Resonante Transformationen. Kulturelle Bildung im Alter

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von Miriam Haller

Erscheinungsjahr: 2024/2023

Peer Reviewed

Abstract

Kulturelle Bildungsangebote für ältere Menschen können Impulse zu transformatorischen Bildungsprozessen geben. Sie können aber auch Resonanzräume für Menschen bilden, die biografische Übergange im Alter erleben. Resonanzräume, in denen das leibliche Erleben des Alter(n)s, die Ambivalenzen des Alter(n)s und die Emotionen angesichts von Veränderungsanforderungen, die das Alter mit sich bringen kann, einen ästhetischen Ausdruck finden können. Ziel ist es, sowohl die aktuelle Debatte über Transformation und Kulturelle Bildung um kulturgeragogische Perspektiven zu erweitern als auch den Theoriehorizont der Kulturgeragogik und Geragogik für die Theorie transformatorischer Bildung zu öffnen.

Was haben das Alter und die Künste gemein? Bei dieser Frage lässt sich an Vieles denken: an ältere Kunstschaffende und ihre Alterswerke (Hiesl & Kaiser 2022), an Ästhetisierungen des Alters in Kunst und Kultur (Kampmann 2020; Kriebernegg 2021), an das alternde Publikum von Kunst- und Kultureinrichtungen und die kulturelle Teilhabe von älteren Menschen (Keuchel & Wiesand 2008), an kulturelle Bildungsangebote für ältere Menschen und die vielfältige kreative Praxis älterer Menschen in Seniorentheatergruppen, Chören, Musik- und Tanzensembles, Mal-, Schreib- und Lesezirkeln (de Groote & Nebauer 2008) und so fort. Die Frage regt aber auch an, darüber nachzudenken, dass Erfahrungen des Alter(n)s ebenso wie ästhetische Erfahrungen in Kunst und Kultur tiefgreifende Bildungsprozesse auslösen können, in denen sich unsere Beziehungen zu uns Selbst, zu Anderen und zur Welt grundlegend transformieren.

Kulturelle Bildungsangebote für ältere Menschen können Impulse zu transformatorischen Bildungsprozessen geben. Sie können aber auch Resonanzräume (Haller 2022 im Anschluss an Rosa 2020a) für Menschen bilden, die solche transformatorischen Bildungsprozesse durchlaufen – Resonanzräume, in denen das leibliche Erleben des Alter(n)s (Brinkmann  2006), die Ambivalenzen des Alter(n)s (Lüscher & Haller 2015) und die Emotionen angesichts der Veränderungsanforderungen, die das Alter mit sich bringen kann, einen ästhetischen Ausdruck finden können. In solchen Resonanzräumen Kultureller Bildung für ältere Menschen können künstlerisch-kulturelle Praktiken geübt werden, die den Teilnehmenden sozialen Austausch und Erfahrungen von kreativer Selbstwirksamkeit ebenso ermöglichen wie die achtsame Erfahrung von Momenten der Un/Verfügbarkeit, wie sie der Soziologe Hartmut Rosa (2020a, 2020b) in seinen resonanztheoretischen Arbeiten beschreibt. Dieser These gehe ich in den folgenden Überlegungen zur Theorie transformatorischer Bildungsprozesse im Alter im Kontext der Kulturgeragogik nach. Ziel ist es, sowohl die aktuelle Debatte über Transformation und Kulturelle Bildung (siehe: Michael Dartsch „Kulturelle Bildung und Transformation. Diagnosen, Probleme und Perspektiven im Rückblick auf die kubi-online Jahrestagung 2022“) um kulturgeragogische Perspektiven zu erweitern als auch den Theoriehorizont der Kulturgeragogik und Geragogik für die Theorie transformatorischer Bildung zu öffnen (Kern 2018; Haller 2020; Wigger & Berner 2023, i.E.). Damit erinnert der Beitrag an vergessene Zusammenhänge. Schließlich hat schon der Philosoph und Erziehungswissenschaftler Otto Friedrich Bollnow (1962, 1965, 1983) als Begründer des wissenschaftlichen (kultur)geragogischen Diskurses in Deutschland in seiner Bildungstheorie des Alters das transformierende Potential von Alterskrisen ebenso betont wie das der Künste.

Die „transformative Wende“ in der Erziehungswissenschaft

Der Begriff der Transformation wird angesichts der aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen gegenwärtig geradezu inflationär gebraucht. Neben dem Klimawandel und der Debatte über Nachhaltigkeit zählt der demografische Wandel schon lange zu den zentralen gesellschaftlichen Transformationsaufgaben unserer Zeit. Die politische Erkenntnis der Notwendigkeit von Veränderung zieht schnell den Ruf nach Bildung nach sich. Kein Wunder, dass im erziehungswissenschaftlichen Diskurs bereits von einer „transformativen Wende“ (Yacek 2022) die Rede ist, stehen doch Konzeptionen transformativen Lernens auch im Zentrum aktueller Konzeptionen von Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE). Dass die Pädagogisierung von gesellschaftlichen Problemen und Veränderungsanforderungen, wie sie der demografische Wandel oder der Klimawandel mit sich bringen, auch durchaus kritisch zu betrachten sind, gibt die Bildungswissenschaftlerin Ines Maria Breinbauer mit Blick auf die Geragogik zu bedenken (Breinbauer 2008). Etwaige Erwartungshaltungen, in Kultureller Bildung eine Art Menschentransformator gefunden zu haben, müssen enttäuscht werden. Schon allein deshalb, weil man „einen Bildungsprozess von außen überhaupt nicht intentional steuern kann: Den Vermittler*innen bleibt also nur, ein Umfeld zu schaffen sowie Anlässe und Anregungen, um Bildung (für nachhaltige Entwicklung) zu ermöglichen“ (siehe: Vanessa Reinwand-Weiss „Kulturelle Bildung als Bildung für nachhaltige Entwicklung? Impulse für die Verbindung zweier normativer Ansätze und Praxen“). Es gilt also, kulturgeragogisch begründete problematisierende Theorien von Kultureller Bildung und transformatorischen Bildungsprozessen im Alter zu entwickeln, die nicht bloß affirmativ die gerade vorherrschenden „gesellschaftlichen Vorstellungen von wünschenswertem Altern“ (Breinbauer 2008:288) bedienen.

Transformatorische Bildungsprozesse im Alter

Der Rekurs auf die Theorie transformatorischer Bildung erweitert das im geragogischen Diskurs vorherrschende Verständnis von Lernen und Bildung im Alter (Kern 2018). Lernprozesse werden im geragogischen Diskurs weitgehend als „Prozesse der konkreten Aneignung und Erweiterung von Fähigkeiten, Fertigkeiten, Erfahrungen und Wissen“ verstanden, „die sich in Verhaltensänderungen oder Möglichkeiten veränderten Verhaltens niederschlagen“ (Bubolz-Lutz et al. 2022:31). Dabei gilt Lernen als „Grundlage von Bildung“, aber erst durch die „reflexiven und handlungsbezogenen Bildungsprozesse organisiert das Individuum seine Lernprozesse auf seine Bedürfnisse, Ziele und Werte hin“ (ebd.). Bildung wird somit als individuell steuerbar im Sinne eines „bewussten, aktiven, reflexiven und handlungsbezogenen Prozess der Auseinandersetzung des Individuums mit sich selbst, wie auch mit seiner materiellen, sozialen und kulturellen Umwelt“ verstanden, „in dem sich das Selbst- und Weltverständnis des Individuums ebenso herausbildet wie seine Sozial- und Handlungskompetenz“ (ebd.:31f.).

Grundlegend für die Theorie transformatorischer Bildungsprozesse (Koller 2012) ist hingegen die Annahme, dass Bildungsprozesse im buchstäblichen Sinn des Wortes dann ‚not-wendig‘ werden, wenn Menschen mit Problemen konfrontiert werden, für deren Bearbeitung sich die eingespielten und vertrauten Figuren ihres Selbst- und Weltbezugs als unzulänglich erweisen.

In diesem Verständnis von Bildung spielen Momente der Unverfügbarkeit (Rosa 2020b) und des nicht mehr Steuerbaren eine Rolle, in denen das Individuum eben gerade nicht mehr seine Lernprozesse autonom und strategisch auf etwas hin ‚organisieren‘ kann. Bildungsprozesse lassen sich vor diesem Theoriehintergrund als „Veränderung der grundlegenden Figuren des Welt- und Selbstverhältnisses von Menschen“ begreifen, „die sich potentiell immer dann vollziehen, wenn Menschen mit neuen Problemlagen konfrontiert werden, für deren Bewältigung die Figuren ihres bisherigen Welt- und Selbstverhältnisses nicht mehr ausreichen“ (Koller 2012:15f.). Sie erscheinen dann nicht mehr als steuer- und organisierbare Prozesse der Anhäufung von Wissen, Kenntnissen oder Kompetenzen, sondern als grundlegende Transformationen von Welt- und Selbstverhältnissen, die mit Erfahrungen von Außer-sich-Sein, Fremdbestimmtheit und Kontrollverlust einhergehen können. Während Lernen in diesem Kontext als „Prozess der Aufnahme, Aneignung und Verarbeitung neuer Informationen“ konzipiert wird, „bei dem jedoch der Rahmen, innerhalb dessen die Informationsverarbeitung erfolgt, selber unangetastet bleibt“, bezeichnet der Bildungsbegriff Lernprozesse „höherer Ordnung, bei denen nicht nur neue Informationen angeeignet werden, sondern auch der Modus der Informationsverarbeitung sich grundlegend ändert“ (ebd.).

Solche Veränderungen werden ausgelöst durch Erfahrungen des Scheiterns, der Irritation oder der Krise, in denen ein etabliertes Verhältnis zu sich selbst, der Welt und anderen Menschen an seine Grenzen kommt. Empirisch wurden transformatorische Bildungsprozesse bisher vor allem bei Menschen in der Adoleszenz, also in der Lebensphase zwischen Kindheit und Erwachsensein untersucht. Weniger beleuchtet wurden bisher transformatorische Bildungsprozesse in fortgeschrittenem Lebensalter. Das verwundert, weil gerontologisch evident ist, dass biografische Übergänge und kritische Lebensereignisse sich bei vielen Menschen im höheren Lebensalter akkumulieren (Filipp & Aymanns 2010; Karl 2013; Oswald & Franke 2014).

Wenn es zur Bildung als Transformation von grundlegenden Figuren des Selbstbildes, Weltbildes und des Bildes von anderen Menschen einer „subsumtionsresistenten Erfahrung“ (Koller 2012:16) bedarf – also einer Erfahrung, die nicht in den bisherigen Erfahrungsschatz eingeordnet werden kann –, so liegt auf der Hand, dass leibliche Alterserfahrungen, Erfahrungen von im höheren Alter vermehrt auftretenden Krankheiten und/oder Behinderungen, die Erfahrung der eigenen Endlichkeit, die Erfahrung von Krankheit, Pflegebedürftigkeit oder Tod naher Bezugspersonen, aber auch Migration oder Wohnortwechsel im höheren Lebensalter sich bisweilen nicht im Rahmen der bisherigen Figuren der Selbst- und Weltbilder eines Menschen bewältigen lassen. Auch der Auszug der Kinder, Belastungen am Arbeitsplatz, der Eintritt in den Ruhestand, Erfahrungen von Einsamkeit, Armut, Stigmatisierungs- und Diskriminierungserfahrungen im Alter, das Erleben einer Verschiebung eigener physischer, psychischer oder kognitiver Grenzen oder ein Umzug ins Senioren- oder Pflegeheim beinhalten viel Potenzial für Ambivalenzerfahrungen (Lüscher & Haller 2015), die zu transformatorischen Bildungsprozessen führen können. „Allen Versuchen zum Trotz sind uns das eigene Alter und der Alterungsprozess noch immer unverfügbar“, resümiert Hartmut Rosa in seiner Theorie der Unverfügbarkeit: Es sind „die Verfallsprozesse des Körpers und die Endlichkeit unseres Lebens, welche die härteste Grenze für das Reichweitenvergrößerungsprogramm der Moderne darstellen“ (Rosa 2020b:91).

Hinzu kommt, dass biografische Übergänge und kritische Lebensereignisse im Alter im Zuge der Entgrenzung des Lebenslaufs gesellschaftlich wenig gerahmt werden: In vielen zeitgenössischen Gesellschaften fehlen die „Rites de passage“ (van Gennep 1909/1999; Haller 2008), die Übergangsrituale in die Lebensphase Alter, die den individuellen Übergang sozial überformen und stützen könnten. Der Philosoph Byung-Chul Han beklagt den Verlust der orientierenden temporalen Ordnung in Ritualen: „Sie verwandeln das In-der-Welt-Sein in ein Zu-Hause-Sein“ (Han 2019:10). Rituale seien nicht nur zentral für das Zeiterleben der Einzelnen, sondern machen als Verkörperungsprozesse Ordnungen und Werte einer Gemeinschaft leiblich erfahrbar: Eingeschrieben in den Körper versinnbildlichten sie ein leibliches Wissen und geteiltes Gedächtnis einer Gemeinschaft. Da dieses allgemeine verkörperte Wissen über den Abschluss einer Lebensphase und den Übergang in die nächste heute verloren gegangen sei, sind unter den Paradigmen des Neoliberalismus nun alle auf sich gestellt und dazu aufgerufen, die eigenen Übergänge individuell, authentisch und kreativ zu gestalten (Han 2019, vgl. zur Kritik des Kreativitätsparadigmas auch Reckwitz 2014).

Alterskrisen als kreativer Bildungsimpuls

Andere sehen im Verschwinden der Rituale aber auch eine Befreiung von sozialen Regulierungen und sozialer Kontrolle, die überhaupt erst die Freiheit der Entscheidung über den eigenen Lebenslauf ermöglicht. Die Psychologin und Psychotherapeutin Verena Kast (2014) fokussiert in ihrer Theorie der kreativen Gestaltung biografischer Übergänge auf eben solche Transitionen, für die es keine sozial ritualisierten Prozesse gibt und bei denen die Übergänger*innen auch nicht auf ihre bisher erworbenen Kompetenzen zurückgreifen können. Wenn Probleme nicht auf die gewohnte Art zu lösen seien und die bisherigen Kompetenzen nicht ausreichen, dann müsse ein kreativer „schöpferischer Prozess“ in Gang gesetzt werden (Kast 2014:22).

In der allgemeinen Geragogik wird heute aus Kasts Ansatz die Konsequenz gezogen, die Begriffe der Alterskreativität und -produktivität viel weiter zu fassen, „als es in der aktuellen Fachdiskussion um die wirtschaftliche und gesellschaftliche Produktivität der Älteren geschieht“ und sich wieder stärker auf „existenzielle Formen“ kreativer Lebensbewältigung und Sinnstiftung zurückzubesinnen (Bubolz-Lutz et al. 2022:201). Dabei kann die geragogische und kulturgeragogische Theoriebildung auf den Philosophen und Erziehungswissenschaftler Otto Friedrich Bollnow zurückgreifen, der als Diskursstifter der Geragogik in Deutschland angesehen werden kann. Er entwickelte in den 1960er Jahren eine Bildungs- und Erziehungstheorie des Alters am Beispiel der Alterswerke und Biografien großer Kunstschaffender, aber auch am Beispiel literarischer Texte. Die Figur des Gotthelf Fibel aus Jean Pauls Roman „Leben Fibels“ (1812) liest er als Zeugnis dafür, wie erst im „Durchgang“ durch die „hässlichen Auswirkungen der Alterskrisen“ das Alter als Bildungsaufgabe bewältigt werden könne (Bollnow 1962:396). Unter Alterskrisen versteht Bollnow den oftmals schwierigen Umgang mit körperlichen Abbauprozessen, Krankheiten, das Nachlassen des Gedächtnisses, aber auch Prozesse der Erstarrung und Verfestigung von Gewohnheiten. Ganz analog zur heutigen Theorie transformatorischer Bildung erkennt er in solchen Krisen aber auch das Potenzial, Bildungsprozesse auszulösen: „Wenn wir diesen Vorgang, in dem dem Menschen das Leben also erstarrt und fest wird, als Altern und im extremen Fall als Vergreisung bezeichnen, dann ergibt sich hier die Aufgabe für den Menschen, sich diesem Prozeß (sic!) der Verfestigung entgegenzustemmen und die ursprüngliche Lebendigkeit des Lebens in ausdrücklicher Anstrengung wiederzugewinnen. Diese Aufgabe bezeichnen wir sinngemäß als Verjüngung“ (Bollnow, 1965:548). Dabei betont er, dass „Verjüngung“ als Bildungsprozess nicht mit einer Flucht vor dem Alter zu verwechseln sei, sondern vielmehr eine bewusste Bejahung des Alters impliziere.

Diese frühe kulturgeragogische Einsicht in die Bedeutung von Alterskrisen als Bildungsimpuls droht heute immer wieder durch die gerontologische Kritik an den sogenannten negativen Altersbildern verschattet zu werden. Bollnow lässt sich mit seiner Theorie von der Bildung und Erziehung älterer Menschen als Diskursstifter auch der Kulturgeragogik verstehen, weil seine Konzeption einer Gerontagogik (wie er die Geragogik nennt) stark auf ästhetische Bildung und Erziehung abhebt: Insbesondere Literatur und Dichtung zeichnen sich aus Bollnows Sicht durch ihre Fähigkeit zur „Verjüngung der Sprache“ aus und seien deshalb gleichzeitig ein „Mittel zur Verjüngung des Menschen“: Allgemein seien die Künste „imstande, den Menschen aus seinem erstarrten und gedankenlos gewordenen Leben herauszureißen, ihn die Wirklichkeit neu sehen zu lassen und zu neuer Auseinandersetzung zu zwingen“ (Bollnow 1965:555). Ebenso wie der Durchgang durch die Negativität der Alterskrisen, ermöglicht nach Bollnow die Begegnung mit Kunst einschneidende Bildungsprozesse, wie sie in Rainer Maria Rilkes Gedicht über den „Archaïschen Torso Apollos“ (1908/1955) zum Ausdruck kommen. Die existenzielle Begegnung mit einem Kunstwerk könne bisweilen die Einsicht geradezu erzwingen, die den fulminanten Schluss von Rilkes Gedicht bildet: „Du musst dein Leben ändern“ (Rilke 1955:557).

Ambivalenzen transformatorischer Bildungsprozesse im Alter

Mit den Theorien transformatorischer Bildungsprozesse kommen die Ambivalenzen des Alters und mit ihnen die sogenannten negativen Altersbilder, die zwar negativ erlebt werden können, aber gleichzeitig reflexiv verstanden werden und in kreatives Handeln umgesetzt werden können, wieder stärker in den Blick der Kulturgeragogik (siehe: Miriam Haller „Altersbilder und Bildung: Bildungstheoretische Überlegungen im Anschluss an Michel Foucaults Konzept des Alters als Heterotopie"). Das impliziert, die Ambivalenzen alternder Leiblichkeit in ihrer Relevanz für Lernen und Bildung zu berücksichtigen (Brinkmann 2006). Dabei ist auch kritisch zu fragen, ob solche leiblichen Erfahrungen von Negativität im Alter, die ein etabliertes Welt- und Selbstverhältnis infrage stellen, automatisch zu gelingenden Transformationen im Sinne einer geistigen „Verjüngung“ (Bollnow 1965) oder einer ambivalenzsensiblen „Offenheit für Offenheit“ (Lüscher & Haller 2015) führen, oder ob sie nicht vielmehr ebenso häufig die Verhärtung überkommener Orientierungsmuster zur Folge haben. Insofern bleibt für die Kulturgeragogik eine zentrale, auch empirisch zu beantwortende Frage, welche Bedingungen gelingende transformatorische Bildungsprozesse im Alter begünstigen.

Zu den allgemeinen Gelingensfaktoren für die Praxis Kultureller Bildung mit Älteren gibt die kulturgeragogische Forschung bereits etliche Anhaltspunkte: Zu ihnen zählen „ein differenziertes Bild vom Alter(n), eine besondere Haltung innerhalb der Projektkonzeption und -durchführung, die impliziert, altersbedingte Einschränkungen als besondere Potenziale zu begreifen und Ältere bei der Konzeption von Kulturangeboten als Mitgestaltende auf Augenhöhe zu sehen“ (Lauterbach-Dannenberg 2021:419). Zu ihnen zählt nicht nur die mikro-, sondern auch die makrodidaktische Berücksichtigung der Bedürfnisse der älteren Teilnehmenden (de Groote 2013). Die Resonanzpädagogik (Rosa & Endres 2016) mag für die Fragestellungen zukünftiger Studien über kulturgeragogische Gelingensbedingungen weitere theoretische Impulse geben.

Kulturelle Altersbildungsangebote als Resonanzräume  

Die These jedoch, dass kulturelle Altersbildungsangebote Resonanzräume für kritische Lebensereignisse und biografische Übergänge im Alter bilden können, wird durch empirische Studien eindrücklich belegt: Eine internationale Metaanalyse von englischsprachigen empirischen Studien über Wert und Wirkungen Kultureller Bildung und Teilhabe im Alter zeigt, dass Kulturelle Bildungsangebote für Ältere den Teilnehmenden helfen, mit kritischen Lebensereignissen und biografischen Übergängen, wie zum Beispiel die Trauer über den Verlust von nahestehenden Menschen, umzugehen (Dowlen & Grayder 2022). Studien zum Wert Kultureller Bildung und Teilhabe für das Wohlbefinden und Gefühle sozialer Verbundenheit im Alter bestätigen, dass die Teilnehmenden durch die in den Angeboten erfahrene Resonanz anerkennender sozialer Interaktionen Gefühle der Zugehörigkeit entwickeln, neue Freundschaften aufbauen oder bestehende festigen, was stark zur Entwicklung von Selbstvertrauen beiträgt (ebd.:11). Diese Faktoren waren oft verbunden mit verminderten Gefühlen der Einsamkeit oder sozialen Isolation (ebd.).

Kritische Rückfragen

Der Erziehungswissenschaftler Malte Brinkmann gibt zu bedenken, dass Theorien transformatorischer Bildung mit ihrer Betonung von Reflexivität und Diskontinuität Gefahr laufen, „emotionale, leibliche und aisthetische (auf die Sinne bezogene) Erfahrungen“ insofern „abzuwerten“, als in ihnen kontinuierliche und wiederholende Lernerfahrungen, wie sie zum Beispiel in der für alle künstlerischen Praktiken so zentralen Form der „Übung“ gemacht werden können, weitgehend ausgeklammert sind: Formen der Übung würden so schlimmstenfalls überhaupt nicht mehr unter die Kategorie Bildung fallen (Brinkmann 2022:15).

Ebenso kritisch ist zu bedenken, dass derart ambivalenzreiche transformatorische Bildungsprozesse eine Sensibilität des Reflektierens beanspruchen können, die nicht für alle älteren Menschen in gleichem Maße gegeben sein mag (Lüscher & Haller 2015, Wigger & Berner 2023, i.E.). Studien darüber, wie genau Kulturelle Bildungsangebote bei welchen älteren Menschen gelingende transformatorische Bildungsprozesse auslösen und welche Kriterien entscheidend sind, damit Bildungsangebote ebenso transformationsanregende wie -unterstützende Resonanzräume bilden können, sind Desiderate der kulturgeragogischen Forschung.

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Anmerkungen

Der Text wurde zuerst veröffentlicht in:
Hartogh, Theo/ Hans Hermann Wickel (Hrsg.) (2023): Musikalische Bildung im Alter. Theoretische Reflexionen und Praxisbeispiele (= Musikgeragogik, Bd. 9, S. 35-45). Münster: Waxmann.
Er basiert auf Vorträgen, die die Autorin im Rahmen des Fachtags Musikgeragogik sowie im Rahmen des Clusters Kulturelle Bildung und Lebensalter im Netzwerk Forschung Kulturelle Bildung gehalten hat. Ich danke den Tagungsteilnehmenden sowie den Mitgliedern des Clusters Kulturelle Bildung und Lebensalter für wertvolle Anregungen, die in diese Arbeit eingegangen sind.

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Miriam Haller (2024/2023): Resonante Transformationen. Kulturelle Bildung im Alter. In: KULTURELLE BILDUNG ONLINE: https://www.kubi-online.de/index.php/artikel/resonante-transformationen-kulturelle-bildung-alter (letzter Zugriff am 20.08.2024).

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