahlreiche Potenziale, die wir uns beim Umgang mit Diversität zu Nutze machen können (vgl. hierzu auch Rat für Kulturelle Bildung 2014:46ff.). So ist ein wesentlicher Teil der ästhetischen Kommunikation eng verknüpft mit unserer Leiblichkeit. Durch das Singen beispielsweise überwinden wir Sprachbarrieren und über das Theaterspiel oder den Tanz findet Kommunikation über die Körper und zunächst nicht über Sprache statt. Das inkorporierte Wissen und die Erfahrungen, die unseren Körpern eingeschrieben sind in Form spezifischer Gesten, Mimik oder auch Handicaps, erzählen ihre eigenen Geschichten und können über die ästhetische Arbeit kommunikativ fruchtbar gemacht werden. Dabei zentral sind Wahrnehmung und ästhetische Erfahrung, die in kulturellen Bildungsprozessen regelrecht geübt werden. Gerade im Umgang mit „dem Fremden“, wenn wir uns nicht auf etablierte und gewohnte Umgangsformen verlassen können, ist eine spezifische Wahrnehmungssensibilität von hoher Bedeutung. Durch ästhetische Erfahrungen, d. h. Aha-Erlebnisse und/oder Momente der Irritation, können wir erkennen, dass alles auch ganz anders sein könnte und Vorurteile überwinden – so dies in einem angstfreien Raum geschieht. Differenzerfahrungen lassen uns Routinen und vermeintliche Gewissheiten durchbrechen und im besten Fall reflektieren.
Gute Kulturelle Bildungsangebote folgen des Weiteren dem Diktum der Subjekt- und Stärkenorientierung. (vgl. auch Tom Braun/ Brigitte Schorn: Ästhetisch-kulturelles Lernen und kulturpädagogische Bildungspraxis) Nicht eine spezifische Gruppe mit spezifischen Merkmalen, sondern das individuelle Subjekt steht im Mittelpunkt des Prozesses. In qualitativ hohen ästhetischen und pädagogischen Prozessen wird Rücksicht genommen auf individuelle Kompetenzen und Fertigkeiten. Damit wird erreicht, dass sich das Subjekt als selbstwirksam erfährt, das ästhetische Produkt authentisch ist und so die ästhetische Erfahrung identitätsstiftend wirkt. Diese Selbstermächtigung und daraus folgende Selbstwirksamkeitserfahrung in gelungenen kulturellen Bildungsprozessen ist eine wesentliche Voraussetzung für weitere erfolgreiche Teilhabeformen.
Die Künste sind per se in ihrem Ausdruck immer mehrdeutig und vielschichtig. Diese Ambiguität auszuhalten, verschiedene Optionen zuzulassen, sich nicht festzulegen, nicht vorschnell zu kategorisieren sind Verhaltensweisen, die durch den Umgang mit den Künsten gelernt werden können und auch für den Umgang mit Diversität strukturell notwendig sind. Kontingenz, d.h. die unendliche Zahl an Möglichkeiten, die jeder ästhetische Gestaltungs- und Rezeptionsprozess eröffnet, ist ein „Trainingslager“ für das Leben in einer diversen Gesellschaft. Aber auch die Entwicklung von Sensibilität für Wahl- und Entscheidungsmöglichkeiten oder die allen ästhetischen Prozessen inne wohnende Zweckfreiheit bilden Potenziale Kultureller Bildung, die uns dabei unterstützen können, nicht nur unsere Haltung, sondern in der Folge auch Strukturen zu ändern.
Vertrauen in diverse(re) Strukturen?!
Zum Schluss sollen auf zwei Ebenen – der institutionellen und der politischen – Handlungsansätze beschrieben werden, die Diversität befördern können ohne hier einen Anspruch auf Vollständigkeit erheben zu wollen.
Zunächst erscheint die reflexive Betrachtung der eigenen (institutionellen) Biografie unter dem Paradigma der Diversität entscheidend. Wo ist die Einrichtung oder Organisation bereits divers? Welche Genese hat zur Entscheidung geführt, diversere Strukturen aufbauen zu wollen? Des Weiteren ist es bedeutsam, die Sprache und das damit verbundene Begriffsvokabular unter die Lupe zu nehmen. Sprechen wir von „uns und denen“? Wo stigmatisieren wir durch häufig (unüberlegt) verwendete Begrifflichkeiten? Was wird durch unsere Wortwahl zum Ausdruck gebracht, suggeriert? Wo ist unsere Sprache exklusiv? Diese Analyse verlangt letztlich eine ehrliche Reflexion der Machtstrukturen in der Institution/Organisation und den konsequenten Willen, Machtstrukturen zu verändern.
Das sogenannte Anerkennungs-Paradox umschreibt die Schwierigkeit, ja das Paradox eines Angebotes, bestimmte Zielgruppen einzuschließen und anzuerkennen, ohne diese gleichzeitig zu stigmatisieren und als „anders“ zu kennzeichnen. „Sobald soziale Anerkennung als Forderung oder Vorhabe konkret wird, schließt sie aus“ (Mecheril 2000:9). D.h., dass es eben nicht genügt, ein Angebot beispielsweise für geflüchtete Menschen zu machen, sondern strukturelle Fragen, die durch diese „neue Zielgruppe“ aufgeworfen werden, müssen grundsätzlicher verhandelt werden (Mörsch 2016:67 ff.). Das wirft die Frage nach der Zielgruppenansprache im Allgemeinen und letztlich der Ausgestaltung der drei PPPs (Personal, Programm und Publikum) auf. Welchen impliziten oder expliziten Gesetzen folgt der institutionelle Umgang mit Personal, die Ausgestaltung des Programms oder die Ansprache des Publikums? Wie sehen institutionelle Machtstrukturen aus? Wie sind diese drei PPPs, aber auch die Auswahl und Kontakte zu Förder- und Kooperationspartnern zu verändern, wenn die Strukturen diverser werden sollen? Wie ist der Kontakt zu Publikum und Partnern als Beziehung zu gestalten?
Weitere Punkte des institutionellen Aufbaus von diverseren Strukturen wären sicherlich zu beschreiben. Insgesamt muss es aber – um dies abzukürzen – darum gehen, Transkulturalität und Diversität als Prinzip der Institution oder Organisation zu begreifen und dementsprechend müssen neue Formen der Umsetzung aller Handlungsbereiche entworfen werden (Ehlert/ Reinwand 2012:115).
Politik kann diesen, angesichts der aktuellen gesellschaftlichen Lage m. E. unumgänglichen, institutionellen Umbau unterstützen. Verschiedene Maßnahmen, gerade auf kommunaler Ebene, sind denkbar: So ist es wichtig, die Leitungen von Organisationen und Institutionen zu gewinnen, einen Diversitätsprozess einzuläuten und aktiv anzustreben. Dies setzt entsprechende Fortbildungen und Anreizsysteme für die Leitungsebene voraus. Des Weiteren wird viel über eine Quote im Sinne diverserer Strukturen gesprochen. Es kann dabei nicht nur um ethnische Hintergründe gehen, sondern in einem umfassenden Diversitätskonzept müssen auch die anderen Dimensionen berücksichtigt sein. Anzustreben ist demnach ein Team, das auf unterschiedlichen Ebenen wie Alter, Geschlecht, Ethnie u.a. heterogen ist, um eine Programm zu ermöglichen, das wiederum breite Bevölkerungsschichten anspricht. Wenn dies nicht mit „weichen Faktoren“ wie Aufklärung, Fortbildungen oder Selbstverpflichtungen in Form von Leitbildern zu erreichen ist, müssen eben – temporär – auch „harte Faktoren“ wie eine politische Quote helfen, gesellschaftliche Transformationsprozesse zu beschleunigen. Darüber hinaus ist die Unterstützung bei solchen Transformationsprozessen unabdingbar. Beratungen oder konkrete Unterstützungsleistungen können beispielsweise kommunal durch interkulturelle Lotsen oder auch Dolmetscherdienste umgesetzt werden. Antidiskriminierungsstellen sollten zu Kompetenzzentren für Diversität aus- und umgebaut werden. Diese könnten es auch ermöglichen, dass Good-Practice, die bereits selbst in kleineren Kommunen vorhanden ist, sichtbar wird und Nachahmerstrukturen leichter etabliert werden können. Es gäbe eine Reihe weiterer politischer Maßnahmen, von denen einige beispielsweise dem online verfügbaren Papier „Impulspapier der Migrant*innenorganisationen zur Teilhabe in der Einwanderungsgesellschaft“ (2016) zu entnehmen sind und daher an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt werden sollen.
Abschließend lässt sich festhalten, dass kulturelle Bildungsarbeit vor dem Hintergrund von Flucht und Migration keine grundsätzlich andere ist als zuvor. Die bewährten Grundlagen kultureller Bildungsarbeit finden auch im Hinblick auf Diversität ihre Anwendung. Allerdings reicht es nicht aus, kurzfristige Projekte und Maßnahmen für eine bestimmte Zielgruppe aufzulegen oder Werkzeuge zu entwickeln, die schnelle Teilhabe versprechen wie beispielsweise der Titel des 2016 erschienenen Bandes „Geflüchtete und Kulturelle Bildung. Formate und Konzepte für ein neues Praxisfeld“ zunächst suggeriert. Vielmehr geht es um eine Transformation der institutionellen Strukturen und Veränderung der Machtstrukturen, die dann auch zwingenderweise eine diversere und breitere Personalentwicklung, Programmgestaltung und Zielgruppenansprache nach sich ziehen. Der oben genannte Band beschreibt diese Möglichkeiten anhand zahlreicher Beiträge.
Stadtteilkulturzentren und im Stadtteil bzw. der nachbarschaftlichen Gemeinschaft verortete, soziokulturelle Begegnungs- und Bildungsorte haben in Hinblick auf diese Transformationsprozesse die besten Voraussetzungen, da sie nah an der Bevölkerung sind und schneller neue Strukturen entwickeln können als große, etablierte Kultureinrichtungen. Aber auch diese müssen sich mit Unterstützung der Kommunen und anderer Förderer darum bemühen, entsprechende Prozesse in Gang zu setzen. Eine lebendige und gesellschaftlich relevante Kultur- und Bildungsarbeit wird auch in der Zukunft wahrscheinlich mehr denn je gebraucht werden.