Potentiale theaterpädagogischer Projektarbeit: Ergebnisse einer multimodalen Interaktionsanalyse
Die multimodale Interaktionsanalyse (MIA) bietet einen Zugang zur empirischen Erforschung sozialer Interaktionen. Dabei ermöglicht sie es, Handlungsvollzüge nicht nur als verbales Geschehen, sondern in ihrer gesamten interaktiven und multimodalen Komplexität, d.h. auch in ihrer körperlich-räumlichen Dimension, zu erforschen (vgl. Schmitt 2007). Im gegebenen Fall liefert sie Erkenntnisse über Potentiale theaterpädagogischer Projektarbeit, die weit über die Theateraufführung als Projektergebnis hinausgehen.
Der Artikel gibt Einblick in ein theaterpädagogisches Projekt an der Freien Interkulturellen Waldorfschule Mannheim, das von mir im Rahmen eines Forschungsprojekts (Dissertation) wissenschaftlich begleitet und videodokumentiert wurde (vgl. Meißner 2018). Im Zentrum steht ein soziales Ereignis jenseits der planmäßigen theaterpädagogischen Projektinhalte und Vermittlungsprozesse, das in einer ungeplanten Übergangsphase kurz vor der Theateraufführung gegen Ende des Projekts stattfand und anstelle der eigentlichen Theaterarbeit zum zentralen Untersuchungsgegenstand avancierte. Der Artikel zielt darauf ab, die soziale Bedeutung dieses Ereignisses sichtbar zu machen. Für Ausführungen zu den interaktions- und subjekttheoretischen Grundlagen der Untersuchung sowie zum dort entwickelten empiriebasierten Konzept ‚performativer Selbstdarstellung‘ sei auf die Hauptpublikation verwiesen (vgl. ebd.).
Zunächst werde ich auf den Projektkontext eingehen und das Ereignis näher beschreiben. Ich werde die ‚multimodale Interaktionsanalyse‘ (MIA) als zentrales Forschungsinstrument vorstellen und ihre Potentiale bei der Analyse vorrangig körperlich-räumlich organisierter Interaktionen skizzieren. Daran anschließend werde ich die Bedingungen beleuchten, die das Zustandekommen des genannten Ereignisses ermöglichten. Und ich werde der Frage nachgehen, welche soziale Bedeutung dem Ereignis in der gegebenen Situation sowie vor dem Hintergrund des projektbezogenen wie auch schulischen Kontexts beigemessen werden kann. Auf dieser Basis lassen sich abschließend allgemeine Erkenntnisse und Schlussfolgerungen für die theaterpädagogische Projektarbeit formulieren, die sich aus der Analyse des Ereignisses ergeben.
Projektkontext und schulischer Rahmen
Den Kontext des untersuchten Ereignisses bildet ein vierwöchiges Theaterprojekt an der Freien Interkulturellen Waldorfschule Mannheim. Während dieses Projekts, an dem sämtliche Schüler*innen der siebten Klasse mitwirkten, sind die Beteiligten unter Leitung einer externen Theaterpädagogin sowie des Klassenlehrers täglich von morgens bis nachmittags mit der Erarbeitung eines Theaterstücks zum Thema ‚Robin Hood‘ befasst. Die Erarbeitung des Theaterstücks erfolgt anhand einer Stückvorlage und auf Basis festgelegter Rollen und ist durch eine eher text- und sprachorientierte Arbeitsweise gekennzeichnet. Der Probenprozess verläuft in wesentlichen Teilen unter Anwesenheit der gesamten Klasse und die Theaterarbeit ist weitgehend auf den Klassenraum beschränkt. Erst gegen Ende des Projekts erweitert sich das Geschehen auf das angrenzende Foyer, wo mithilfe von Podesten eine Bühne errichtet wird.
Zum strukturellen Rahmen des Projekts trägt neben der eigentlichen Theaterarbeit und den damit verbundenen zeitlichen und räumlichen Bedingungen auch der organisationale Kontext bei. Dieser ist bestimmt vom Profil der Schule als interkulturelle, sozial-integrative Gesamt- und Ganztagesschule waldorfpädagogischer Prägung (vgl. Brater/Hemmer-Schanze/Schmelzer 2009), innerhalb derer dem Theaterspiel eine wichtige entwicklungspsychologische und gemeinschaftsstiftende Funktion zugesprochen wird (vgl. Bund der Freien Waldorfschulen 1994; Steiner 1982).
Das Theaterspiel ist zum einen vor allem in der achten und zwölften Klasse in Form der sog. ‚Klassenspiele‘ zum Abschluss der Klassenlehrer- bzw. Waldorfschulzeit fest im Schulkonzept verankert. Zum anderen wird der Aspekt des ‚Dramatischen‘ bereits von Rudolf Steiner als ein zentrales pädagogisches Prinzip für die Phase des dritten ‚Jahrsiebts‘ (genauer: ab dem zwölften Lebensjahr) herausgestellt (vgl. Steiner 1982:316f.). Der Aspekt des ‚Dramatischen‘ bezeichnet dabei eine körperlich-empfindende Verbindung mit sich und der Welt bei gleichzeitiger reflexiver Distanzierung, wobei der Mensch sich selbst erlebt und zugleich als Instrument betrachtet, mit dem er gestaltend tätig wird (vgl. Steiner/Steiner-von Sivers 1926/1969:19f., 307).
Der schulische Kontext beeinflusst wiederum den pädagogischen Rahmen der Theaterarbeit während des untersuchten Theaterprojekts. Dieser findet unter anderem in einem stark situationsbezogenen (theater‑)pädagogischen Konzept, der zentralen Rolle des Klassenlehrers sowie in der Arbeitsteilung im Leitungsteam seinen Ausdruck. Dabei handelt es sich nicht um einseitig vom Leitungsteam ausgehende Strukturvorgaben. Die (Theater‑)Pädagog*innen orientieren sich vielmehr stark an den gruppendynamischen Bedingungen, die sie in der Klasse vorfinden.
Insgesamt bildet das Theaterprojekt eine sehr komplexe ‚interaktive Angebotsstruktur‘, also einen Rahmen mit bestimmten sozialen Implikationen, der sich aus den strukturellen Bedingungen und dem faktischen Vollzug des Geschehens für die Beteiligten ergibt. Diese Angebotsstruktur umfasst nicht nur theaterspezifische Aspekte, sondern bezieht sich auch auf die spezifische Form der ‚Vergesellschaftung‘ (Simmel 1908/1992), innerhalb derer die Theaterarbeit stattfindet. Die kompakte Projektstruktur bewirkt hierbei eine enorme Verdichtung der sozialen Gruppendynamik. Zugleich unterscheidet sich der offene Arbeitsrhythmus vom stärker reglementierten Unterricht des sonstigen Schulalltags und bietet Freiräume für selbstbestimmte Vergesellschaftung und Austausch. Auf diese Weise können Freundschaften gepflegt, Kontakte intensiviert werden und neu entstehen.
Darüber hinaus beinhaltet die Angebotsstruktur des Theaterprojekts aber auch verschiedene darstellungsbezogene Interaktionsformen außerhalb der konkreten Theaterarbeit, innerhalb derer Theater von den Projektteilnehmenden in selbstbestimmter Weise aktiv angeeignet und gestaltet wird. Dazu zählen unter anderem die Nutzung der tatsächlichen Bühne für Darstellungsaktivitäten, die Kultivierung des Schminkens sowie die Aneignung des Klassenraums zur Präsentation schülereigener Relevanzen (z.B. Gestaltung der Tafel). Nicht zuletzt spielt in diesem Zusammenhang auch die Kamera als Darstellungsangebot und ‑rahmen eine zentrale Rolle.
Das Ereignis
Das eingangs erwähnte Ereignis zählt zu den darstellungsbezogenen Interaktionsformen außerhalb der konkreten Theaterarbeit, deren Häufigkeit und Ausprägung im Verlauf des Projekts sichtbar zunehmen. Das Geschehen ereignet sich in einer ungeplant entstandenen Zeitspanne am Übergang der Vorbereitungsaktivitäten zur Aufführung. Die Projektteilnehmenden sind bereits für die Aufführung geschminkt und verkleidet. Die Bühne ist eingerichtet; sie wurde im Schulflur aufgebaut, der unmittelbar an das Klassenzimmer grenzt und für die Aufführung des erarbeiteten Theaterstücks in einen ‚Theaterraum‘ umgestaltet ist. Der Klassenraum dient noch als Garderobe, Maske und Vorbereitungsraum und ist mit historischen Kostümen und Requisiten ausgestattet, die als sichtbare Spuren des Projektprozesses im Raum hängen und liegen.
Die Übergangsphase ist weder durch pädagogische Anleitungen strukturiert, noch als Pausensituation markiert. Der ausgewählte Videoausschnitt zeigt nun, wie die Projektteilnehmenden diesen unerwartet entstandenen Freiraum vor der Theateraufführung nutzen, um sich die für das Theaterstück vorbereitete Bühne anzueignen und für eigene Darstellungsaktivitäten zu nutzen. Dabei beginnen zunächst zwei, dann drei Akteure von der Bühne herab, mit körperlichem Einsatz einen Song der Popgruppe ABBA in die Kamera zu singen. Nach und nach kommen weitere Personen hinzu; andere Lieder werden gesungen, von Tanzeinlagen begleitet. Dabei wenden sich die Akteur*innen von der Kamera ab und einander zu. Der Fokus richtet sich zunehmend auf den Zuschauerraum, in dem mehrere Projektteilnehmenden sowie die Theaterpädagogin auf einzelnen Stühlen Platz genommen haben und dem Geschehen zusehen.
Das Interaktionsgeschehen baut sich sukzessive zu einem ‚moderierten Programm‘ auf, bei dem zwei der Akteur*innen verschiedene Programmbeiträge ankündigen. Vier Akteur*innen treten daraufhin als ‚die berühmten ABBA‘ auf, drei weitere als ‚eine unbekannte Band‘. Der dritte Programmpunkt schließlich wird den anwesenden Erwachsenen, der Theaterpädagogin sowie dem Kamerateam, gewidmet: „Jetzt extra, für Herrn Schütz, Frau Meißner und Frau Koch: ein Lied!“ (Alle Namen bis auf den der Autorin geändert.) Daraufhin kommen nach und nach alle anwesenden Projektteilnehmenden auf die Bühne und bilden einen Halbkreis. Begleitet von Trommelwirbel, Radschlag und Tanzeinlagen bringen die Akteur*innen den Song ‚Eye of the Tiger‘ zur Aufführung und werfen sich zum Abschluss in ein Standbild aus Siegerposen.
Zur Auswahl des Ereignisses als Forschungsgegenstand
Was motiviert nun dazu, ein solch unvorhergesehenes Ereignis, das jenseits der methodisch-didaktisch strukturierten theaterpädagogischen Vermittlungsprozesse stattfindet, zum zentralen Gegenstand einer theaterpädagogischen Forschung zu erheben? Zunächst einmal spricht allein die Tatsache, dass dieses Geschehen im Prozess der Datenerhebung als dokumentierenswert erachtet und aufgezeichnet wurde, dem Geschehen im Theaterraum, und speziell dem auf der Bühne, soziale Bedeutung zu. Im Vergleich zu den Aufzeichnungen, in welchen vor allem die Theaterarbeit in den unterschiedlichen Projektphasen dokumentiert wurde, ist die Dokumentation dieses Ereignisses jedoch nicht im Vorfeld durch forschungsbezogene oder (theater‑)pädagogische Gesichtspunkte gesteuert, sondern reagiert auf situative Relevanzen, die von den Projektbeteiligten selbst eingebracht werden. Man könnte sogar sagen: Aufgrund der faktischen Einbindung der Kamera drängt sich das Geschehen dem Forschungsblick regelrecht auf.
Aufgrund seiner Entwicklung zu einem kollektiven Ereignis, und dies zu einem Zeitpunkt unmittelbar vor der geplanten Aufführung des erarbeiteten Theaterstücks und auf der dafür vorbereiteten Bühne, steht das Ereignis zudem in einer vielschichtigen Beziehung zum gesamten Theaterprojekt. Diese Vielschichtigkeit drückt sich in besonderem Maße in der spontanen Aneignung und Umdeutung der situations- und projektbezogenen Angebotsstruktur aus. Dabei nutzen die Akteur*innen die vorhandene, theatral aufgeladene Angebotsstruktur, greifen jedoch auf tänzerisch-musikalische Darstellungsformen (vorwiegend Musicalsongs der Musikgruppe ABBA) zurück, die nichts mit dem erarbeiteten Theaterstück ‚Robin Hood‘ zu tun haben. Zugleich widmen sie den finalen Beitrag des ‚moderierten Programms‘ der Theaterpädagogin und dem Kamerateam, die ihrerseits durch ihre Anwesenheit und konstante Zuschauerrolle das Geschehen mitkonstituieren.
Aufgrund dieser vielschichtigen Beziehung des Ereignisses zum Projektkontext stellt sich die Frage, welche Voraussetzungen das Zustandekommen eines solchen Ereignisses ermöglichen und welche soziale Bedeutung dem Ereignis in der gegebenen Situation sowie vor dem Hintergrund des projektbezogenen wie auch schulischen Kontexts beigemessen werden kann. Dabei entsteht die Vermutung, dass sich die soziale Bedeutungsqualität des Theaterprojekts anhand dieses unerwarteten Ereignisses womöglich deutlicher herausfiltern lässt, als es jede noch so detaillierte Analyse der eigentlichen Theateraufführung zu leisten vermag.
Die multimodale Interaktionsanalyse als Forschungsinstrument
Wie aber lassen sich qualitative Erkenntnisse über die (theater‑)pädagogische Praxis gewinnen, die nicht allein auf subjektiven Deutungen der am pädagogischen Prozess Beteiligten bzw. der Forschenden beruhen? Diese Frage stellt sich insbesondere in sog. ‚inter-‘ bzw. ‚transkulturellen‘ Zusammenhängen, bei denen die Beteiligten pädagogischer (Forschungs‑)Prozesse sich in immer vielfältigeren kulturellen Bezugssystemen bewegen und aus diesen heraus interagieren. Denn gerade in kulturell diversen Kontexten sind pädagogisch Tätige wie Forschende gefordert, sich im Prozess des ‚Verstehens‘ sozialer Prozesse von ihren eigenen Vorannahmen zu distanzieren, um den Blick für die konkrete Praxis, ihre Besonderheiten und die Vielfalt sozialer Bedeutungen zu öffnen, die sich aus dem faktischen Interaktionshandeln für die Beteiligten ergeben.
Ein Forschungsansatz, der eine solche, methodisch kontrollierte Distanzierung von subjektiven Wissensgrundlagen und Deutungsmustern ermöglicht, ist die ‚multimodale Interaktionsanalyse‘ (MIA). Ihr Ziel ist es, anhand von Videoaufzeichnungen des faktischen Vollzugsgeschehens die Anforderungen, Voraussetzungen, Methoden und sozialen Bedeutungen unseres alltäglichen Interaktionshandelns zu rekonstruieren (vgl. Schmitt 2011). Damit folgt sie der ethnomethodologischen Konversationsanalyse, die in den 1960er Jahren von Schüler*innen Harold Garfinkels begründet wurde, mit dem Ziel, dessen ethnomethodologisches Forschungsprogramm (vgl. Garfinkel 1967) im Bereich sprachlicher Interaktion umzusetzen.
Die MIA übernimmt den strengen methodischen Anspruch der Konversationsanalyse, bietet dabei einen empiriebasierten Zugang, der es ermöglicht, soziale Interaktionen nicht nur als verbales Geschehen, sondern in ihrer gesamten interaktiven und multimodalen Komplexität, d.h. auch in ihrer körperlich-räumlichen Dimension, einzufangen (vgl. Schmitt 2007). Dazu stellt sie – zusätzlich zu den verbalbasierten Methoden der Konversationsanalyse – neue, multimodale und visuell basierte Interaktionsdokumente und Analyseverfahren bereit (vgl. Schmitt 2015). Auf diese Weise öffnet sie den Blick für die soziale Bedeutung interaktiver Handlungsvollzüge, die – wie im gegebenen Fall – nicht in erster Linie auf Sprache, sondern zum Teil ausschließlich auf körperlich-räumlichen Ausdrucksressourcen basieren.
Daneben folgt die MIA der interaktionstheoretischen Annahme der Ethnomethodologie, dass Interaktionen immer als situative Aushandlungsprozesse zu betrachten sind, an denen alle Interaktionsbeteiligte gleichermaßen mitwirken. Dabei orientieren sich die Interaktionsbeteiligten einerseits an den kontextuellen Bedingungen, die sie in der aktuellen Situation vorfinden (oder vorzufinden meinen), tragen andererseits durch ihr situationsspezifisches Handeln stets zur Erneuerung und Veränderung des jeweiligen Kontexts bei.
Wie die ethnomethodologische Konversationsanalyse erhebt die MIA diese interaktionstheoretische Annahme zum Analysegrundsatz: Sie untersucht zum einen, durch welche formalen Ordnungsstrukturen (d.h. implizite Methoden, Voraussetzungen und Interaktionsanforderungen) das faktische Handeln der Interaktionsbeteiligten organisiert ist. Zum anderen beleuchtet sie, welche soziale Bedeutungsqualität im Sinne sozialer Konsequenzen (Chancen und Risiken) sich durch den situationsspezifischen Handlungsvollzug in der konkreten Situation für die Beteiligten ergeben. Auf dieser Grundlage ermöglicht die MIA praxisbezogene Erkenntnisse mit unmittelbarem Anwendungsbezug für die Beteiligten.
Erkenntnisse aus der Fallanalyse
Die detaillierte Analyse des ausgewählten Ereignisses im gegebenen Fall liefert umfangreiche Erkenntnisse darüber, wie die Projektteilnehmenden sich die situations- und projektbezogene Angebotsstruktur aneignen, um eigene Relevanzen zum Ausdruck zu bringen. Dabei zeigt sich nicht nur die enge Verwobenheit von situations- und projektbezogenen Voraussetzungen, sondern auch die von theaterspezifischen und sozialen Aspekten, die mit der besonderen Vergesellschaftungsstruktur der Projektbeteiligten zu tun hat.
Voraussetzungen
Die Entstehung und Entwicklung des Geschehens zu einem kollektiven Ereignis beruht auf zahlreichen Voraussetzungen, die von den Projektbeteiligten als ‚interaktive Ressourcen‘ genutzt werden. Dazu zählen:
- körperlich-räumliche Ausdrucksressourcen:
- tänzerisch-musikalische Ausdrucksformen
- Repertoire an Musicalsongs (aus dem Musikunterricht)
- interaktionsvorgängig angelegte, theaterspezifische Ausdrucksqualitäten
- kulturelle Wissensgrundlagen über Darstellungsformen, damit verbundene Raumnutzung und interaktive Gestaltungsmöglichkeiten
- Kostüme
- räumliche Angebotsstruktur:
- ‚Theaterraum‘ mit eingerichteter Bühne und Zuschauerraum
- Scheinwerfer-Beleuchtung (Licht-Check)
- interaktive Gestaltungsmöglichkeiten:
- Co-Akteur*innen
- Anwesenheit von Zuschauenden
- Dokumentationsmedien (Video-, Fotokamera)
- Projektrahmen:
- ungeplante Übergangsphase
- zeitliche Nähe zur Aufführung
- unmittelbare Nähe zum Klassenraum/Vorbereitungsraum
- kollektive Vergesellschaftung (Verdichtung der Gruppendynamik, körperliche Vertrautheit etc.)
- situationsbezogenes (theater-)pädagogisches Konzept
- Videodokumentation (Kamera als Darstellungsangebot etabliert)
- schulischer Kontext:
- etablierte Sozialstruktur innerhalb der Klassengemeinschaft
- Theater als Querschnittsthema innerhalb des Schulcurriculums
- interdisziplinäre Zusammenarbeit mit verschiedenen Fachlehrern (Bildende Kunst, Musik, Tanz u.a.)
Alle diese Aspekte ermöglichen zusammen genommen das Zustandekommen des untersuchten Ereignisses. Dass und wie die Projektteilnehmenden auf die einzelnen Aspekte zurückgreifen und diese als ‚interaktive Ressourcen‘ nutzbar machen, ist jedoch nicht als Selbstverständlichkeit zu betrachten. Vielmehr ist der gesamte Prozess – trotz seiner Unvorhersehbarkeit – als Ausdruck einer selbst auferlegten Relevanz zu deuten, sich die gegebene Angebotsstruktur zu eigen zu machen und in ganz bestimmter Weise für eigene Darstellungsaktivitäten zu nutzen. Dabei spielen sowohl situationsspezifische Aspekte (z.B. ungeplante Zeitspanne in unmittelbarer Nähe zur Aufführung, Raum- und Lichtverhältnisse, Anwesenheit von Co-Akteur*innen, Zuschauer*innen und Dokumentationsmedien) wie auch interaktionsvorgängig angelegte Aspekte (z.B. theaterspezifische Ausdrucksqualitäten, darstellungsbezogene Wissensgrundlagen, Musical-Repertoire, kollektive Vergesellschaftung, etablierte Klassenstruktur) eine Rolle, welche auf den Projektzusammenhang und/oder Schulkontext verweisen.
Raum-, Lichtverhältnisse sowie Kostüme und nicht zuletzt die Anwesenheit der Kamera bewirken eine Rahmung des Geschehens als Darstellungszusammenhang und begünstigen somit die Realisierung nichtalltäglicher Darstellungsformen. Hierbei können die zu beobachtenden, theaterspezifischen Ausdrucksqualitäten als interaktionsvorgängig angelegte, projektbezogene Ressourcen betrachtet werden, auf die die Beteiligten unabhängig von ihrem stückbezogenen Zusammenhang in der gegebenen Situation zurückgreifen. Denn das Ausmaß an Präsenz und Ausdruck, an Reaktions- und Mitspielfähigkeit, das die Akteur*innen im Verlauf des Interaktionsgeschehens an den Tag legen, wäre ohne einen unmittelbar interaktionsvorgängigen Zusammenhang, in dem ebendiese Qualitäten eine entscheidende Rolle spielen, kaum vorstellbar. Gleichzeitig kommt es zu einer Neugewichtung relevanter Ausdrucksressourcen im Vergleich zum Theaterstück ‚Robin Hood‘, die auf einer Priorisierung von tänzerisch-musikalischen gegenüber sprachbezogenen Ausdrucksformen beruht. Diese befördern die Möglichkeit des ‚Andockens‘ und somit eine Verbindung der realisierten Darstellungsaktivitäten mit gemeinschaftlicher Ausgelassenheit.
Vor dem Hintergrund des ethnographischen Wissens darüber, dass die sprachlichen Kompetenzen innerhalb der Klasse aufgrund ihrer heterogenen Zusammensetzung sehr unterschiedlich ausgeprägt sind, verfügen die tänzerischen und musikalischen Formen als selbstgewählter Ausdruck der Projektteilnehmenden über eine weitere Bedeutungsdimension: Sie bergen die Möglichkeit, Ausdruckspotentiale einzubringen, die im Theaterstück tendenziell ungenutzt bleiben und bewirken damit nicht nur eine Reproduktion, sondern auch eine situative Neuordnung der Sozialstruktur. Einen Hinweis darauf liefert die Umbesetzung zentraler Funktionsrollen im Vergleich zur Rollenbesetzung des Theaterstücks, wie sie anhand der ‚Karriere‘ der beiden selbst ernannten Moderatoren deutlich wird. Während die initiierenden Protagonisten mit Hauptrollen im Stück sukzessive in den Hintergrund treten, nimmt die funktionale Bedeutung der beiden Moderatoren, deren Rollen im Stück eher marginal sind, im Verlauf des Geschehens sukzessive zu.
Dass es überhaupt zu einer Ausweitung des Geschehens mit zunehmender Formalisierung und Kulturalisierung der Darstellungsaktivitäten kommt, wird zwar durch die Situationsbedingungen befördert, lässt sich letztlich jedoch nur auf eine selbstauferlegte Relevanz der Akteur*innen zurückführen. Diese besteht darin, der Erwartungsstruktur, welche durch die situativen Darstellungsaktivitäten der initiierenden Akteur*innen etabliert wurde und durch die Anwesenheit von Zuschauenden relevant gehalten wird, weiter Folge zu leisten. Dabei werden die Darstellungsaktivitäten mit zunehmender Ernsthaftigkeit betrieben und münden mit dem ‚moderierten Programm‘ schließlich in ein kollektives Geschehen, das sämtliche Projektteilnehmenden miteinschließt.
Zwischen Affirmation und Autonomie
Wie lässt sich nun das Zustandekommen des Ereignisses in der gegebenen Situation sowie vor dem Hintergrund des projektbezogenen wie auch schulischen Kontexts deuten? Die Antwort liegt im Spannungsfeld zwischen Bejahung (Affirmation) des gegebenen Kontexts und Demonstration von Autonomie. Denn mit ihrer realisierten Handlungspraxis begegnen die Projektteilnehmenden zwar der theatralen Angebotsstruktur, drehen die Situation im gleichen Zug jedoch gewissermaßen um, indem sie die stückbezogene Erwartungsstruktur, die auf die nahende Aufführung von ‚Robin Hood‘ hinweist, außer Acht lassen bzw. umdeuten und für die Präsentation eigener Relevanzen nutzen. Die Dreiergruppe, die im Rahmen des ‚moderierten Programms‘ einen non-konformen Beitrag leistet, kann in dieser Hinsicht als beispielhaft betrachtet werden. Die drei Akteur*innen positionieren sich nicht nur außerhalb des Rahmens, der durch das Theaterstück nahe gelegt wird, sondern auch außerhalb der Musical-Struktur, und machen sich die gegebene Situation als Darstellungsrahmen somit in doppelter Hinsicht zu eigen.
Dass mit diesem Akt der Selbstermächtigung und der Abkehr von stückbezogenen Relevanzen keine Abwertung, sondern vielmehr eine Aufwertung des projektbezogenen Kontexts (auch der Theaterarbeit) verbunden ist, verdeutlicht vor allem die Tatsache, dass die Projektteilnehmenden die im Projekt eingeführte Darstellungsstruktur (Bühne) zur Realisierung theatraler (!) Darstellungsformen nutzen. (Schließlich wäre durchaus denkbar – und weitaus nahe liegender –, dass die Projektteilnehmenden den entstandenen Freiraum in erster Linie als Gelegenheit für informelle Gespräche und Vergesellschaftung in ihren etablierten Peergroups betrachten.) Zudem drückt sich eine Aufwertung des Theaterprojekts in der Widmung gegenüber der Theaterpädagogin und den Kameraleuten aus, die mit der Eröffnung des ‚Lieds‘ ausgesprochen wird. Die Widmung impliziert eine Relevanzhochstufung all derjenigen Aspekte, die nicht in der Umsetzung des Theaterstücks aufgehen, die jedoch Teil des Projektzusammenhangs sind und als situationsbezogene, räumliche und personelle Ressourcen von den Projektteilnehmenden zur Realisierung ihrer Darstellungsaktivitäten genutzt werden. Die Theaterpädagogin trägt ihrerseits zu einer solchen Bedeutungskonstitution bei – einerseits, indem sie den Projektteilnehmenden den entstandenen Freiraum überlässt, andererseits, indem sie durch ihre konstante Präsenz als Zuschauerin sowie durch ermunternde Kommentare und Fotodokumentation ihre Wertschätzung für das Gezeigte zum Ausdruck bringt.
Vor dem Hintergrund der ethnographischen Erfahrung zeigt sich in der realisierten Handlungspraxis schließlich eine implizite Wertschätzung des schulischen Kontexts (insbesondere des Musikunterrichts) als Quelle der Musicalsongs, auf die die Projektteilnehmenden zur Realisierung ihrer Darstellungsaktivitäten zurückgreifen. Mit dem Wissen, dass der Musiklehrer ebenfalls am Theaterprojekt beteiligt und mit der Entwicklung musikalischer Elemente befasst war, lässt sich das untersuchte Ereignis demnach einerseits als Dokument der interdisziplinären Zusammenarbeit während des Projekts lesen, andererseits als eines, das über die unterrichtstranszendierende Bedeutung bestimmter Inhalte (hier: des Musikunterrichts) Auskunft gibt. Die soziale Relevanz dieser Inhalte ist dabei nicht als Besonderheit des Theaterprojekts oder des Musikunterrichts zu betrachten, sondern hängt – wie die kollektive Entwicklung des Geschehens – in erster Linie mit der spezifischen Vergesellschaftungsstruktur zusammen, die der realisierten Handlungspraxis zugrunde liegt und in einer konsequent partizipativ-inkludierenden Orientierung der Akteur*innen ihren Ausdruck findet.
Selbstdarstellung als kollektive Praktik
An dieser Stelle gilt es, auf eine fallspezifische Besonderheit hinzuweisen, die unabhängig von der generellen Ordnungsstruktur der realisierten Darstellungsaktivitäten zu betrachten ist. Denn die Projektteilnehmenden realisieren ihre Darstellungsaktivitäten im untersuchten Interaktionsausschnitt nicht nur auf Basis einer individuellen Präsentationsorientierung, sondern auch auf Basis einer ausgeprägten Orientierung an anderen Akteur*innen und einer entsprechenden Nutzung interaktiver Ressourcen. Dabei werden die theatrale Angebotsstruktur und der offene Rahmen genutzt, um eine Form der Vergesellschaftung zu praktizieren, die darauf ausgerichtet ist, sich zu zeigen und zugleich etwas gemeinsam zu tun. Andere Personen werden damit gleichermaßen zum Resonanzraum wie zu Ko-Konstrukteur*innen der Darstellungsaktivitäten als einer kollektiven sozialen Praktik.
Im konkreten Fall gewinnen zudem die Darstellungspotentiale anderer Personen Ressourcenqualität und werden als produktives Element für die Herstellung der eigenen Sichtbarkeit behandelt. Die partizipativ-inkludierende Orientierung der Beteiligten, die hieran deutlich wird, durchzieht empirisch rekonstruierbar alle Phasen des Interaktionsgeschehens als ein Prinzip ‚wechselseitiger Selbstverstärkung‘ und stellt entsprechend einen konstitutiven Bestandteil der realisierten Handlungspraxis dar. Die Orientierung an anderen äußert sich in verfahrensbezogenen Handlungsvollzügen wie dem ‚Andocken‘ an und dem aktiven ‚Integrieren‘ anderer Personen in bestehende Strukturen sowie im spielerischen Wechsel von Koalitionen und Beteiligungsrollen. Sie beeinflusst zudem die im Verlauf des Geschehens interaktiv definierten Funktionsrollen und Darstellungsrahmen, die erkennbar zur Sichtbarkeit anderer und zur Egalisierung unterschiedlicher Relevanzen einzelner Personen und Kleingruppen (beispielsweise der Dreiergruppe innerhalb des ‚moderierten Programms‘) beitragen.
Theatrale, kommunikative und koordinative Interaktionsformen dienen also – ebenso wie räumliche und zeitliche Gegebenheiten – als Ressourcen zur Herstellung einer Interaktionsstruktur, die auf die eigene Sichtbarkeit ausgerichtet ist, dabei aber immer die Sichtbarkeit anderer als produktives Element einschließt. Hierbei handelt es sich um eine konvergierende Orientierung sämtlicher Akteur*innen, die sich bereits zu Beginn des Geschehens gegenüber einer latent egozentrisch-kompetitiven Orientierung durchsetzt und mit dem ‚Lied‘ (‚Eye of the Tiger‘) sowie der davor ausgesprochenen Widmung in eine kollektive Form der Selbstdarstellung mündet.
Mit dieser kollektiven Form der Selbstdarstellung geben die Projektteilnehmenden Auskunft über ihre schulische Verankerung wie auch über die soziale Bedeutung des aktuellen Geschehens innerhalb des Projektkontexts. Trotz des subversiven Potentials, den die Umdeutung der gegebenen Situationsstruktur beinhaltet, erfahren die Projektteilnehmenden dabei eine soziale Würdigung, seitens der anderen Projektteilnehmenden wie auch seitens der Theaterpädagogin und der Kameraleute, die dem Geschehen durch ihre konstante Zuschauerrolle und Foto- bzw. Videodokumentation soziale Relevanz zuschreiben. Dies verweist wiederum auf eine kulturelle Form des sozialen Miteinanders innerhalb des projektbezogenen wie auch schulischen Kontexts, die selbstbestimmten Gestaltungsinitiativen einen zentralen Stellenwert beimisst und die Aneignung und Gestaltung eines situativ entstandenen Freiraums nicht nur ermöglicht, sondern sogar befördert.
Dass und wie die Projektteilnehmenden diesen Freiraum nutzen, nämlich indem sie auf bekannte Inhalte sowie die situations- und projektbezogene Angebotsstruktur in selbstbestimmter Weise zurückgreifen, sich diese zu eigen machen und spontan in eine eigene Struktur – das ‚moderierte Programm‘ – und damit in etwas Neues transformieren, ist letztlich als Ausdruck eines Prozesses zu werten, der zeigt, „wie die Gruppe laufen lernt“ (Langmaack/Braune-Krickau 2010) und sich dafür im gleichen Zug gegenüber relevanten Personen erkenntlich zeigt.
Falltranszendierende Erkenntnisse
Die Analyse des ausgewählten Ereignisses ermöglicht Erkenntnisse über Potentiale theaterpädagogischer Projektarbeit, die weit über die Theateraufführung als Projektergebnis hinausgehen. Und auch wenn es sich letztlich um einen Glücksfall handelt, dass ein solches Ereignis innerhalb des untersuchten Projekts überhaupt zustande kam, aufgezeichnet und untersucht werden konnte, zeigt die Untersuchung unabhängig von ihrer Fallspezifik auf, dass Theaterprojekte einen Überschuss an sozialer Bedeutung produzieren, also jenseits der produktorientierten Theaterarbeit weitreichende Konsequenzen für die Beteiligten mit sich bringen. Dabei ist von einer starken Relevanz vergesellschaftungsspezifischer Aspekte auszugehen, die sich – neben der Theaterarbeit im engeren Sinne – aus der Projektstruktur, aber auch aus dem jeweiligen organisationalen Kontext ergeben.
Anhand des untersuchten Ereignisses lässt sich beispielhaft aufzeigen, unter welchen Bedingungen innerhalb eines theaterpädagogischen Projekts ein selbstbestimmter Aneignungs- und (Selbst-)Gestaltungsprozess in Gang gesetzt werden kann. Unter der Prämisse, dass es sich hierbei um ein anzustrebendes (theater-)pädagogisches Ziel handelt, stellt sich nun die Frage, welche Erkenntnisse sich aus der fallspezifischen Analyse für die theaterpädagogische Projektarbeit im Allgemeinen ableiten lassen.
Im gegebenen Fall hat sich unter anderem gezeigt, welche Potentiale tänzerisch-musikalische Ausdrucksformen gegenüber sprachlichen Ausdrucksformen aufweisen. Eine mögliche Erkenntnis, die sich hieraus für zukünftige Projekte ableiten ließe und von der Theaterpädagogin während des Geschehens selbst formuliert wird, könnte sein, anstelle einer textorientierten Produktion wie ‚Robin Hood‘ ein ‚ABBA-Stück‘ auf die Bühne zu bringen. Auf diese Weise könnten Ausdruckspotentiale von den Projektteilnehmenden eingebracht werden, die bei einer textorientierten Theaterproduktion tendenziell unberücksichtigt bleiben.
Eine Schwerpunktverlagerung von sprachlichen zu tänzerisch-musikalischen Ausdrucksformen scheint gerade bei Theaterprojekten in kulturell diversen Kontexten, bei denen davon auszugehen ist, dass die sprachlichen Kompetenzen innerhalb der Gruppe aufgrund ihrer heterogenen Zusammensetzung sehr unterschiedlich ausgeprägt sind, zumindest einer Überlegung wert. Allerdings bleibt bei einer solchen Überlegung die Vielfalt an konkreten Umsetzungsmöglichkeiten textorientierter Theaterarbeit wie auch die Tatsache unberücksichtigt, dass die besondere Qualität des untersuchten Ereignisses in der selbstbestimmten Aneignung und Gestaltung eines ungeplant entstandenen Freiraums begründet liegt. Eine Änderung der Theaterform kann dabei nicht als Garant für das Zustandekommen vergleichbarer Aneignungs- und Gestaltungsprozesse betrachtet werden.
Freiräume schaffen für selbstbestimmte Aneignungs- und Gestaltungsprozesse
Stattdessen erscheint es mir deutlich ergiebiger darüber nachzudenken, wie innerhalb theaterpädagogischer Projekte Freiräume geschaffen werden können, die selbstbestimmte Aneignungs- und Gestaltungsprozesse nicht nur ermöglichen, sondern sogar befördern. Dabei gilt es, mit dem didaktischen Dilemma umzugehen, dass eine für die Teilnehmenden erkennbare, pädagogisch-didaktische Gestaltung von Freiräumen bereits zu einer Einschränkung derselben führt. Im Folgenden möchte ich daher drei verschiedene Ansatzpunkte vorschlagen, wie in jeweils unterschiedlicher Anbindung an die stückbezogene Theaterarbeit Gestaltungsräume mit unterschiedlichen Freiheitsgraden geschaffen werden können:
- Projektgebundene Gestaltungsmöglichkeiten:
Innerhalb der konkreten Theaterarbeit können Gestaltungsmöglichkeiten dadurch geschaffen werden, dass theatrale Recherchen und/oder spielerische Verfahren als methodisch-didaktische Grundlagen im theaterpädagogischen Prozess genutzt werden. Denn diese bilden einen Rahmen, der die Teilnehmenden als Gestaltende ins Zentrum stellt und auf ihre spezifischen Ausdrucksqualitäten baut. Je nach Zielsetzung eines Projekts und künstlerisch-pädagogischem Grundverständnis können entweder konzeptionelle Überlegungen der Spielleitung oder die spielerische Suche der Teilnehmenden nach theatralen Ausdrucksmöglichkeiten im Vordergrund stehen. Gerade in künstlerischen Prozessen, die auf Partizipation der Akteur*innen bauen, wie es in theaterpädagogischen Projekten in der Regel der Fall ist, ist von einer engen Verflechtung beider Aspekte auszugehen, wobei konzeptionelle Überlegungen dahingehend gewendet werden, spielerische Suchprozesse und damit einhergehende Erfahrungen zu ermöglichen (vgl. Sack 2011).
- Open-Stage-Formate:
Außerdem können durch sog. ‚Open-Stage‘-Formate Gelegenheiten zur selbstbestimmten Ausdrucksgestaltung geboten werden. Hierbei handelt es sich um offene Rahmen, die durch selbstbestimmte Gestaltungsinitiativen einzelner Personen oder Gruppen gefüllt werden. Die einzelnen Beiträge können dabei spontan oder vorbereitet sein, durch ein gemeinsames Thema verbunden oder nur durch den gemeinsamen Rahmen der ‚offenen Bühne’ zusammengehalten werden. Durch Open-Stage-Formate können Höhepunkte innerhalb des Projektverlaufs geschaffen werden, die es ermöglichen, den theaterpädagogischen Prozess für individuelle oder gruppenbezogene Gestaltungsinitiativen sowie für Ausdruckspotentiale jenseits eines konkreten, produktorientierten Projektziels zu öffnen.
- Informelle Freiräume:
Schließlich besteht die Möglichkeit, informelle Räume und Situationen an den strukturellen Rändern eines Theaterprojekts zu schaffen. Dabei besteht die Herausforderung, darstellungsbezogene Angebotsstrukturen herzustellen, die zu selbstbestimmten Aneignungs- und Gestaltungsprozessen einladen, ohne diese in ihrem informellen Charakter einzuschränken. Wie die Analyse des ausgewählten Ereignisses gezeigt hat, bieten sich vor allem gegen Ende eines Projekts, wenn Gestaltungskompetenzen und eine stabile Gruppenstruktur etabliert sind, tendenziell geeignete Voraussetzungen für eine Öffnung des theaterpädagogischen Prozesses und die Herstellung von Freiräumen. Zugleich bietet es sich an, darstellungsbezogene Angebotsstrukturen (räumliche Arrangements, Dokumentationsmedien etc.) bereits zu einem früheren Zeitpunkt des Projekts zu etablieren, um eine gewisse Vertrautheit im Umgang mit den strukturellen Möglichkeiten zu gewährleisten.Bei allen drei Ansatzpunkten handelt es sich um interaktive Angebotsstrukturen, die selbstbestimmte Aneignungs- und Gestaltungsprozesse sowie damit verbundene Erfahrungen zwar nicht garantieren, aber durchaus wahrscheinlich machen können. Ob diese Angebotsstrukturen tatsächlich von den Projektteilnehmenden in diesem Sinne genutzt werden (können), hängt letztlich jedoch von einer Vielzahl weiterer Faktoren ab. So spielt sicherlich eine entscheidende Rolle, inwieweit eine kulturelle Form des sozialen Miteinanders innerhalb des projektbezogenen wie auch organisationalen Kontexts gepflegt wird, die selbstbestimmten Aneignungs- und Gestaltungsinitiativen einen zentralen Stellenwert beimisst und diesen auch dann Geltung verschafft, wenn sie den subjektiven Erwartungen an situationsadäquate Ausdrucksformen möglicherweise zuwiderlaufen.