Das Problem mit der Komplexität der Diversität und ihrer Differenzkategorien – eine kursorische Spurensuche mit Fokus auf Gender
Komplexitäten I: allgemeine Diversitätsdiskurse
Seit einigen Jahren beherrscht das Thema Diversity/Vielfalt die Fachdiskurse der Kulturellen Bildung im Besonderen sowie der Kulturarbeit im Allgemeinen. Es gibt Tagungen wie „Kultureinrichtungen und Diversität: Vielfalt – das Erfolgsmodell?“, veranstaltet im Herbst 2015 von der Stiftung Universität Hildesheim und der Bundesakademie für Kulturelle Bildung (Bundesakademie für Kulturelle Bildung Wolfenbüttel 2015), Fachveröffentlichungen (z.B. Keuchel 2016a; 2016b, Keuchel/Kelb 2015), Weiterbildungen zur „Diversitätsbewußte(n) Kulturellen Bildung für Künstler/Innen und Kulturschaffende“ (Akademie der Kulturellen Bildung des Bundes und des Landes NRW 2016) sowie Schwerpunktsetzungen von einschlägigen Fachperiodika (bkje/LKD 2016, Kulturpolitische Gesellschaft 2013, kubi-online). Auch der „Qualitätsrahmen Kulturelle Bildung“ benennt das „Diversity-Prinzip“ als ein zentrales Kriterium kulturpädagogischer Arbeit. (BKJ 2012)
Alle hier nur exemplarisch aufgeführten AkteurInnen und Aktivitäten beschäftigen sich mit der gleichen, vordergründig einfachen, Frage: Wenn Vielfalt eine gesellschaftliche Tatsache sowie ein prägendes gesellschaftliches Strukturelement ist, wie müsste dann die strukturelle Verankerung eben dieser Vielfalt in der kulturarbeiterischen und kulturpädagogischen Konzeptentwicklung und Praxis aussehen? Die Zukunftsakademie NRW, die unter anderem das Thema „Diversität in der Kulturellen Praxis“ (Zukunftsakademie NRW 2016) voranbringen möchte, formuliert stellvertretend für viele AkteurInnen Arbeitsaufträge und handlungsleitende Fragen: „Gesellschaftliche Vielfalt, demografischer Wandel, Diversität und Migration sind nicht nur stete Herausforderungen für Kultur- und Bildungsinstitutionen, sondern bereichern ihre Denk- und Arbeitsweisen und eröffnen neue Perspektiven. Wie gehen Kultur- und Bildungsinstitutionen mit den verschiedenen Sichtweisen um, die Menschen in der Gesellschaft und in Bezug auf Kunst und Kultur einnehmen? Welche Erzählungen und Bilder werden im Kulturbetrieb vermittelt: Wer erzählt was, wem und warum? Welche Strategien entwickeln Kultureinrichtungen [...] um den verschiedenen Perspektiven, ästhetischen Vorstellungen und Narrativen in unserer pluralen Gesellschaft gerecht zu werden bzw. sie in die Arbeit miteinzubeziehen? Wie gelingt eine kritische und postmigrantische Kunst- und Kulturarbeit, die auf Teilhabe, Teilgabe und Selbstermächtigung zielt und Barrieren oder Stereotypisierungen vermeidet?“ (ebd.)
Deutlich wird hier, dass die gesellschaftliche und kulturelle Vielfalt einerseits und die Repräsentanz der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen in der Kulturpraxis andererseits zwei Seiten einer Medaille sind (Heinrich 2016). In den Kultur- und Sozialwissenschaften werden Vielfalt, Diversity, plurale Lebenswirklichkeiten entlang unterschiedlicher Kategorien gefasst, z.B. ethnische Herkunft, soziale Herkunft, Alter, Geschlecht/Gender, sexuelle Orientierung, Behinderung, Religion und Weltanschauung. Noch in den 1970er Jahren schienen diese Lebensrealitäten mit Geschlecht und Klasse als den zwei zentralen analytischen Kategorien überschaubar. Heute haben wir es hingegen mit der „Super-Diversity“ (Vertovec nach Kolland 2014:5) zu tun und stehen vor der Herausforderung, mit dieser „Komplexitätsmaximierung“ (Oloff 2008) wissenschaftlich wie praktisch umzugehen. Wie schaffen wir es nun, die komplette Komplexität unserer Gesellschaft, „die (kontinuierliche Zunahme an) unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppierungen mit eigenen kulturellen Codes, ästhetischen Ausdrucksformen und Lebensstilen, die nicht auf ein konkretes gesellschaftliches Zuordnungsmerkmal reduziert werden können“ (Keuchel 2016b:5), in unsere kulturelle und kulturpädagogische Arbeitspraxis zu übersetzen?
Hinzu kommt, dass es verschiedene Diversity-Ansätze gibt, die jeweils aus unterschiedlichen disziplinären – z.B. rechtlichen, betriebswirtschaftlichen, organisationssoziologischen oder gesellschaftspolitischen – Blickwinkeln auf das Thema schauen und folglich zum Teil mit unterschiedlichen Kategorien operieren. So basiert zum Beispiel der affirmativ-rechtliche Ansatz in Deutschland auf dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG 2006) und hat zum Ziel, „Benachteiligungen aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität zu verhindern oder zu beseitigen“. (Art. 1) Während das AGG intendiert, die mit Vielfalt verbundene Benachteiligung abzubauen, will der unternehmerisch-ökonomische Ansatz mit dem „Diversity-Management“ eben diese Vielfalt der MitarbeiterInnen für die eigenen Unternehmensziele nutzen. Dem gegenüber steht der pädagogisch-organisationale Ansatz, der von einer soziokulturellen Vielfalt sowie dem Leitbild der sozialen Gerechtigkeit ausgeht und unter dem Stichwort der „interkulturellen Öffnung“ eine grundlegende strukturelle wie konzeptionelle Restrukturierung von Institutionen und Organisationen fordert. Als vierter ist der machtkritisch-reflexive Ansatz zu nennen, der sich mit den Spannungsfeldern auseinandersetzt, die sich gleichermaßen zwischen Differenzbeachtung und -anerkennung sowie Differenzignoranz und -missachtung bewegen. (Schmitt et al. 2015) Dementsprechend wird im machtkritisch-reflexiven Ansatz die soziale Ungleichheit entlang zusätzlicher Kategorien in den Blick genommen, d.h. es geht um eine noch pluralere Differenz. Relevante Ungleichheitskategorien sind z.B. Klasse, Geschlecht, Sexualität, Staatsbürgerschaft, Ethnizität, Religion, Behinderung, Alter (Heite 2008:77,78), oder bei Emmerich weiter ausdifferenziert – soziale Herkunft, Klasse, Schicht, Milieu, Geschlecht, Ethnizität, Kultur, Migrationshintergrund, Lebenswelt, Lebensstil. (Emmerich/Hormel 2013:10)
Darüber hinaus wird in den fachlichen Auseinandersetzungen, so z.B. in den Sozial- und Erziehungswissenschaften nach wie vor die Bedeutung der unterschiedlichen Kategorien diskutiert. Ist „Gender“ die wichtigste Differenzkategorie bzw. Ungleichheitskategorie? Zwei Positionen stehen sich gegenüber: Catrin Heite und Andrea Vorrink sagen klar nein, Geschlecht sei keine Master-Kategorie, sondern ein strukturgebendes Element, eine Kategorie, die „unter, zwischen, neben, quer zu anderen“ liege (Heite/Vorrink 2013:238). Susanne Maurer und Michael May problematisieren hingegen die Tatsache, dass mit der Einführung des englischen Begriffs Gender, die Kategorie Geschlecht an zentraler Bedeutung und „(ver)störenden Qualität“ verloren habe und „häufig nur noch als eine Variable unter vielen (erscheine), die Wirklichkeiten mit-konstituiert“ (Maurer/May 2015:539) und zudem nicht weiter hinterfragt werde.
Bei diesem kurzen Überblick über die Diversitätsdiskurse werden zwei zentrale Aspekte deutlich. Erstens: Die jeweiligen Ansätze gehen von verschiedenen Ungleichheitskategorien aus; gleichwohl gibt es eine gewisse Schnittmenge – ethnische Herkunft/Ethnizität, Geschlecht, Behinderung, Religion. Die Differenzkategorien soziale Herkunft, Schicht, Klasse sind nur in jenen Ansätzen von Bedeutung, die sich mit dem Leitprinzip der sozialen Gerechtigkeit dezidiert gesellschafts- und auch sozialpolitisch verorten. Zweitens besonders in den Sozialwissenschaften und in der Genderforschung wird die Frage der Gleichwertigkeit der Ungleichheitskategorien gestellt; ähnliche Diskussionen gibt es übrigens auch im Hinblick auf die Kategorie „Hautfarbe“ in der Rassismusforschung.
In Anbetracht der unterschiedlichen Ansätze und Systematisierungen bleibt zu beleuchten, wo die Kulturarbeit und Kulturelle Bildung heute mit ihren konzeptionellen Überlegungen zum Umgang mit der „gesellschaftlichen Komplexitätstatsache“ steht – verbunden mit zwei Fragen. Was ist vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Vielfalt die programmatische und/oder konzeptionelle Grundlage des professionellen kulturpädagogischen Handelns? Welche Differenzkategorien werden in den Diskursen der Kulturellen Bildung wie verhandelt – auch im Hinblick auf die Kategorie „Gender“?
Kulturelle Bildung, Diversität und Teilhabe - Konzepte und Programmatiken
Betrachtet man die aktuellen Debatten um die Kernaufgabe der Kulturelle Bildung, so kommt man an den Begriffen „Teilhabe ermöglichen/gewährleisten“ und „Teilhabegerechtigkeit herstellen“ nicht vorbei – eben auch und gerade in einer vielfältigen Gesellschaft. Die eingangs zitierte Zukunftsakademie NRW betont, dass Kulturarbeit und Kulturelle Bildung auf „Teilhabe, Teilgabe und Selbstermächtigung zielt“ (Zukunftsakademie 2016). Kulturelle Bildung, als interdisziplinäres und -professionelles Handlungsfeld, ist heute gleichermaßen in den Bereichen Bildung/Jugend, Kulturarbeit und Sozialer Arbeit verwurzelt; die Disziplinen verbindet das Bekenntnis zur sozialen und gesellschaftlichen Dimension der Kulturellen Bildung (Heinrich 2016) und der Leitidee der Inklusion, Partizipation und Innovation (Kolland 2014:2). Es werden dezidiert gesellschafts- und sozialpolitisch relevante Mandate formuliert: Ziele sind, gesellschaftliche Ungleichheit und Benachteiligung auch mittels Kultureller Bildung zu beseitigen, im Zeitalter der Globalisierung Identität zu stiften (Deutscher Bundestag 2007:45; BKJ o.J.), Bildungsgerechtigkeit herzustellen, „Chance(n) zur Teilhabe an Kultur und Bildung und damit zu gesellschaftlicher Teilhabe“ (BKJ o.J.) zu eröffnen und damit letztendlich das völkerrechtlich verankerte Menschenrecht auf kulturelle Teilhabe einzulösen (Fuchs 2014:4; Fuchs 2015). Noch offen bleibt allerdings, wie der Anspruch auf kulturelle Teilhabe in der diversifizierten Gesellschaft erfolgreich umzusetzen ist, zumal die Teilhaberechte nicht teilbar sind; ohne kulturelle Teilhabe ist gesellschaftliche Teilhabe nicht möglich und umgekehrt. (Vgl. Liebau 2015:2; Maedler/Witt 2014:2)
Auch die Stichwortsuchfunktion von kubi-online zeigt, wie virulent das Thema ist: so werden unter dem Stichwort „Teilhabegerechtigkeit“ 17 und unter „Teilhabe/kulturelle Teilhabe“ über 200 Artikel aufgeführt. Die Selbstverpflichtung, die sich Kulturelle Bildung und Kulturpolitik mit dem Postulat „kulturelle Teilhabe/-gerechtigkeit herstellen“, auferlegen, ist anspruchsvoll. Und: Der Schlüsselbegriff „Teilhabe“ macht deutlich, dass sich die Kulturelle Bildung dem Leitprinzip der sozialen Gerechtigkeit verpflichtet fühlt; eine programmatische Nähe zum pädagogisch-organisationalen und machtkritisch-reflexiven Diversity-Ansatz scheint somit offensichtlich.
Komplexitäten II: Die Differenzkategorien in der Kulturellen Bildung
Ausgehend von dieser Programmatik stellt sich somit die Frage, welche Ungleichheitskategorien in den Diversitätsdiskursen der Kulturellen Bildung relevant sind. Eine erste grobe Orientierung gibt wieder die Suchfunktion von kubi-online: Hier werden im Dezember 2016 unter dem Stichwort „Diversity/Diversität“ 37, unter „Vielfalt“ 164 textliche Bezüge, d.h. Aufsätze auf, unter den Stichworten „Migration“ 39, „Gender“ 6, und unter „Geschlecht“ 27 sowie unter „Behinderung“ 34, „Inklusion“ 70 und „Alter“ 88 sowie „SeniorInnen“ 44 gelistet, ferner unter „Soziale Herkunft“ 8, „Soziale Schicht“ 7 und unter dem im deutschen Sprachgebrauch vorsichtig benutzten Begriff „Rasse“ 4 und unter „Hautfarbe“ 3 textliche Bezüge gelistet (kubi-online 2016). Dieses Aufzählen von Suchergebnissen auf kubi-online verfolgt keinerlei diskursanalytischen Anspruch; es kann lediglich illustrieren, welche Themen und Kategorien die Kulturelle Bildung im Kontext von Vielfalt derzeit besonders beschäftigen. Interessant ist, dass einige Ungleichheitskategorien wie „Rasse“, „Hautfarbe“ „soziale Herkunft“ und „Schicht“, aber auch „Gender“ eher wenig vorkommen; „Vielfalt“ im Sinne von kultureller Vielfalt wird hingegen stark thematisiert.
Jüngst haben sich Susanne Keuchel und Viola Kelb in ihrem Sammelband der Diversität in der Kulturellen Bildung. Perspektivenwechsel Kulturelle Bildung: Fachdiskurs, Fortbildung, Forschung gewidmet. Die Zusammenschau ist umfassend, zeigt aber auch, wie schwierig es scheint, mit den gesellschaftlichen Komplexitäten in der Kulturellen Bildung „perspektivisch“ umzugehen. Michael Wimmer zeichnet in seinem Aufsatz Kulturelle Bildung im Zeitalter wachsender Unterschiede historisch linear, wie unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen – quasi nacheinander und additiv – Teilhaberechte und -ansprüche am öffentlichen Kulturgeschehen formulierten. Über die Demokratisierung der Kultur und ihrem Slogan „Kultur für alle“ in den 1970er Jahren fand die Differenzkategorie „Klasse“ Einzug in die kulturpolitischen Diskurse. Die sich parallel formierende sozialkritisch-feministische Bewegung forderte von der „Neuen Kulturpolitik“ gleichermaßen die Kategorie „Geschlecht“ miteinzubeziehen. Als dritte Gruppe, die Teilhabe am kulturellen Leben und umfassende Repräsentanz in den Kultureinrichtungen einforderte, kamen in den letzten Jahren die MigrantInnen hinzu und somit die Kategorie „ethnische Herkunft“ (Wimmer 2015:19-21). Keuchel wiederum benennt in ihrem Beitrag Diversität, Globalisierun und Individualisierung. Zur möglichen Notwendigkeit einer Neuorientierung in der Kulturpädagogik „Gender/Geschlecht“ als Kategorie nicht, spricht unter Rückgriff auf Safiye Yildiz von kultureller Diversität, die „nicht nur als kulturgeografisches Phänomen verstanden (werden sollte), sondern in seiner ursprünglichen Begrifflichkeit auch als milieu-, alters-, ethnisch-, religions- oder regionsspezifische Ausprägunge(n)“ (Keuchel 2015:38, Keuchel 2016b:2).
Dorothea Kolland orientiert sich in ihrem Beitrag Künste, Diversity und Teilhabe. Kulturelle Bildung zwischen Multikulti, Postmigranten und Transkultur an den Differenzkategorien der Torontoer Kulturförderrichtlinien: „In Toronto z.B., einer Stadt mit einem sehr weitreichenden Antidiskriminierungsgesetz, muss jede Einverständniserklärung zu einer Zuwendung an ein Kulturprojekt eine positive Erklärung zu Akzeptanz von Diversity- und Antidiskriminierungsgrundsätzen enthalten, also auch Gender, Sex, körperliche Verfasstheit, Religion, Ethnie usw.“ (Kolland 2014:12).
Deutlich wird, dass Vielfalt in der Kulturellen Bildung unterschiedlich durchbuchstabiert wird, auch im Hinblick auf die Begrifflichkeit und die Differenzkategorien. Im Unterschied zu „Gender“ oder „Klasse“, „Schicht“ und „soziale Herkunft“ sind „Ethnie“ bzw. „ethnische Herkunft“, d.h. die kulturelle Vielfalt im engeren Sinne diskursbestimmend. Die Ungleichheitskategorien „Schicht“ und „soziale Herkunft“, „Klasse“ oder auch „Milieu“ sind über die in Bildung und Kultureller Bildung virulenten Debatten um so genannte „Bildungsarmut“ und „Bildungsbenachteiligung“ indirekt miteinbezogen und werden über Bourdieus Analyse der gesellschaftlichen Distinktionsmacht des kulturellen Kapitals zum Teil mitverhandelt (Keuchel 2016a).
Gender matters?! Der Gender Gap in der Kultur und in der Kulturellen Bildung
Ausgangspunkt der Spurensuche ist unter anderem die Frage, wie Vielfalt und Diversität in den Diskursen der Kulturellen Bildung programmatisch wie konzeptionell ihren Niederschlag finden. Welche Differenzkategorien werden verhandelt und welche nicht? Die Kategorie Gender ist eine, die aktuell wenig in den Blick genommen wird, aber – ausgehend vom Doing-Gender-Ansatz, in hohem Maße individuelle und gesellschaftliche Realitäten bestimmt. Dass gerade diese eine Kategorie von der Diskursbühne verschwunden ist, ist wenig nachvollziehbar, auch vor dem Hintergrund, dass die Queer-Studies, über die soziale Konstruktion der Geschlechter hinaus, auch die soziale Konstruktion der Geschlechterbeziehungen in den Blick nehmen. Und: Besonders in einem Kernbereich der Kulturellen Bildung, der Kulturellen Kinder- und Jugendbildung bzw. bei den Jugendkulturen und in der Jugendkulturarbeit ist die Relevanz der „Genderfrage“ offensichtlich.
Mädchen interessieren sich für Musik und Kunst, sind erfolgreich bei Jugend musiziert, bewegen sich souveräner im so genannten hochkulturellen Kontext, Jungen sind aktive HipHopper, Skater oder Sprayer und die zentralen Akteure und Trendsetter bei den Jugendkulturen. So lassen sich holzschnittartig die geschlechtsspezifischen Unterschiede bei Kindern und Jugendlichen skizzieren. Schaut man sich zum Beispiel die Teilnehmendenzahlen aus Baden-Württemberg am 52. Bundeswettbewerb Jugend musiziert an, so bestätigt sich eine Vermutung: Von den über 500 Mitwirkenden sind ca. 30% Jungen und 70% Mädchen. Auch ein Blick auf die Instrumente ergibt ein eindeutiges Bild; Mädchen dominieren klar die Block- und Querflöten und die Jungen das Horn und das Schlagzeug („Jugend musiziert“). Wahrscheinlich variieren die Zahlen in den unterschiedlichen Bundesländern, aber grundlegende Abweichungen sind hier nicht zu erwarten.
Auch in der Studie Jugend/Kunst/Erfahrung des Rates für Kulturelle Bildung zeigten sich bei Mädchen und Jungen deutliche Unterschiede im Bereich der kulturellen sowie technischen Interessen. Die Untersuchung wurde im März 2015 durchgeführt und es wurden 532 SchülerInnen der 9. und 10. Klasse befragt. Die wichtigsten Ergebnisse: 69% der Mädchen gaben gegenüber 48% der Jungen an, dass sie ein kulturelles Grundwissen für wichtig erachten. 67% der Jungen und 14% der Mädchen interessierten sich für Computerspiele. Dieses Verhältnis fand beim Interesse für Technik seine Fortsetzung - 44% Jungen zu 7% Mädchen. Als „typische Mädcheninteressen“ galten die Mode (72% vs. 24%), das Kochen (30% vs. 10% Prozent) oder das Lesen von Romanen (29% vs. 6%). (Rittelmeyer 2015:6). Die aktuelle Shell Jugendstudie – hier wurden Jugendliche zwischen 12 und 25 befragt – zeigt beim Freizeitverhalten, speziell bei der „Technikaffinität“ und bei der „Geselligkeit“, ähnliche Ergebnisse. (Shell Jugendstudie 2015:115)
Ein weiterer Aspekt: Die Affinität zur Musik und Kunst setzt sich bei den jungen Frauen bei der Berufswahl nur tendenziell fort. In NRW waren im Jahr 2012 insgesamt 57% der 925 AbsolventInnen an Kunst- und Musikhochschulen weiblich. Allerdings bleiben Frauen in Musik- und Kunsthochschulen „auf dem Weg nach oben“ auf der Strecke: der Frauenanteil an NRW-Hochschulen hauptberuflich und unbefristet angestellten Lehrkräften beträgt 36%. Auf der Leitungsebene bei den DekanInnen, ProrektorInnen und RektorInnen beträgt er dann noch 12% (Barz/Cerci 2015:91, 92). Jenseits der Hochschulen sind zudem die Verdienstunterschiede zwischen Künstlerinnen und Künstlern erheblich. Deutlich wird, dass sich die spezifischen Interessen und Kompetenzen von Mädchen beruflich nicht „auszahlen“ und eine faktische „Geschlechterungerechtigkeit“ herrscht.
Nach diesem Blick auf die Geschlechterverhältnisse bei Kunst- und Kulturinteressen Jugendlicher soll nun ein komplementäres kulturelles Aktionsfeld, die Jugendkultur/en und jugendkulturellen Szenen, betrachtet werden. Klaus Farin geht davon aus, dass Jugendkulturen im Leben junger Menschen eine entscheidende Rolle spielen; 20% der Jugendlichen sind in Jugendkulturen aktiv, ca. 70% orientieren an Jugendkulturen, ohne explizit einer anzugehören. Im Zentrum des jugendkulturellen Interesses steht die Musik. In den 1980er-Jahren war House szenebildend, in den 1990ern Techno und seit geraumer Zeit ist es der Hip-Hop, ein Sammelbegriff für Graffiti, Tanz und Rap-Musik. Hinzu kommen aktuell die im öffentlichen Raum präsenten Street-Art-AktivistInnen und SkaterInnen als typische urbane Jugendkulturen. Jugendkulturen sind konsumorientiert; in der Regel geht der Weg von der kleinen und politischen Subkultur zur größeren, kommerzialisierten und damit entpolitisierten Szene (Farin 2010; Metz/Richard 2015:752). Mit ihren ästhetischen Inszenierungspraktiken sind sie – ob sie wollen, oder nicht – für die Mode- und Musikindustrie wichtige Trendsetter. Kennzeichnend für die jüngere Geschichte der Jugendkulturen ist die „Bricolage“, das kontinuierliche und spielerische Zusammenbasteln verschiedener Stile, ihre Neukontextualisierung und die kreative Neuschöpfung und Hybridisierung; sie sind somit ein lebendiger und sichtbarer Ausdruck dessen, was wir heute unter transkultureller Entwicklung fassen. Szenen verschwinden nicht, es kommen neue hinzu; die Szenenvielfalt ist somit unübersichtlich. Jugendkulturen und -szenen bieten jungen Menschen in unserer heutigen kulturellen Multioptionsgesellschaft einen wichtigen Orientierungsrahmen, eine soziale Heimat und sind identitätsstiftend. (Treptow 2012:168-172, vgl. auch Keuchel 2016a:2)
Und: Die meisten Jugendkulturen sind auf den ersten Blick Jungenkulturen – noch immer. Jungen und Männer dominieren die HipHop-, Skinhead- oder Metal-Szene und früher die Rockabilly-Szene (Rohmann 2007:7). Die Rollenverteilung, so zum Beispiel im HipHop, ist klar definiert; sprechende Subjektpositionen sind überwiegend männlich besetzt, die harmonischen gesungenen und dekorativen Zwischenrefrains überwiegend weiblich (Villa et al. 2012:12). Provokations- und Protestkulturen von jungen Frauen, wie Riot Grrls der 1990er Jahre sind hingegen aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwunden (Rohman 2007:7). Und: Wenn Jugendkulturen an den Markt gehen, sind die ProtagonistInnen, d.h. die UnternehmensgründerInnen Männer (Josties 2007:253). Auch innerhalb der Jugendkulturarbeit sind die oben genannten jugendkulturellen Szenen wie auch andere jugendkulturelle Praktiken – z. B. die Streetart und das Skaten – überwiegend mit der Adressatengruppe „männliche Jugendliche“ verbunden. Gleichzeitig finden Mädchen und junge Frauen mit verschiedenen „cultures of feminity“ (McRobbie zitiert nach Rohmann 2007:9) ihre eigenen Wege in und mit den Jugendkulturen. Es gibt – das erstaunt nicht – nicht den „einen Umgang mit Geschlecht in Jugendszenen, sondern eine Vielzahl an Strategien, Einstellungen, Rollenmustern und Ansichten“. (ebd.) Schon Mitte der 1970er Jahre hat McRobbie erstmals die Frage nach der Rolle der „Mädchen in Jugendkulturen“ gestellt, die bis heute aktuell ist.
Elke Josties untersuchte im Jahr 2006 im Rahmen eines Forschungsvorhabens zu Bildungspotentialen der Jugend(kultur)arbeit über biografische Fallanalysen, wie junge Frauen Zugang zu den männlichen Cliquen und damit ihren weiblichen Sonderrollen in der männlich dominierten HipHop-Kultur fanden. Es ging um die Musik-, Sprayer- und Streetdance-Szene (Josties 2007:253). Die Ergebnisse zeigen, dass die jungen Frauen mit der faktischen Unterrepräsentanz aktiv umgegangen sind: Die Mädchen waren sich einerseits ihres Sonderstatus’ in einer männlich dominierten Szene bewusst, andererseits war die Genderfrage für sie unbedeutend; eine Auseinandersetzung mit Geschlechtsrollenklischees fand nicht statt. Sie akzeptierten den HipHop als Männerdomäne und entwickelten spezifische und individualisierte Bewältigungsstrategien, um sich anzupassen.
Offensichtlich ist, dass das Geschlecht eine markante Unterscheidungskategorie bei der Repräsentanz von Mädchen und Jungen, jungen Frauen und Männern in kulturellen und jugendkulturellen Kontexten darstellt. Vor diesem Hintergrund erstaunt es, dass im Glossar des immerhin 970 Seiten umfassenden Handbuch Kulturpädagogik für benachteiligte Jugendliche (Braune-Krickau et al. 2013) weder das Stichwort „Gender“ noch „Geschlecht“ aufgeführt wird. Zudem fehlen in den Standardwerken zu Jugendkultur/en und zur Jugendkulturarbeit in der Regel Verweise auf die feministische Mädchenarbeit und Verbände wie die Bundesarbeitsgemeinschaft Mädchenpolitik. Damit bleibt ein komplettes Handlungsfeld ausgeklammert. Nach wie vor scheinen die Geschlechterfrage sowie das Verhältnis von Geschlecht und Diversität und Geschlechtsidentität und Diversität eher im Kontext der Mädchenarbeit thematisiert zu werden (Wallner 2007).
Der kursorische Überblick belegt – „Gender“ ist eine nach wie vor wirkmächtige Differenzkategorie. In den Fachdiskursen zu Diversität in Kultureller Bildung und Jugendkulturarbeit spielt diese jedoch eine marginale Rolle, obwohl es einen offensichtlichen Gender Gap gibt – einerseits im Hinblick auf geschlechtsspezifische künstlerische und kulturelle Interessen und andererseits auf die jeweiligen Repräsentanzen und Aktivitäten weiblicher und männlicher Jugendlichen in den Jugendkulturen.
Komplexitäten III: Von der Teilhabe- zur Anerkennungsgerechtigkeit
Unabhängig vom Umgang mit den unterschiedlichen Differenzkategorien bleibt das Leitziel, Teilhabegerechtigkeit in einer komplexen und vielfältigen Gesellschaft herzustellen; Voraussetzung hierfür ist eine Art diversitätssensible Grundhaltung, die selbstreflexiv das Gleichgewicht zwischen Differenzen anerkennen und Zuschreibungen vermeiden, auslotet. Dieser Anspruch stellt für die kulturpädagogische Praxis und Diskurspraxis eine verständliche Herausforderung dar. Ein konkretes Beispiel: Im Januar 2014 veranstaltete das Institut für Kulturpolitik der Universitaät Hildesheim und die Kulturloge in Kooperation mit dem Deutschen Theater Berlin sowie mit dem Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverband, Landesverband Berlin und der Kulturpolitischen Gesellschaft e. V. die Tagung „Mind the Gap“. Es ging um „Zugangsbarrieren zu kulturellen Angeboten und Konzeption niedrigschwelliger Kulturangebote“. Im Einladungsflyer wurde gefragt: „Worin bestehen die Barrieren der Nutzung (hoch-)kultureller Angebote bei unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen? Warum besuchen z.B. gerade junge Menschen, Menschen mit Migrationshintergrund aus nicht westlichen Herkunftsländern, Menschen mit Behinderung und viele Menschen mit geringen Einkünften klassische Kultureinrichtungen besonders selten?“ (Mind the Gap 2014) Das Bündnis kritischer Kulturpraktiker_innen (BKK) „enterte“ die Tagung, schaltete ihr eine Intervention vor und kritisierte das Konzept grundsätzlich: „Der Text zur Konferenz verortet dabei das Problem auf der Seite derjenigen, die den Weg in die vermeintlich „hochkulturellen“ Institutionen nicht „finden“ und blendet der Ausgrenzung tatsächlich zugrunde liegende strukturelle und institutionelle Aspekte wie Rassismus, Ableismus, Sexismus etc. sowie die in den letzten zwei Jahren immer wieder vorgebrachte Kritik an der Reproduktion diskriminierender Stereotype aus.“ (Hervorhebung im Original, Mind the Trap 2014)
Das Bündnis kritischer Kulturpraktiker_innen legte mit „Mind the Trap“ den Finger in die Wunde der Komplexitätsfalle, in die die Veranstalter gewissermaßen doppelt getreten seien – erstens über die Zuschreibungen und Kategorisierungen und zweitens über die Perpetuierung des Primats der Hochkultur. Letztendlich kritisieren sie damit, dass die großen programmatischen Ziele und Versprechen der Kulturellen Bildung nicht umgesetzt werden: Teilnahme und Teilhabe.
Die fachlichen Auseinandersetzungen um „Diversität und Teilhabe(gerechtigkeit)“ werden in der Kulturellen Bildung aktuell im Kontext des „Capability Approach“ diskutiert, einem ursprünglich aus der Entwicklungszusammenarbeit kommenden und in der Sozialen Arbeit verstärkt rezipierten Ansatz. Im Vordergrund steht, „Wohlergehensfreiheit“ (Schrödter 2013) und „Verwirklichungschancen“ (Vogt 2014) zu gewährleisten. Jürgen Vogt thematisiert die „Anerkennungsgerechtigkeit“ als konzeptionelle, aber auch normativ-ethische Basis für Kulturelle Bildung. „Der zentrale Begriff ist hier derjenige der Anerkennung: Gerechtigkeit unter Ungleichen [...] kann sich überhaupt nur einstellen, wenn zuvor schon der jeweils Andere als Anderer in Form wechselseitiger Wertschätzung anerkannt worden ist“ (Vogt 2013:10). Dem gegenüber steht das Sterotypisieren, „den komplexen Bereich von „race, class und gender“ in Form einfacher Zuschreibungen zu kategorisieren“ (ebd. 2014:11). Hinzu kommen andere Formen der Nicht-Anerkennung, wie „Unsichtbar-Machen“ und „Kennzeichnen als das Andere“. Die Theoriediskurse sind somit durchaus fortgeschritten; „nichts scheint im aktuellen kulturpolitischen Diskurs so anerkannt zu sein, wie die Forderung nach kultureller Teilhabe “, aber „der tatsächliche Abstand zwischen Anspruch und Wirklichkeit von kultureller Teilhabe ist groß“ stellt Eckart Liebau fest (2015:1-2).
Hierfür gibt es zahlreiche Gründe. Einer mag in der Schwierigkeit liegen, die komplexen gesellschaftlichen Ausgangsbedingungen analytisch zu fassen und in kulturpädagogische Handlungskonzepte zu übersetzen. Hier lohnt es sich, einen Blick in den, aus der Genderforschung kommenden, Intersektionalitätsansatz zu werfen. Dieser „stellt den aktuellen Versuch dar, die Vielfalt und Vielschichtigkeit in der Konstellation von Differenzen auch unter der Berücksichtigung von Ungleichheit zu fassen“ (Maurer/May 2015:541) und Perspektiven der Gerechtigkeit aufzuzeigen (vgl. ebd:538). Intersektionalität und Diversität sind in der Sozialen Arbeit zwei komplementäre Begriffe; Ziel und Aufgabe ist, sich kritisch mit „sozialen Einteilungen und Zuschreibungsmustern“ (Leiprecht und Haeger 2013:99) auseinanderzusetzen. Der Intersektionalitätsansatz findet bisher in der Kulturellen Bildung keinen Resonanzraum.
Spurensuche „Vielfalt“, „Gender“ und „Teilhabegerechtigkeit“ - oder: Wie umgehen mit: Komplex – Geschlecht – Gerecht?
Erstens – der zentrale Ausgangspunkt und Anspruch: Teilhabegerechtigkeit herstellen. Kulturelle Bildung hat sich in den letzten Jahren zu einem multidisziplinären Handlungsfeld entwickelt, das an der Schnittstelle von Kultur, Bildung/Jugend und Sozialer Arbeit agiert. Hierbei ist die Verbindung zwischen Kultur und Bildung/Jugend jene, die über die Jugendkulturarbeit auf eine längere Kooperationstradition zurückblicken kann. Mit der zunehmenden sozialpolitischen Fundierung der Kulturellen Bildung trat auch die Soziale Arbeit verstärkt in das Handlungsfeld (vgl. Heinrich 2016). Die kulturpädagogische Praxis ist somit zunehmend kooperativ und kollaborativ aufgestellt. Alle drei Disziplinen teilen das Leitprinzip der „Teilhabegerechtigkeit“, das normativ mit dem Prinzip der „sozialen Gerechtigkeit“ verbunden ist. Die Erwartungen und Ziele, die die Kulturelle Bildung an ihre transformatorische Kraft stellt, die gleichermaßen Individuum und Gesellschaft adressiert, sind somit hoch. Um Vogt nochmals aufzugreifen – „Gerechtigkeit und damit auch Teilhabe unter Ungleichen“ herzustellen, ist ein programmatischer Anspruch der Kulturellen Bildung.
Zweitens – trotz der komplexen Vielfalt der Differenzkategorien: Gender matters! Ausgangspunkt der Spurensuche waren die Diversitätsansätze, wie sie in den Sozialwissenschaften vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen „Komplexitätsmaximierung“ konzeptionell und analytisch gefasst werden. Und es wurde ein Blick in die Diskurse zu „Diversität/Vielfalt“ in der Kulturellen Bildung geworfen. Deutlich wurde, dass diesen der konzeptionelle Rahmen fehlt und wenig klar ist, welche Differenzkategorien warum von Bedeutung sind. Das Bild ist uneinheitlich und jene rund um Kulturelle Vielfalt und Migration stehen besonders im Fokus der Diskurse. Es scheint fast, dass die Kulturelle Bildung von einer selbstverständlichen, „natürlichen“, disziplinären Zuständigkeit für die konstruktive Bearbeitung der gesellschaftlich herausfordernden kulturellen Vielfalt ausgeht. Wäre dies so, ist dies durchaus zu problematisieren. Es käme – so paradox es klingen mag – einer Kulturalisierung des eigenen Handlungsfeldes gleich. Die Idee, dass Kulturelle Bildung fachlich besonders berufen ist, sich um bestimmte Themen und Personengruppen „zu kümmern“, läuft Gefahr, genau jenem anheim zu fallen, das über Kulturelle Bildung vermieden, wenn nicht ausgeschlossen werden sollte – der Stereotypisierung. Dass hier ein „Mind the Trap“ vonnöten ist, wurde deutlich.
Die Kategorie „Gender“ wird aktuell eher weniger in den analytischen Blick genommen, obwohl sie nach wie vor gesellschaftliche Unterschiede re-produziert. Der kursorische Blick in die Teilnehmendenstruktur von Jugend musiziert sowie die Befunde zu jugendlichen Kunst-/Kulturinteressen und die Jugendkulturen hat deutlich gemacht, dass sich diese entlang der Geschlechter sortieren. Diese „kulturellen Geschmacksunterschiede“ zwischen den Geschlechtern sind nicht per se problematisch; klar ist auch, dass in beiden Bereichen auch andere Unterscheidungskategorien, wie Bildung, soziale Herkunft, ethnische Zugehörigkeit von Bedeutung sind. Dennoch: „Gender matters“; Mädchen verfügen, da künstlerisch-musikalisch aktiver, vermeintlich über mehr kulturelles Kapital, können jedoch dieses nicht in berufsbiografische Erfolge umwandeln. Im Gegenzug sind die Jungen die tonangebenden Akteure in den Jugendkulturen und bleiben es, wenn sie mit ihren Produkten an den Markt gehen; sie vermögen eher, aus ihrem „jugendkulturellen Kapital“ berufliches Kapital zu schlagen. Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern führen zu – in diesem Falle beruflich – ungerechten Teilhabemöglichkeiten. Dies zeigt einmal mehr, dass gendersensible Bildungs-, Jugendkultur- und Kulturarbeit und Soziale Arbeit nicht überflüssig sind. In einschlägigen Veröffentlichungen zu Jugendkultur taucht – trotz geschlechtsspezifisch segregierter Lebensrealitäten in den Jugendkulturen – der Begriff „Geschlecht/Gender“ nicht oder selten auf. Das „Gender matters“ wird nicht thematisiert. Dieser Trend setzt sich bei der Jugendkulturarbeit fort. Damit wird nicht behauptet, dass Jugendkulturarbeit in ihrer Praxis per se genderunsensibel sei, sondern lediglich, dass im fachlich-wissenschaftlichen Diskurs mehr Genderreflexion vonnöten ist. Wir haben einen faktischen „Gender-Gap“ in der Kulturellen Bildung/Jugendkulturarbeit; der Umgang mit dieser einen Kategorie „Gender“ zeigt, wie virulent die Frage der Teilhabegerechtigkeit ist.
Drittens – den transdisziplinären Blick schärfen: Kulturelle Bildung scheint – versucht man eine Gesamtschau – mit einer doppelten Komplexitätswirklichkeit konfrontiert zu sein. Auf der einen Seite steht die systemimmanente Komplexität. Sie ist einerseits ein Handlungsfeld, das an der Schnittstelle unterschiedlicher Disziplinen und Professionen agiert. Es gibt mit dem Leitprinzip „Teilhabegerechtigkeit herstellen“ eine gemeinsame normative Handlungsgrundlage. Gleichwohl bringt das multiprofessionelle Setting spezifische, disziplinär ausgerichtete Ziele und Sichtweisen mit sich. (Fuchs 2015:912) Auf der anderen Seite steht die gesellschaftliche Komplexitätstatsache und die Frage nach dem „wie Kulturelle Bildung mit der gesellschaftlichen Vielfalt umgeht“. Die Perspektive scheint klar: Eine diversitätsbewusste Kulturelle Bildung sollte die Gesamtheit der „wirkmächtigen Teilungsmuster, die gesellschaftliche Teilnahme- und Teilhabemöglichkeiten regulieren“ (Heite/Vorrink 2013:238) und die Interdependenz zwischen den Kategorien und ihre Differenzordnungen in den Blick nehmen. Der Intersektionlitätsansatz will „Achsen der Differenz“ (Maurer/May 2015:542) analytisch aufspüren und bietet für die Frage nach dem Umgang mit sowie der Reflexion von Vielfalt eine wissenschaftliche Grundlage. In der Sozialen Arbeit hat der Ansatz seinen Niederschlag gefunden. Wenn Kulturelle Bildung ihre hohen Ansprüche, Teilhabegerechtigkeit herzustellen, einlösen möchte, wird sie nicht umhin kommen, sich diskursiv und nicht additiv den komplexen Konstellationen von Ungleichheit und Ungerechtigkeit zu widmen. Deutlich wurde, dass es in der Kulturellen Bildung keinen eindeutig umrissenen Kanon an Differenzkategorien gibt. Den Diskursen um Diversität/Vielfalt in der Kulturellen Bildung fehlt somit der konzeptionelle Rahmen, wie ihn z.B.die eingangs dargestellten Diversitätsansätze bieten. Die Teilhabegerechtigkeit als normative Grundlage des Handlungsfeldes ist eng mit der sozialen Gerechtigkeit verbunden; dies impliziert wiederum ein bestimmtes Setting an Differenzkategorien sowie eine Affinität zum pädagogisch-organisationalen und machtkritisch-reflexiven Diversitätsansatz. Die Praxis der Kulturellen Bildung orientiert sich an den transkulturellen gesellschaftlichen Realitäten und findet in einem multiprofessionellen und transdisziplinären Handlungsraum statt, in dem einerseits unterschiedliche disziplinäre Profile und Ziele offensichtlich sind, die gleichzeitig und andererseits miteinander in Beziehung gesetzt werden müssen. Der Blick auf Diversität in der Kulturellen Bildung zeigt, dass auch der wissenschaftliche Diskurs- und Analyseraum noch mehr transdisziplinär zu verschränken ist.