‹Schule – Nicht-Schule – Nicht-Nicht-Schule› Entgrenzungspotenziale ästhetischer Praktiken in Schule und Unterricht
Abstract
Ästhetischen Praktiken wird vielfach nicht nur ein besonderes Bildungspotenzial zugeschrieben, sie gelten auch – zumindest, wenn sie konventionalisierte kulturelle Formen nicht lediglich affirmativ reproduzieren, sondern diese iterativ-tentativ transformieren – als kulturelle Artikulations- und Handlungsweisen, die den schulisch-unterrichtlichen Alltag potenziell variieren können und tradierte Grenzen von Schule und Unterricht – im metaphorischen wie topografischen Sinne – hinterfrag- und verhandelbar werden lassen. Vor diesem Hintergrund nimmt der vorliegende Beitrag Schule zunächst aus einer dezidiert praxeologisch-kulturtheoretischen Perspektive sowie als einen zentralen Ort der Präsentation und Repräsentation von Kultur in den Blick (Mollenhauer 2003). Ausgehend von empirischen Indizien gehen die Autor:innen anschliessend der Frage nach, inwiefern ästhetische Praktiken aufgrund der potenziell transgressiv-explorativen Grundstruktur ästhetischer Artikulationsweisen (Jörissen 2015) dazu beitragen können, «Third Spaces» (Bhabha 2000) – im Sinne eines liminalen Zwischenraums von Schule, Nicht-Schule und Nicht-Nicht-Schule (Schechner 1990) – zu eröffnen, in denen aufgrund der Herstellung von Unbestimmtheit (Marotzki 1988) sowie vor dem Hintergrund neu- und andersartiger Relationierungsangebote bspw. Subjektpositionen jenseits tradierter kultureller Normen hervorgebracht und eingenommen werden können.
Einleitung
Ästhetischen Praktiken wird immer wieder eine enorme Wirkmacht im Hinblick auf kulturelle Schulentwicklung zugeschrieben (u.a. Bilstein et al. 2007; Bilstein und Kneip 2009; Liebau und Zirfas 2009). Ungeklärt bleibt dabei oftmals, worin genau sich die zugeschriebenen Entwicklungsmöglichkeiten begründen und wie – also in welcher Art und Weise – sich derartige Entwicklungen konkret praktisch vollziehen. Ausgehend von empirischen Indizien beschäftigen sich die folgenden Ausführungen daher in kritisch-reflexiver Weise und auf vorwiegend theoretischer Ebene mit Entgrenzungspotenzialen ästhetischer Praktiken in Schule und Unterricht sowie mit deren Voraussetzungen und Möglichkeiten. Hierzu wird zunächst Schule als Ort kultureller Praxen in den Blick genommen, die auch den Raum der Schule prägen und verändern. Zweitens sollen die Rolle ästhetischer Praktiken und deren transformativ-transgressive Potenziale im Hinblick auf kulturelle und gesellschaftliche – und damit auch schulische – Ordnungen erörtert werden. Darauf aufbauend werden schliesslich drittens Bedingungen und Möglichkeiten der Entgrenzung von Schule und Unterricht durch Praktiken des «Third Spacings» eruiert sowie empirische Anschlussmöglichkeiten aufgezeigt.
Empirische Indizien: Ein Beispiel
Auch wenn es bei den theoretischen Überlegungen der nachfolgenden Kapitel nicht im Kern um Schultheater gehen wird, möchten wir den vorliegenden Text mit einer Aussage einleiten, die von einer Schüler:in im Rahmen der Erhebungen des vor einigen Jahren am damaligen Lehrstuhl für Pädagogik der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg durchgeführten Projekts «Theatrale Bildung» getroffen wurde, da diese eine spezifische Spur eröffnet, der im Folgenden nachgegangen werden soll:
«Ich verbind es auch gar nicht mit Schule. […] Des is eigentlich nur, dass des hier im Schulgebäude is, aber so mit Schule hats eigentlich nichts zu tun» (T. Klepacki 2016, 241). Insofern hier mit «es» das Schultheater gemeint ist, drängt sich unweigerlich die Frage auf, was wohl dazu geführt hat, dass diese:r und andere Schüler:innen das beforschte schulische Theaterangebot eigenen Aussagen zufolge nicht als Teil von Schule wahrnahmen (ebd.). Schliesslich handelte es sich ja ausdrücklich um eine schulische Veranstaltung, die in den Räumlichkeiten eines Gymnasiums stattfand und von zwei staatsexaminierten Theaterlehrkräften geleitet wurde. Von den Schüler:innen der höheren Jahrgangsstufen wurde der Theaterkurs sogar als Grundkurs belegt, d. h. sie legten Prüfungen ab, erhielten Noten und brachten diese auch ins Abiturzeugnis ein. Die Probenzeiten waren umfangreich und für alle Teilnehmenden verpflichtend und bestimmte Inhalte der Inszenierung konnten zu einem Eklat führen, wenn die Schulleitung sich nicht mit deren Aufführung einverstanden erklärte (ebd., 134ff.).
Organisationale und rechtliche Logiken und Massgaben der Institution Schule spielten also sehr wohl eine grosse Rolle in diesem gymnasialen Wahlpflichtangebot, und doch fanden sich nicht nur bei den Schüler:innen, sondern auch bei den Lehrkräften ambivalente Aussagen über den wahrgenommen Status des Theaterkurses. So betonten die Lehrpersonen zwar während der gemeinsamen Arbeit mit den Schüler:innen immer wieder, dass das «hier» ja keine Schule sei und dass man jetzt mal aus dem Schulmodus bzw. der typischen Schüler:innenhaltung herauskommen müsse. Gleichzeitig nahmen sie aber die Notenvergabe sehr ernst, entwickelten eine Art Portfoliosystem zur Benotung und berichteten, sie nähmen immer wieder wahr, dass Theaterschüler:innen ein anderes Verhältnis zur Institution Schule insgesamt entwickelten, diese in einem neuen Licht sähen und wieder Spass und Freude am gesamten Schulalltag fänden (ebd., 240f.).
Doch woraus resultieren diese ambivalenten Aussagen der Beteiligten? Warum wird das Schultheater hier scheinbar zugleich als Teil von Schule und nicht als Teil von Schule wahrgenommen? Oder theoretisch abstrakter – in Anlehnung an das Prinzip der doppelt negierten Präsenz theatraler Darsteller:innen des amerikanischen Theateranthropologen Richard Schechner (1990, 10ff.) – gefragt: Warum wird das Schultheater zugleich als Schule, Nicht-Schule und damit letztlich in einem interferenten Dazwischenzustand von Nicht-Nicht-Schule wahrgenommen oder zumindest so beschrieben?
Zu einem gewissen Teil kann dies sicherlich u. a. auf die Selbstbehauptungsnotwendigkeit des Schultheaters bzw. seiner Akteur:innen als wenig etabliertes (Rand-)Fach in Schule zurückgeführt werden. Man sieht sich gewissermassen gezwungen, anders und besonders zu sein, um als gleichwertiger Teil des (künstlerischen) Fächerkanons anerkannt zu werden. Es könnte sich hier also bspw. lediglich um den Effekt von impliziten und expliziten Selbstaffirmationen der beiden, gut im (wissenschaftlichen) Diskurs über das Schultheater orientierten Lehrkräfte (T. Klepacki 2016, 137ff.) handeln, die sich im Sinne eines heimlichen Lehrplans auch auf die Schüler:innen ausgewirkt haben und von diesen angeeignet wurden.
Darüber hinaus lassen die hier beschriebenen empirischen Befunde aber durchaus auch die Vermutung zu, dass gegebenenfalls das spezifische ästhetische Setting des schulischen Theaterspiels selbst (L. Klepacki 2007) – aufgrund seiner (postulierten) Verfasst- und Strukturiertheit als Möglichkeits- und Freiraum (bspw. Westphal 2012) im Rahmen von Schule – zu diesen ambivalenten Wahrnehmungen und Beschreibungen beigetragen haben könnte. Ob dem so ist, müsste allerdings auf empirischer Ebene noch deutlich genauer eruiert werden. Es sind jedoch Befunde und Anhaltspunkte wie die eben am Beispiel des Schultheaters exemplarisch aufgezeigten, die uns in den letzten Jahren immer wieder dazu animiert haben, der Frage nachzugehen, inwiefern ästhetische Praktiken oder ästhetische Situationen tatsächlich – oder zumindest potenziell im Sinne einer strukturellen Möglichkeit – dazu beitragen können, den schulisch-unterrichtlichen Alltag zu variieren und die etablierten Rahmen von Schule und Unterricht hinterfrag- und verschiebbar werden zu lassen. Bevor jedoch erörtert werden kann, wie sich ein solches spezifisches Potenzial theoretisch herleiten und begründen liesse, soll im Folgenden zunächst erläutert werden, inwiefern Schule grundsätzlich als Ort und Raum kultureller Praxis gedacht werden kann und welche Auswirkungen eine solche Perspektivierung auf ein Nachdenken über die Entgrenzbarkeit von Schule und Unterricht hat (Jörissen und Klepacki 2021).
Schule als Ort und Raum kultureller Praxis
Um die nachfolgenden Gedankengänge nachvollziehbar zu machen, muss zunächst das spezifische Verständnis von Schule, das den nachfolgenden Überlegungen zugrunde liegt, expliziert werden. Dabei ist allerdings anzumerken, dass es sich hierbei – insbesondere angesichts der vielfältigen Beiträge der praxeologisch-kulturtheoretischen Schul- und Unterrichtsforschung (Helsper 2014, 199–207) – gerade nicht um eine völlig neuartige Perspektive auf Schule handelt. Es geht vielmehr um einen Seitenblick aus einem bestimmten Bereich der Allgemeinen Pädagogik, der sich zum Ziel gesetzt hat, bestehende schulpädagogische Diskurse mit kulturpädagogischen Diskursen zu verbinden und damit neue Perspektiven insbesondere für das Fachgebiet der Kulturellen Bildung zu eröffnen.
Dabei ist anzumerken, dass es in den wissenschaftlichen- und praxisbezogenen Diskursfeldern der Kulturellen Bildung bereits seit einigen Jahren einen expandierenden Diskursstrang über die Frage gibt, inwiefern bzw. in welcher Art und Weise und zu welchen Zwecken Kultur in der Schule gestärkt werden kann und muss und welche Bedeutung kultureller Schulentwicklung bei der Bewältigung anstehender schulischer Herausforderungen zukommen kann bzw. soll. Hierbei wird in vielfältiger Art und Weise auf kritikwürdige Aspekte und aktuelle Herausforderungen schulischer Realität im deutschen Bildungssystem – wie bspw. die mit der Kernfachfokussierung einhergehende Marginalisierung künstlerischer Fächer oder die an etlichen Stellen immer noch mangelhafte inhaltliche Ausgestaltung des Ganztagsschulbetriebs – hingewiesen (Fuchs und Braun 2015). Entsprechende Ansätze fokussieren daher in der Regel auf die Entwicklung von Alternativmodellen, die es ermöglichen, Schule über die Konzentration auf messbare Leistungen und Kompetenzen hinaus auf eine Art und Weise neu bzw. anders zu denken, die es erlaubt, «das Prinzip Ästhetik in allen Qualitätsbereichen von Schule zur Anwendung [kommen]» (Fuchs 2016, 13) zu lassen (Jörissen und Klepacki 2021, 126). Die Betonung der auf die Künste bzw. das Kunstschaffen bezogenen Schulfächer und Unterrichtsgehalte (z. B. Bilstein et al. 2007; Bilstein und Kneip 2009; Liebau und Zirfas 2009) «erscheint dabei als ebenso prominent wie die Postulierung eines breiten Kulturbegriffes, mit dem Schule als ‹Lebenswelt eigener Art› (Fuchs 2016, 14), die es durch Kulturelle Bildung als Teil von Allgemeinbildung zu kultivieren gilt, in den Blick genommen werden kann und soll» (Jörissen und Klepacki 2021, 126).
Der in diesem Diskurs prominente und vielfach propagierte Begriff der «Kulturschule» (bspw. Ackermann et al. 2015; Braun, Fuchs, und Kelb 2010; Braun et al. 2013; Fuchs 2012; Fuchs 2013; Fuchs und Braun 2011; Fuchs und Braun 2015; Fuchs und Braun 2016a; Fuchs und Braun 2016b) erscheint dabei allerdings auch befragenswert: einerseits, sofern hier immer wieder versucht wird, schulexterne Logiken und Begriffsaufladungen aus dem Feld der Kulturellen Bildung, d. h. einem signifikant durch Traditionen ausserschulischer Bildung geprägten Bereich, auf schulische Gegebenheiten und Angelegenheiten zu projizieren (Jörissen und Klepacki 2021, 128). Andererseits weil sich hier – zumindest in Bezug auf ihre praktische Auslegung und Umsetzung – eine Tendenz zu einer Assoziation des Kulturbegriffes mit «den» Künsten und damit kunstästhetischen Praxisformen zeigt. Dadurch kommt tendenziell ein Kulturbegriff zum Tragen, der kulturelle Praxis in eine semantische Nähe zu den Logiken und Perspektiven des Kunstsystems und des überwiegend öffentlich verwalteten Kultursektors einer Gesellschaft und den damit verbundenen kulturellen Phänomenen und Objektivationen rückt. Dieses Prinzip kultureller Schulentwicklung läuft damit jedoch tendenziell Gefahr, allein auf eine – grundsätzlich natürlich begrüssenswerte – nachhaltigere Verankerung der Künste sowie von Künstler:innen in Schule reduziert zu werden (Jörissen und Klepacki 2021).
Im Gegensatz zu diesen Argumentationslinien soll Schule im Folgenden im Anschluss an Klaus Mollenhauers «Vergessene Zusammenhänge» (2003) zunächst als zentraler gesellschaftlicher Ort der Präsentation und Repräsentation von Kultur – im weitesten Sinne des Wortes – in den Blick genommen werden, an dem kulturelle Wissensformen nicht einfach nur schulisch «vermittelt» und «angeeignet» werden, sondern dabei potenziell auch transformiert und neu artikuliert, sprich hervorgebracht werden. Eine solche Perspektivierung von Schule zieht jedoch zunächst die Notwendigkeit nach sich, den hier zugrunde gelegten, in hohem Masse unterschiedlich paradigmatisch aufgeladenen sowie diskursiv multiperspektivisch ausdifferenzierten Kulturbegriff (Thompson, Jergus, und Breidenstein 2014) anders als im oben angeführten Sinne zu spezifizieren. In Anlehnung an Andreas Reckwitz’ Konzept eines bedeutungs- und wissensorientierten Kulturbegriffs (Reckwitz 2012, 64ff.) soll «Kultur» hier vor allem als Konglomerat kollektiver Sinnsysteme (ebd., 90) aufgefasst werden, die mittels geteilter Wissensordnungen handlungsermöglichend und -strukturierend wirken und die zugleich als Formgefüge aus sozialen Praktiken hervorgehen und in diesen tradiert und transformiert werden. Kultur bezeichnet damit insbesondere
«ein Phänomen, das sich in kollektiven symbolischen Orientierungs- und Artikulationsformen […], in Routinen, Ritualisierungen und Ritualen […], auch in Formaspekten materieller und infrastruktureller Konfigurationen […] sowie in institutionellen und politischen Formen […] artikuliert» (Jörissen 2018, 52).
Vor dem Hintergrund dieser kulturtheoretischen Anschlüsse wird klar, dass die Rede von «Schule als Kulturort» durchaus auf andere Aspekte von Schule verweist, als es der Begriff der «Kulturschule» nahelegt, der eben häufig für die Bezeichnung von Schulen «mit einem ausgewiesenen kulturellen [bzw. künstlerischen, Anm. d. A.] Profil» (Fuchs 2016, 13) im bereits erläuterten Sinne verwendet wird. Im Gegensatz dazu geht der vorliegende Text davon aus, dass Schule von ihrer Grundstruktur her per se eine kulturelle Organisation ist, da schulische Praxis auf die Organisation von kulturellem Wissen und Können ausgerichtet ist (L. Klepacki und Sausele-Bayer 2023). In diesem Sinne wäre dann jegliche schulische Bildung – unabhängig von konkreten fachlichen oder inhaltlichen Bezügen – als eine spezifische Form dessen zu verstehen, was man in einem breiten Sinne als «kulturelle» Bildung bezeichnen kann (Mollenhauer 2003), und Schule als genuiner Ort kultureller Bildung in den Blick zu nehmen.
Wie Jörissen und Klepacki (2021) zeigen, liesse sich Schule – verstanden als zentraler Ort und Raum der Präsentation und Repräsentation von Kultur (Mollenhauer 2003) – somit als eine Organisation perspektivieren, die selbst untrennbar «mit der Gesamtkultur, mit der gesellschaftlichen Formation dieser Kultur, mit ihren noch legitimierbaren überlieferten Beständen und deren Zukunftsfähigkeit» (Mollenhauer 2003, 19) verwoben ist. Insofern aber gleichzeitig in Betracht gezogen werden muss, dass «die zu tradierenden kulturellen Wissens- und Praxisformen […] nicht als solche, sondern als unterrichtlich artikulierte und das heisst, als didaktisch [(re-)]problematisierte und somit als in einem Zukunftsbezug zu bearbeitende Aufgaben vermittelt werden» (Jörissen und Klepacki 2021, 129 ; vgl. hierzu auch Sünkel 1996) und sich schulische Kulturvermittlung in dieser Perspektive demnach «selbst [als] ein […] transformatives Geschehen darstellt» (ebd.), ist Schule gerade nicht ausschliesslich als Agent kultureller Tradierung und Überlieferung zu verstehen. Da schulische Kulturvermittlung und -aneignung in performativer Hinsicht nicht rein reproduktiv bzw. konservativ, sondern insofern iterativ erfolgt, als die schulischen Kulturinhalte nicht einfach als solche gelernt werden, sondern als didaktisch strukturierte und organisierte Gegenstände aufzufassen sind, die von den Schüler:innen aktiv bzw. praktisch re-konstruiert werden müssen (Sünkel 1996), tritt Schule hier vielmehr auch als «Agent kultureller Transformation» (Jörissen und Klepacki 2021, 129) in den Fokus der Betrachtungen.
Aus kulturtheoretischer Perspektive gerät Schule damit als ein paradoxal strukturierter Raum in den Blick:
«Einerseits repräsentiert Schule dadurch, dass sie auf die Tradierung symbolischer Weltordnungen, die sich vornehmlich in den ‹Logiken und Grammatiken der unterschiedlichen symbolischen Ordnungen in den diversen Schulfachern› (Reichenbach 2017, S. 21) manifestieren, ausgerichtet ist, ‹die Autorität der (Wissens-)Kultur› (ebd.); andererseits erfordert die Zukunfts- und damit Transformationsbezogenheit von Schule gerade nicht nur eine Einbindung der Schüler*innen in bestehende kulturelle Form-, Wissens- und Praxissysteme, sondern diese erfordert v. a. die Befähigung der Schüler*innen zu einer produktiven Veränderung resp. Weiterentwicklung und somit notwendigerweise zu einer zukunftsgerichteten Befragung ebendieser schulisch tradierten Systeme (vgl. Brinkmann 2017, S. 99 ff.).» (Jörissen und Klepacki 2021, 129f.)
In diesem Sinne kann Schule als Ort und Raum der strukturellen Organisation und performativen Artikulation spezifischer kultureller Wissens- und Praxisformen aufgefasst werden, was – wie bereits angedeutet – durchaus Konsequenzen für ein Verständnis von Schule bzw. schulischer Praxis hat, denn Schule wird dadurch als Ort kenntlich, an dem die Schüler:innen strukturell und performativ mit ihnen tendenziell fremden und neuen kulturellen Wissensformen konfrontiert werden und an dem von ihnen erwartet wird, sich anhand bestimmter (zu erlernender) kultureller Praktiken im Rahmen bestimmter (zu erlernender) kultureller Praxisordnungen mit den für sie fremden Inhalten und deren Ordnungen gemäss den Zielen von Schule produktiv-lernend auseinanderzusetzen.
Ästhetische Praktiken und ihre transformativ-transgressiven Potenziale im Hinblick auf kulturelle und gesellschaftliche Ordnungen
Innerhalb der eben ausführlich erläuterten Perspektive auf Schule als Ort und Raum kultureller Praxis kommt nun dem Ästhetischen bzw. ästhetischen Praktiken – die hier im Anschluss an Reckwitz (2008) als eine Sonderform sozialer Praktiken zu verstehen sind – unseres Erachtens insofern eine hervorgehobene Bedeutung zu, als sie sich durch einen «reflexiven Umgang mit Zeichensystemen», einen «offen gestaltenden statt allein regelorientierten Umgang mit Objekten und Subjekten» (ebd., 264) sowie durch das spezifische Strukturmerkmal ihrer «Selbstreferenzialität» auszeichnen: «Es handelt sich [im Kern] um Praktiken, deren basales Ziel das sinnliche Wahrnehmen selbst ist, [um Erlebens-]Praktiken, die um das Wahrnehmen in seiner Eigendynamik und seinem Eigenwert zentriert sind» (Reckwitz 2016, 225) und dabei nicht nur die Sinne, sondern auch die Affekte ansprechen (ebd., 228).
Dabei lässt sich das Ästhetische aus praxeologischer Perspektive weder auf das «Kunstästhetische/-schöne» allein noch «auf ein Überbau- oder Oberklassenphänomen […] [oder] auf ein umgrenztes [gesellschaftliches] Subsystem […] beschränken» (ebd., 262). Es bezieht sich auch nicht ausschliesslich auf die sinnliche Interaktion eines (wahrnehmenden oder gestaltenden) Subjekts mit «ästhetisch ausgezeichneten» Gegenständen (Jörissen und Meyer 2015). Vielmehr «[kann] ästhetisches Wahrnehmen» Reckwitz zufolge «als kurzer unberechenbarer Moment in jeder Praxis [– das ist für die weitere Argumentation essentiell –] zu allen Zeiten und in allen Räumen auftauchen» (Reckwitz 2016, 226). Demnach können «ästhetische Praktiken» also «eine grosse Bandbreite von Praktiken umfassen» (ebd.), die deutlich über das Kunstästhetische/-schöne hinausgehen.
Und doch gehören auch die Aspekte des Spielerischen, des Experimentellen, der Unbestimmtheit und der tendenziellen Unabgeschlossenheit, die in traditionellen Argumentationen insbesondere der Kunst als eigene «Kraft» zugeschrieben werden (z. B. Menke 2013), zu den spezifischen Prozessqualitäten ästhetischer Praxisvollzüge, die sie formal von anderen, nicht-ästhetischen Prozessformen unterscheiden (Reckwitz 2016, 226). Hinzu kommt, dass «ästhetische Haltungen» bzw. «ästhetische Orientierungen» Reckwitz (2008) zufolge zwar zunächst einmal immer auch selbst «an bestimmte historisch-spezifische soziale Praktiken (einschliesslich diskursiver Praktiken), ihre spezifischen Arrangements von Körpern, Wissensordnungen und Artefakten sowie ihre jeweiligen Subjektivierungsformen gekoppelt sind» (Reckwitz 2008, 266); insofern sie jedoch konventionalisierte kulturelle Formen in der Regel nicht einfach nur affirmativ reproduzieren, sondern diese tendenziell immer auch variieren und so eine «Möglichkeit kritischer, [auch gesellschafts- und kulturkritischer Anm. d. A.] Praxis» (Jörissen 2018, 54; Reckwitz 2016, 216, 240–247) darstellen, können sie – so die These – potenziell transformativ und transgressiv wirksam werden (Jörissen und Klepacki 2021).
Und genau hierin liegen die spezifischen Entgrenzungspotenziale ästhetischer Praktiken für Schule und Unterricht. Denn versteht man sie in einer dezidiert kulturtheoretischen Perspektivierung als Praktiken, «in denen Sinne, Affekte und Interpretationen selbstreferenziell werden» (Reckwitz 2016, 215), und damit als Praktiken, in denen sowohl das «Was» als auch das «Wie» der Wahrnehmung – im Sinne von Vollzugsweisen sinnlicher Praxis und kulturell organisierter Wahrnehmungsschemata (Reckwitz 2015, 23) – bedeutsam werden, so ist davon auszugehen, dass Subjektivitäten (Subjektformen, -positionen, -kulturen und -ordnungen), Grenzen von Körpern und Dingen, Raum-, Sozial- und Wissensordnungen im ästhetischen Prozess nicht «nur symbolisch» aufgehoben, sondern tatsächlich in ihrer historisch-kulturellen Geworden- und Hergestelltheit sinnlich wahrgenommen werden können. Der Anschein der Faktizität und Permanenz solcher auf Kollektivierungs- und Institutionalisierungsprozessen basierender kultureller, gesellschaftlicher – und damit bspw. auch schulischer – Ordnungen und Grammatiken würde damit be- und hinterfragbar werden und daher tendenziell immer auch die Möglichkeit ihrer Dynamisierung eröffnen (Rebentisch 2019, 373).
Entgrenzung von Schule und Unterricht durch (ästhetische) Praktiken des «Third Spacings»
Doch inwiefern können ästhetische Praktiken nun konkret potenziell zu einer Entgrenzung von Schule und Unterricht führen? Um dieser Frage vertieft nachgehen zu können, soll an dieser Stelle zunächst das von Homi K. Bhabha im Rahmen seiner postkolonialen Theoriebildung eingeführte Konzept des «Third Space» (Bhabha 2000) in den Blick genommen werden, dessen Potenziale Bhabha ja durchweg anhand von ästhetischen Prozessen expliziert hat. Dieses Konzept erscheint für die weiteren Ausführungen insofern hilfreich, da es als theoretische Konzeption die klare Trennung «objektiv-referenzieller» und metaphorischer Konzeptionen einreisst (ebd.). Der Begriff des «Third Space» ist dabei zunächst einmal deutlich von dem auf Ray Oldenburg zurückgehenden Begriff der «Third Places» (Oldenburg 1989/2007) zu differenzieren. Anders als das sozialraumtheoretische Konzept Oldenburgs, das sich ursprünglich insbesondere auf konkrete Orte des sozialen Miteinanders ausserhalb von Wohnung (Familie) und Arbeitsstätte/Schule (Kolleg:innen, Kollegiatenkreis), also bspw. auf Bars, Kneipen und Cafés, soziokulturelle Zentren, Schönheitssalons, Gemeindezentren und andere Versammlungsorte im öffentlichen Raum (Parkbänke, Plätze etc.) bezieht, verweist Bhabhas Konzept des «Third Space» zunächst gerade nicht allein auf konkrete topografisch situierte Orte und «Lokalitäten» (N. Engel 2019, 734). Es handelt sich vielmehr um ein ephemeres, empirisch wie theoretisch schwer zu fassendes Konzept sozial-relationalen Miteinanders, das beschreibt, was geschieht, wenn sich (vermeintlich) unterschiedliche Kulturen und/oder soziale Milieus in ihrer Differenz begegnen und überlappen und so «Kultur» und Identitäten bzw. Subjektivationen überhaupt erst hervorbringen (Struve 2013, 121ff.). Der dritte Raum bezeichnet damit also vor allem
«ein[en] Schwellenraum zwischen festen Identitätskonstruktionen, eine Bewegung des Hin und Her, ein[en] Übergang zwischen Polaritäten, der überdies auch noch das Denken von Ursprünglichkeit, Vorgängigkeit und Hierarchisierungen hinter sich lässt.» (ebd., 123)
Im Folgenden soll nun der Versuch unternommen werden, Bhabhas oftmals als zu komplex bzw. abstrakt kritisiertes, explizit kultursemiotisches Konzept des «Third Space» – wie vielfach im wissenschaftlichen Diskurs gefordert (Bachmann-Medick 1998; Struve 2013) – in einer dezidiert praxeologischen und erziehungswissenschaftlichen Perspektive fortzuschreiben und ästhetische Praktiken als «Praktiken des Third Spacings» zu konzipieren. (Anm./Fußnote i.O.: Im erziehungswissenschaftlichen Kontext wurde in den letzten Jahrzehnten bereits verschiedentlich versucht, den Begriff des «Third Space» in Anlehnung an Homi K. Bhabhas postkolonial-kultursemiotische Überlegungen bspw. für die Bereiche der Organisationspädagogik bzw. des organisationalen Lernens (bspw. N. Engel 2012; N. Engel et al. 2013), des bilingualen Unterrichts (bspw. Hallet 2004; Schneider 2018), der politischen Bildungsarbeit an Schulen (Bechtum und Overwien 2017) sowie der Hochschuldidaktik und der akademischen Aus- und Weiterbildung von Lehrkräften (bspw. Grüning und Hascher 2019; Pilypaitytė und Siller 2018; Fraefel 2018; Fraefel und Bernhardsson-Laros 2016) fruchtbar zu machen. Weitere Ansätze finden sich in Bezug auf die Konzeption einer transkulturellen, glokalisierten bzw. post-migrantischen und kritisch-kulturwissenschaftlichen Pädagogik (Göhlich 2009; J. Engel et al. 2021; N. Engel 2019; N. Engel und Köngeter 2020) sowie im Hinblick auf postkoloniale Identitätstheorie/-bildung (bspw. Göhlich 2010; Wulf 2014).
Zu diesem Zweck soll Bhabhas Raumbegriff eine weitere Raumtheorie – nämlich die von Martina Löw – an die Seite gestellt werden, mit deren Hilfe zunächst einmal die Begriffe «Ort» und «Raum» klar unterscheidbar werden. Raum(-bildung) wird dabei in einer für praxeologische Betrachtungen anschlussfähigen Art und Weise insbesondere als Prozess und Produkt sozialer Praktiken in den Blick genommen (Engel und Jörissen 2022, 621f.).
Während Löw zufolge der Begriff «Ort» insbesondere auf «einen Platz, eine Stelle, konkret benennbar, meist geographisch markiert» (Löw 2001, 199) verweist, bilden «Räume» sich ihres Erachtens durch Prozesse des Spacings, sprich durch
«(strukturierte) (An)Ordnungen von sozialen Gütern und Menschen an Orten. Räume werden demnach im Handeln geschaffen, indem Objekte und Menschen synthetisiert und relational angeordnet werden. Dabei findet der Handlungsvollzug in vorarrangierten Räumen statt und geschieht im alltäglichen Handeln im Rückgriff auf institutionalisierte (An)Ordnungen und räumliche Strukturen.» (ebd., 204)
Im Kontext einer solch relationalen Perspektivierung müssen «räumliche Strukturen […] [also sowohl] zu den Bedingungen [als auch] zu den Produkten sozialer Praxis» (Breidenstein und Dorow 2015, 161) gezählt werden (Engel und Jörissen 2022, 621f.).
Führt man sich an dieser Stelle nun noch einmal vor Augen, dass Homi K. Bhabha das Konzept des «Third Space» vor dem Hintergrund eines Kulturverständnisses entwickelt hat, «das gerade die ‹Gemachtheit›, den Konstruktcharakter von Kulturen, fokussiert» (Struve 2013, 43), wodurch Kulturen insbesondere «als bedeutungsgenierende Prozesse und Subjekte stiftende Praktiken» (ebd.) in den Blick geraten, und bezieht man dies wiederum auf Löws praxeologische Raumtheorie, so wird deutlich, dass «Third Spaces» dort, wo unterschiedliche Kulturen aufeinander treffen, nicht «einfach so» emergieren, sondern durch soziale Praktiken und performative Vollzüge zuallererst hervorgebracht und damit schwerlich unabhängig von praxeologischen Überlegungen gedacht werden können.
Vor dem Hintergrund der oben bereits ausführlich dargelegten spezifischen Beschaffenheit von als ästhetisch ausgewiesenen sozialen Praktiken könnte an diesem Punkt nun folgende zweite These formuliert werden: Aufgrund der potenziell transgressiv-explorativen Grundstruktur ästhetischer Artikulationsweisen (Jörissen 2015) können ästhetische Praxisvollzüge als Prozesse des «Third Spacings» beschrieben werden, die dazu beitragen, «dritte Räume» im Sinne ephemerer, liminaler Schwellenräume des Dazwischen zu eröffnen, in denen einerseits «eindeutige Symbole zu polysemischen Zeichen umkodiert» (Struve 2013, 124) sowie «neu belegt, übersetzt, rehistorisiert und gelesen werden können» (Bhabha zit. n. Struve 2013, 124), und in denen daher andererseits «jegliches Denken von Stabilität und eindeutiger Abgrenzbarkeit» (Struve 2013, 124) aufgehoben wird. Durch die Ermöglichung von Unbestimmtheit (Marotzki 1988) sowie bestimmter Freiheitsgrade (Rebentisch 2019) können bisher als selbstverständlich erachtete «Identitätskonstruktionen» bzw. Subjektpositionen ebenso in Bewegung geraten wie soziale, kulturelle und institutionelle Ordnungen und Wahrnehmungsgewohnheiten. (Anm: Vgl. hierzu in Bezug auf vor- und ausserschulische Bildungsräume bspw. Brandstätter 2020 und Althans 2023.)
Doch was heisst das nun konkret für die Frage nach der Entgrenzung von Schule und Unterricht? Bringt man an dieser Stelle die bisher dargelegten kultur- und raumtheoretischen Konzepte mit dem weiter oben bereits ausführlich explizierten praxeologisch-kulturtheoretisch informierten Verständnis von Schule zusammen, so gerät Schule nicht nur als gesellschaftlich institutionalisierter Ort kultureller Tradierung und Transformation in den Blick, sondern wird gleichzeitig auch als spezifisch organisierter Kulturraum kenntlich, dessen praktische Verwirklichung immer auch an den Vollzug spezifisch formierter sozialer Praktiken des Spacings gebunden ist. Dadurch wäre Schule «sowohl als ein durch soziale Praktiken generiertes Phänomen als auch als generativer Rahmen für den Vollzug spezifisch organisierter Praxisformen zu verstehen» (L. Klepacki und Sausele-Bayer 2023).
Ein Beispiel soll das eben vorgestellte verdeutlichen: Versteht man etwa Schulräume als Materialisierungen u. a. von spezifischen pädagogischen, didaktisch-methodischen und schulorganisatorischen Logiken bzw. bestimmten (impliziten) Ideen davon, wie Menschen als Schüler:innen und Lehrpersonen zu Subjekten werden – versteht man sie mithin als Formierungsagenten spezifischer Normierungen kultureller Praxis, die jedoch selbst erst in und durch Praxis als diese Räume konstituiert werden – dann wird deutlich, dass schulische Raumprogrammatiken nicht nur praxisorganisierend wirksam sind, sondern dass damit einhergehend auch leiblich-sinnliche Erlebnisqualitäten und affektiv wirksame Atmosphären (z. B. Hasse 2022) Teil der Grammatik von Schule sind, die sich in die Schüler:innen und Lehrpersonen unbewusst einschreiben und dementsprechend im Vollzug schulischer Praxis virulent sind.
In diesem Sinne steht zunächst zu vermuten, dass sich aufgrund der machtstrukturierten Wirksamkeit schulischer (sozialer, inhaltlicher, organisationaler, rechtlicher usw.) Ordnungen bestimmte Praktiken als schulisch angemessene bzw. sachdienliche Praktiken in die Körper der Schüler:innen habituell einschreiben bzw. einschleichen, die als solche eine tendenzielle Transgressionsresistenz ausbilden und darüber die kontinuierliche und immer wieder ähnliche Hervorbringung geordneter schulischer Wirklichkeit ermöglichen.
Und genau an dieser Stelle sehen wir die besonderen Potenziale von ästhetisch konnotierten sozialen Praktiken: Sie sind in der Lage, schulische bzw. schulkulturell organisierte sinnliche Ordnungen auf praktisch-körperlich-performativer Ebene erfahr- und behandelbar werden zu lassen. Sinnesregime (Reckwitz 2015, 22), also konkret schulische Aufmerksamkeitsstrukturierungen, Blickformierungen, (Zu-)Hördisziplinierungen usw., können durch den Vollzug ästhetischer Praktiken als etwas bewusst werden, das sich im Erlernen schulischer Praxisvollzüge in die Praxis von schulischen Akteur:innen als sinnenbezogener Formierungsmechanismus einschreibt. Schulische Sinnesregime als Moment bzw. Dimension der Grammatik von Schule (Tyack und Tobin 1994) können folglich durch den Vollzug ästhetischer Praktiken insofern gegenwärtig werden, als davon auszugehen ist, dass sich in ästhetischen Situationen «ein Bewusstsein eines Hier und Jetzt, dass [sic!] zugleich ein Bewusstsein meines hier und jetzt umfasst» (Seel 2003, 62), konstituieren kann.
Durch den Vollzug ästhetischer Praktiken können schulische Akteur:innen so beispielsweise die Verwobenheit der praktischen Hervorbringung ihrer eigenen schulischen Subjektformen und Subjektpositionen mit den (Macht-)Wirkungen materiell-dinglicher Ordnungen (Zirfas 2014) auf einer leiblich-sinnlichen Ebene verarbeiten und artikulieren. In diesem Sinn können ästhetische Praktiken einerseits die Möglichkeit eröffnen, dass sich schulische Akteur:innen im Rahmen von Schule zu Schule und ihren kulturellen Mustern und Logiken (L. Klepacki und Sausele-Bayer 2023) positionieren und dadurch Schule als ein «grenzoffene[s] Gefüge» erfahren können, das «einerseits materiale, soziale und normative Ordnungen restituier[t], andererseits aber auch Grenzüberschreitungen […] [zulässt], sodass die Ordnungen unterlaufen, überschritten oder transzendiert werden können» (Brinkmann 2019, 161).
Bezogen auf das eingangs skizzierte empirische Beispiel kann nun gerade hierin auch eine Antwort auf die Frage liegen, warum das Schultheater von den beteiligten Schüler:innen und Lehrkräften zugleich als Nicht-Schule und Nicht-Nicht-Schule wahrgenommen und beschrieben wird. Dadurch, dass ästhetische Praktiken grundsätzlich dazu geeignet sind, Third Spaces zu konstituieren, eröffnet sich hier die Möglichkeit, Schule und Unterricht anders als gewohnt zu erfahren. Schulisch-unterrichtliche Raum- und Zeitordnungen können dabei ebenso destabilisiert werden (L. Klepacki 2007), wie etablierte Ordnungen und gewohnte Subjektpositionen infrage gestellt werden können. Somit ist der Bezug zu Richard Schechner (1990) insofern auch nicht nur als metaphorische Referenz zu sehen, als in Third Spaces ephemere Interferenzen erzeugt werden, die daraus resultieren, dass Third Spaces in ihrer ästhetischen Eigenwirklichkeit nicht völlig jenseits von, sondern gerade in relationaler Verbindung mit existierenden und wirkenden sozial-kulturellen, organisationalen oder institutionellen Rahmen und Ordnungen konstituiert werden. Das sich darin begründende Spannungs- und Konfliktpotenzial kann dabei als Struktur des Relevant- bzw. Thematischwerdens des schüler:innenseitigen (und auch lehrer:innenseitigen) Ausgesetztseins an Reaktualisierungsanforderungen hegemonialer kultureller Deutungs-, Ordnungs- und Praxismuster gelesen werden. Die daraus resultierende Möglichkeit einer performativ-diskursiven Positionierung zu diesen Mechanismen kann ein potenziell transgressives Potenzial beinhalten, weil Aushandlungs- und Positionierungsnotwendigkeiten evoziert werden, die als «Ermächtigung des gesellschaftlichen Nachwuchses zu kritischer bzw. intervenierender kultureller Teilhabe und Produktion» (L. Klepacki und Jörissen 2021, 127) aufgefasst werden können.
Dabei sind ästhetische Praktiken im Rahmen von Schule jedoch – wie sich ebenfalls anhand unseres empirischen Beispiels gut zeigen lässt – gerade nicht unabhängig von schulischen Raumstrukturen bzw. Raumordnungen, Zeitordnungen, Homogenisierungsordnungen, thematischen Ordnungen, Professionalitätsordnungen, staatlich-rechtlichen Ordnungen, gesellschaftlichen Aufgaben und Funktionen usw. zu denken bzw. zu praktizieren (L. Klepacki 2007, 60-68). In diesem Sinne markiert die praktisch-ästhetische Erzeugung von Abständigkeit zu Schule gerade keine komplette oder absolute Loslösung von dieser und ihrer machtförmigen Strukturiertheit, sondern vielmehr ein Thematischwerden des Vollzugs von wirklichkeitskonstituierender Praxis als praktische Re-Aktualisierung (schul-)kultureller (Sinn-)Ordnungsgefüge, wodurch ebendiese Ordnungen aber eben nicht einfach suspendiert, sondern als Bedingungen der Möglichkeit, sich zu ihnen zu positionieren, leiblich erfahrbar und (an-)erkennbar werden.
Dadurch, dass in ästhetischen Praktiken äussere, «instrumentelle Zweck[e]» (Reckwitz 2015, 29) tendenziell suspendiert sind, beinhalten sie das Potenzial zu «experimentelle[n] und grenzüberschreitende[n]» Praxisvollzügen, die wiederum die Basis «für eine kritisch-selbstreflexive Öffnung für andere Weisen der Weltwahrnehmung» (ebd.) bereiten können. Ästhetischer Praxis ist dementsprechend in allgemeiner Hinsicht (immer auch) ein «politischer Charakter» (ebd.) zu eigen, da durch sie – so die Schlussfolgerung – zugleich die Wirkungsweisen kultureller Ordnungen sowie die Modalitäten ihrer jeweiligen (Re-)Aktualisierung in Praxisvollzügen und die Möglichkeit der Modulierung ebendieser Ordnungen und Vollzüge erfahr- und reflektierbar werden.
Ob bzw. inwiefern es die Grammatik von Schule allerdings zulässt bzw. es im Hinblick auf die Grammatik von Schule denkbar ist, derartigen, transgressiv wirkenden ästhetisch-politischen Prozessen explizit Raum zu geben, damit diese sodann Teil von schulkulturellen Entwicklungsprozessen werden, ist an dieser Stelle nun insofern als Frage aufzuwerfen, als widerständige Praxis angesichts der Disziplinierungs- und Normalisierungsmacht von Schule als «stummer Protest» oder in Form von «mitlaufende[n] Kommentare[n] und Beiträge[n] zu den hegemonialen Kämpfen um die symbolische Ordnung von Schule» (Grabau und Rieger-Ladich 2015, 106) zwar grundlegender Bestandteil schulisch-kultureller Wirklichkeit ist, organisational gesehen sich diese Distanznahmen aber eher implizit «innerhalb der schulischen und unterrichtlichen Ordnungen» (Brinkmann 2019, 181) vollziehen und in diesem Sinn nicht als offiziell legitimierte oder bewusste Möglichkeit (an-)erkannt werden, Schule auch als «heterotopen Bewegungs-, Orientierungs- und Antwortraum» (ebd.) für Lern- und Bildungsprozesse explizit wirksam werden und Schule so zu einem kritisch-kulturreflexiven Ort werden zu lassen. Voraussetzung hierfür wäre jedoch, ästhetische Artikulationsräume als konstitutives Moment schulischer Aufgaben und Funktionen zuzulassen und nicht von vornherein durch institutionelle Kontrollstrategien wieder zu schliessen.
Fazit
Ziel der vorliegenden Ausführungen war es, vor dem Hintergrund eines kulturtheoretisch-praxeologischen Verständnisses von Schule sowie ausgehend von empirischen Indizien der Frage nachzugehen, inwiefern ästhetische Praktiken einen Beitrag zur Entgrenzung v. a. auch des Erlebens von Schule und Unterricht leisten können. Der Begriff der Entgrenzung wurde dabei dezidiert nicht auf Prozesse der Ausweitung von Funktionen und Aufgaben von Schule oder auf die Verlängerung von Schulbesuchszeiten bzw. eine Ausdehnung von Schulzeit in ehemals nicht-schulische Lebensbereiche hinein (Stichwort: Scholarisierung von Kindheit und Jugend) bezogen. Es ging dementsprechend nicht um eine zeitliche, räumliche oder auch organisationale Entgrenzung bzw. Öffnung von Schule (Idel 2013). Die hier entwickelte Perspektive legt ihren Fokus vielmehr auf die Frage nach der Möglichkeit der Veränderung schulischer Praxis durch Prozesse der Reflexivierung und praktischen Verhandlung schulisch-kultureller Ordnungen und Regime im Sinne einer immanenten «Veranderung» (Leitner und Thümmler 2022) von Schule durch ästhetische Praxis.
Obgleich die in diesem Beitrag verhandelten Thesen und theoretischen Überlegungen aus ersten empirischen Anhaltspunkten heraus entwickelt wurden, wäre eine theoretische Sättigung an diesem Punkt über eine entsprechend gerichtete Re-Lektüre des vorhandenen Forschungsdiskurses sowie über weiterführende empirische, qualitativ-rekonstruktive Analysen zu erreichen. Aufgrund der hier angeführten praxeologischen Perspektivierung von ästhetischen Praktiken als transformative «Praktiken des Third Spacings» wird es nun aber eben auch möglich sein, entsprechende Phänomene nicht nur theoretisch, sondern auch (post-)qualitativ-empirisch in den Blick zu nehmen. Im Kontext eines wie zuvor beschriebenen Konzepts von kultureller Schulentwicklung, das Schule als genuinen Kulturort in den Blick nimmt, wird es insbesondere darauf ankommen, ästhetische Praktiken, gerade nicht – wie beim hier angeführten Beispiel – allein im Kontext ästhetisch konnotierter Fächer, wie Kunst, Musik oder Theater in den Blick zu nehmen, sondern dezidiert der Frage nachzugehen, wo und wie als ästhetisch zu begreifende soziale Praktiken sonst noch am Kulturort Schule zum Tragen kommen (vgl. hierzu bspw. Tervooren 2001; Wulf 2004; Böhme 2009; Herrmann und Flasche 2015; Prest et al. 2022) und damit potenziell als Praktiken des Third Spacings im ausgeführten Sinne wirksam werden können. Der Fokus eines solchen Forschungsprogramms läge somit nicht hauptsächlich auf der Beschreibung von Momenten ästhetischer Unbestimmtheit, sondern richtet sich dezidiert auf die Möglichkeiten bewusster Gestaltung und Ermöglichung von Third Spaces in Schule.