Postdigitales Schultheater: Positionierung im Spannungsfeld von Kulturtechnik und Kulturwandel
Abstract
Digitalisierung, Digitalität oder (Post-)Digitalität sind keine Synonyme, sondern beschreiben unterschiedliche Perspektiven auf den fundamentalen Wandel, der mit digitalen Technologien, Medien und Infrastrukturen einhergeht. Im schulischen Kontext ist dabei eine vorwiegend medienpädagogische Perspektive auf Digitalität vorherrschend. Digitale Bildung wird aus ethischen, erzieherischen und didaktischen Prämissen als kompetenter wie auch bewusster, verantwortungsvoller und reflektiert-kritischer Umgang mit digitalen Medien und Praktiken verstanden. Der Umstand, dass sich das Digitale bereits in Denken, Wahrnehmen, Handeln, Interagieren usw. von Menschen eingeschrieben hat und infolgedessen menschliche Selbst- und Welterfahrungen tiefgreifend verändert, ist im schulischen Kontext noch keine gängige Sicht auf digitale Transformation. Postdigitales Theater in der Schule, resp. postdigitales Schultheater, steht durch seine verschiedenen Bezugsdimensionen an einer spannungsreichen Schnittstelle zweier Perspektiven auf Digitalität: einerseits als Kulturtechnik (bildungspolitische Perspektive) und andererseits als kultureller Prozess und grundlegender Kulturwandel, der sich in und durch Praktiken zeigt (kulturwissenschaftliche Sicht). Die Reflexion bzw. das theatral-performative Befragen digitaler Praktiken und seiner gouvernementalen Logiken sowie das Ausloten einer potentiellen Handlungsfähigkeit (agency) wären eine denkbare Positionierung eines postdigital verstandenen Schultheaters.
Postdigitales Schultheater und seine Bezugsdimensionen
Unter Theater in der Schule, resp. Schultheater, wird eine curricular ausgerichtete Theaterarbeit mit Schüler*innen verstanden, die von Theaterlehrer*innen in verschiedenen Organisationsformen angeboten wird (als Fachunterricht, Wahl[pflicht]fach, Arbeitsgemeinschaft, Profilkurs usw.). Theatrale Angebote im schulischen Kontext von außerschulischen theaterpädagogischen Kooperationspartnern sind explizit nicht gemeint.
Trotz seiner Situierung im institutionalisierten Kontext und den je spezifischen organisationalen, administrativen und curricularen Vorgaben steht Schultheater in weiteren Bezugsdimensionen, die durchaus in einem spannungsvollen Verhältnis zur Institution stehen: Zum einen unterliegt das Fach wie Schule generell durch Digitalisierung einer tiefgreifenden gesellschaftlich-kulturellen Transformationsdynamik, andererseits gehören die gegenwärtigen Schüler*innen einer digital sozialisierten Generation an, deren jugendkulturelle digitale Praktiken Wahrnehmung, Denken, Handeln, Interaktion und Kommunikation, Wissen, Identität und Gemeinschaft verändern. Schließlich nimmt Schultheater als Kunstform durchaus auch Anleihen an zeitgenössischen Kunst- bzw. Theaterpraktiken, insbesondere bei der Post-Internet-Art.
Wenn bisher von kulturellen Praktiken die Rede ist, dann ist mit Reckwitz (2000) zunächst ein bedeutungs- und wissensorientierter Kulturbegriff gemeint, der von folgendem Kulturverständnis ausgeht: Kultur als Dimension kollektiver Sinnsysteme, die in Form von Wissensordnungen handlungsleitend wirken und die zugleich als Formgefüge aus sozialen Praktiken hervorgehen und in sozialen Praktiken tradiert und transformiert werden. Demnach ist die Welt geordnet, geregelt, sinnstrukturiert und bedeutungshaft, muss aber durch Handlung (Praktik) immer wieder hervorgebracht und vollzogen werden, um strukturierend wirken zu können. Dieser bedeutungs- und wissensorientierte Kulturbegriff ist nach Reckwitz (2017) durchaus in der sozialen Logik des Allgemeinen begründet, wo im Sinne der Enkulturationsfunktion von Schule (Fend 2008) durch Curricula das zu vermittelnde und sich anzueignende Wissen, die kulturellen Praktiken und Werte einem verbindlichen und normierenden Kanon folgen und zunächst tradierend und kulturell stabilisierend wirken. Der Grundzug der sozialen Logik des Allgemeinen zeigt sich in der „Systematisierung der Welt in Form von Standardisierung, Formalisierung und Generalisierung“ (Reckwitz 2017:33) und in der Etablierung von institutionalisierten Gatekeepern der Kultur wie z.B. bei diversen Bildungseinrichtungen.
Durch die „Technologien des digitalen Computernetzes“ (a.a.O.:226) kommt es zu einem Strukturwandel der technologischen Systeme hin zu Digitalisierung, Computerisierung und Vernetzung. Aufgrund der Ubiquität digitaler Technologie und der damit global einhergehenden user-content-basierten und Community-organisierten Praktiken ist für Reckwitz ein bedeutungs- und wissensorientierter Kulturbegriff nicht mehr hinreichend und muss durch einen wertorientierten Kulturbegriff ersetzt bzw. erweitert werden. In einer spätmodernen Kultur der Digitalität (Stalder 2016) entsteht ein kultureller Raum, der „übervoll, plural und in ständiger Veränderung begriffen ist und das Strukturmodell einer allgemeingültigen Kultur sprengt“ (Reckwitz 2017:243).
So bildet der technologische Strukturwandel des Sozialen auf der Hintergrundstruktur des Allgemeinen die Infrastruktur für Besonderheiten (Singularitäten) aus. „Der technologische Komplex aus Computern, Digitalität und Internet ermöglicht und erzwingt eine fortdauernde Fabrikation von Subjekten, Objekten und Kollektiven als einzigartige“ (a.a.O.:227). Somit geht es nicht mehr um Standardisierung, Formalisierung und Generalisierung, auch nicht mehr ausschließlich um gesellschaftlichen Nutzen und Funktion. Vielmehr geht es bei Subjekten, Objekten und Kollektiven um Valorisierung, Entvalorisierung und Affizierung, um Wertzuschreibung bzw. Aberkennung von Wert und affektiver Aufladung durch Praktiken des Beobachtens, Bewertens, Hervorbringens und Aneignens. Gemäß eines wertorientierten Kulturbegriffs besteht der Wert von Kultureinheiten nicht mehr darin, dass ein autorisierter Gatekeeper (z.B. Bildungsinstitutionen) sie für bewahrenswert hält und einen allgemeinen und objektiven Wert feststellt, sondern dass sie den Teilnehmern selbst wertvoll sind. „Kultur ist dort, wo gesellschaftlich Wert zugeschrieben wird“ (a.a.O.:79).
Im schulischen Kontext überlagen sich die soziale Logik des Allgemeinen und des Besonderen und verdeutlichen das Spannungsfeld zwischen Tradierung und Transformation von Kultur in einer postdigitalen Gesellschaft.
Digitalisierung vs. (Post-)Digitalität: Ein diffuses semantisches Feld
Digitalisierung als in erster Linie technischer Prozess medialer Übersetzung, d.h. als Übertragung analoger Inhalte in digitale Binärcodierungen, hat im Digitalisierungsdiskurs eine enorme semantische Ausweitung erfahren (vgl. Dander 2020). Drei Primate lassen sich dabei ausmachen: das Primat des Technischen (digital-technologische Ausstattungen und Infrastrukturen), das Primat der Kultur (Digitalisierung als globaler und transkultureller Prozess bzw. Kulturwandel) und das Primat des Ökonomischen (digitale Praktiken und deren ökonomisch-kapitalistische Zweckbestimmungen).
Durch die Ubiquität digitaler Technologien, Medien und Infrastrukturen und durch deren komplexes Zusammenspiel mit sozialen und kulturellen Umwelten verweist der Terminus Postdigitalität auf den Umstand, dass digitale Infrastrukturen schon so weit ausgebaut sind, dass die durch sie etablierten Praktiken im Alltag relevant werden und auf nichtdigitale Praktiken zurückwirken (vgl. Unterberg/Jörissen 2021). Das Präfix „post“ wie auch das Suffix „-tät“ markieren den kulturellen und gesellschaftlichen Zustand, in dem digitale Technologien und Infrastrukturen unhintergehbarer Bestandteil des Alltags sind. Die nahezu flächendeckende Geräteausstattung für Online-Anwendungen, resp. Handy und Smartphone, führt gemäß der Calmbach-Studie (2016) dazu, dass die sog. Digital Natives die erste Generation von Jugendlichen in Deutschland sind, die das Internet nicht nur selbstverständlich nutzt, sondern auch darin lebt (Calmbach et al. 2016:172). Online-Sein wird nicht mehr als technisch hergestellte bzw. herzustellende Verbindung betrachtet (niemand „geht mehr ins Internet“). Online-Sein ist eine Art Grundversorgung, um mit der Welt verbunden zu sein, und notwendig für die Navigation in einer globalisierten Welt, auch wenn es nach wie vor milieubedingte Unterschiede in der Zugänglichkeit gibt. Für die gegenwärtige Generation von Schülerinnen und Schülern sind analoge wie digitale (künstlerische) Praktiken selbstverständlich, eine explizite Differenzierung nicht mehr relevant. Hybride Sozialisation nennt Hugger (2014) dies, Stalder (2018) nennt dies „Digital Condition“. Die Unterscheidung von analog/digital, alten/neuen Medien oder online/offline ist obsolet (vgl. Cramer 2015). Nach Floridi (2015) sind wir alle ständig „On-life“.
Hinsichtlich des Strukturwandels der Moderne, den Reckwitz (2017) beschreibt, kommt es in der Postdigitalität ebenso zu Verschiebungen. In der Logik des Allgemeinen gab es folgende Kennzeichen für eine Allgemeinheit der Kultur: eine zunehmende Orientierung an Populärkultur durch Film, Rundfunk und Fernsehen und damit eine Ausweitung des Kulturbegriffs gegenüber der vormals normativ gesetzten Hochkultur. Darüber hinaus stand einer geringeren Anzahl an Kulturproduzenten eine große Menge des Publikums gegenüber. Kulturpraktiken waren kontextualisiert (Kinosaal, Wohnzimmer usw.) und Kulturobjekte waren stabil. In der Logik des Besonderen kommt es zu einer Enthierarchisierung und einer Entkontextualisierung der Kulturformate. Über digitale Infrastrukturen und Technologien sind heterogene Kulturformate (Bilder, Videos, Texte, Nachrichten, Audiofiles etc.) über den gleichen Kanal (z.B. Smartphone) zugänglich. Jede*r wird zum potentiellen Kulturproduzenten durch Praktiken des Beobachtens, Bewertens, Hervorbringens und Aneignens. Zugänglichkeit und Verfügbarkeit bedingen eine Entkontextualisierung, wenn z.B. digitalisierte Bildbestände der Museen frei im Netz verfügbar sind. Ebenso muss man nicht mehr zwangsläufig einen Kinosaal oder ein Theatergebäude besuchen, um einer Aufführung beizuwohnen.
Dimension Schule und Digitalisierung: Die bildungspolitische Perspektive
Postdigitales Schultheater unterliegt durch die curriculare Rahmung grundsätzlich auch der bildungspolitischen Perspektive auf Digitalisierung. Allerdings artikuliert sich im Positionspapier der KMK Bildung in der digitalen Welt (2016) ein Verständnis von Subjekt, das als Agens dazu befähigt werden soll, sich (digitale) Welt anzueignen und sich dadurch zu bilden. „Digitale Bildung“ wird als eine weitere Kulturtechnik verstanden, die der aktuellen Zeit Rechnung tragen soll:
Durch die Digitalisierung entwickelt sich eine neue Kulturtechnik [Herv. Autorin] – der kompetente Umgang [Herv. Autorin] mit digitalen Medien -, die ihrerseits die traditionellen Kulturtechniken Lesen, Schreiben und Rechnen ergänzt und verändert [Herv.Autorin]. Die sich ständig erweiternde Verfügbarkeit von digitalen Bildungsinhalten ermöglicht zunehmend auch die Übernahme von Verantwortung zur Planung und Gestaltung der persönlichen Lernziele und Lernwege durch die Lernenden. Dadurch werden grundlegende Kompetenzen [Herv.Autorin] entwickelt, die für das an Bedeutung gewinnende lebenslange Lernen erforderlich sind. (KMK 2016:13)
Neben Lesen, Schreiben und Rechnen wird Digitalisierung als vierte Kulturtechnik verstanden, die einen angemessen-reflektierten Einsatz und Umgang mit digitalen Medien impliziert und deren Beherrschung evoziert. Vorrangig geht es um einen Kompetenzerwerb und einen verantwortungsvollen und individuellen wie individualisierbaren Umgang mit digitalen Medien so wie es vormals um einen kompetenten Umgang mit Heften, Tafel, Büchern, Landkarten, Modellen usw. ging.
Diese Vorstellung von Digitalisierung (im schulischen Kontext wird konsequent von Digitalisierung gesprochen) mündet in den Dimensionen der Medienpädagogik, resp. der Medienkompetenz, Mediendidaktik und Medienerziehung. Durch diese vorwiegend technizistische und kompetenzorientierte Sichtweise und durch das Postulieren eines autonomen Subjekts, das sich digitaler Medien bedient, werden aus einem prä-digitalen Verständnis heraus die folgenreichen und gravierenden Verschiebungen bzgl. Subjektwerdung und Aneigung von Welt nicht artikuliert, vielleicht auch nicht gesehen. Denn wenn das Digitale nicht wesentlich gegenständlich ist (im Sinne einer Medienkompetenz), sondern wesentlich infrastrukturell, dann sind digitale Medien konstitutiver Bestandteil einer Kultur der Digitalität. Als Technologien der Relationalität (Stalder 2016) organisieren, erzeugen und formieren sie hochkomplexe Verknüpfungen von menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren: Von Hardware, Software, Codes, Algorithmen, Daten, Interfaces, Netzwerken, Infrastrukturen, Protokollen und Datenformaten. Dieses Zusammenspiel geht somit weit über die alleinige Nutzung digitaler Medien hinaus. Eine Kultur der Digitalität ist ein Bedingungsgefüge von kulturellen, ästhetischen und medialen Aspekten (vgl. Jörissen 2016), das Bedingungen von Wahrnehmung und Wahrnehmbarem, ästhetische Erscheinungsformen und Wissensordnungen tangiert. Es verändert darüber hinaus auch das Gefüge von Subjektivität und Sozialität. Das Subjekt bedient sich nicht in instrumenteller Weise digitaler Medien, sondern es ist den machtförmigen und ökonomisch-kapitalistischen Logiken unterworfen (z.B. den Aufmerksamkeitslogiken und den zugrundeliegenden Praktiken auf sozial-digitalen Plattformen) und unterwirft sich diesen Logiken in und durch Praktiken. Es ist subiectum und agens (vgl. Butler 2017) gleichermaßen. Stalder (2016) nennt Referentialität, Gemeinschaftlichkeit und Algorithmizität als die drei zentralen Dimensionen einer Kultur der Digitalität. Alle sind mit machtpolitischen Dimensionen gepaart, so dass der Einzelne handelnd und unterworfen zugleich ist. Während er algorithmisierte Prozesse aufgrund ihrer Komplexität weder einsehen noch verstehen kann, ist er ihnen im Handeln unterworfen. Auch die basalen Akte der Bedeutungsproduktion und Selbstkonstitution durch Prozesse des Auswählens und Zusammenführens (Referentialität) oszillieren zwischen agens und subiectum. Und in Räumen der Verhandlung (Gemeinschaftlichkeit) wirken Dynamiken der Netzwerkmacht, der Freiwilligkeit und des Zwanges, der Autonomie und der Fremdbestimmung. So unterliegt beispielsweise das Bemühen um Sichtbarkeit im Netz einer Aufmerksamkeitslogik, die durchaus ökonomischen Zwecken folgt, aber auch machtförmig wirkt, wenn Algorithmen formend und performativ in die Welt eingreifen und bestimmen, was wir sehen und was wir nicht sehen und welche Teile des Internets für uns überhaupt sichtbar sind (vgl. Unterberg/Jörissen 2021:33). Machtförmigkeit liegt auch vor, wenn durch die digitalen Endgeräte user-content-basierte Praktiken (Liken, Disliken, Comments, Profilerstellung etc.) nicht nur ermöglicht, sondern geradezu gefordert werden. „Being invisible can be deadly“- dieses Motto der Künstlerin Hito Steyerl mündet geradezu in einem Kreativitätsimperativ (Reckwitz), der Aufmerksamkeitsökonomien unterliegt.
Diese prä-digitale, aus der Buchkultur stammende und sich (noch) an der Buchkultur orientierende Sichtweise, die Schule nach Böhme (2006) als „typographische Provinz“ etikettiert, zeichnet sich durch vollkommen gegensätzliche und zu einem großen Teil auch inkompatible Strukturmerkmale im Vergleich zu Strukturen der Digitalität aus. In Bezug auf Raum, Zeit, Wissensgenerierung und Wissensformation, sozialen Praktiken und Gemeinschaft herrschen Differenzen: Räumlich-zeitliche Begrenzungen (z.B. Separierung von Räumen und synchronisiertes Zeitmanagement), Hierarchisierung bei der Wissensvermittlung (Topdown-Lernprozesse inkl. klassischer Bildungskonstellation von Lehren, Lernen und Wissen), klar definierte soziale Settings (Klassen- und Schulgemeinschaft) und Vergemeinschaftungen (jahrgangsgleiche Peergroups) konfligieren zunehmend mit nicht-linearen, enthierarchisierten, eigendynamischen, partizipativen und emergenten Effekten einer digitalen Netzwerklogik, an der die aktuelle Schülergeneration außerhalb des schulischen Kontextes teilhat.
Dimension Zeitgenössische Kunst- und Theaterpraktiken: Von Post-digital zur Post-Internet-Art
In den zeitgenössischen Praktiken der Bildenden Kunst zeigt sich eine Hybridisierung (vgl. Klein 2021): Während der Begriff Post-Digital zu Beginn der 2000er Jahre eine kritisch-distanzierte Haltung gegenüber den neuen technologischen Entwicklungen impliziert und die Möglichkeiten des subversiven Einsatzes von Technik mit ästhetischen Mitteln auslotet (z.B. das Ausstellen von Fehlern, Brüchen, Glitches, bildlich-akustisch wahrnehmbaren Störungen), erfolgt ein Jahrzehnt später ein Bedeutungswandel. Nun werden Digitalität und Kultur als ineinander verflochten gedacht.
Ab den 2010er Jahren sind post-digitale Praktiken eine Drehscheibe für zeitgenössische Kunst, die Informationstechnologien, politische und gesellschaftliche Komplexe kritisch reflektieren, beispielsweise in Verfahrensweisen des Remix und Cultural Hacking (siehe: Jörissen/Unterberg „Digitale Kulturelle Bildung: Bildungstheoretische Gedanken zum Potenzial Kultureller Bildung in Zeiten der Digitalisierung“). Nach Reckwitz herrscht im digitalen Netz eine Kultur der Rekombination (vgl. Reckwitz 2017:242), wodurch das Neue in der Rekombination (remix) und Rekontextualisierung (mash up) von ubiquitär verfügbaren Texten, Bildern, Videos, Audiofiles etc. entsteht.
Zentraler Referenzpunkt ist hierbei das Internet und der Begriff der Post-Internet-Art (der Begriff stammt von der Künstlerin Marisa Olsen). Torsten Meyer (2016) skizziert anhand fünf programmatischer Kategorien, was Post-Internet-Art auszeichnet: Zum einen eine Kunst nach dem Internet (Post Internet), d.h. eine Kunst, die das Internet (und mit Internet sind hierbei die Vernetzung von Computern und Netzwerklogiken impliziert, nicht das World Wide Web als Internetdienst) als Ausgangspunkt künstlerischer Praxis nimmt und/oder nach Art des Internets funktioniert, d.h. nach einer Internet-Erfahrung und/oder nach bzw. in der Ästhetik des Internets. Es sind keine speziellen Computerkenntnisse mehr notwendig, um digitale Technologien zu nutzen. Vielmehr sind sie mit Alltagswissen und Medienpraktiken verschränkt und notwendig für die Navigation in der Welt. Das Internet ist zu einer hoch kommerzialisierten und gouvernementalen Kulturlandschaft avanciert.
Zum anderen sind Partizipation, Cultural Hacking und Arbeit in/mit Netzwerklogiken Teil kulturell-künstlerischer Praxis (im Sinne von Post Production, Post Critics, Post Nature). Im Zentrum stehen dabei nicht technologische Innovationen, sondern das bewusste Ausstellen von Digitalität und ihrer soziokulturellen Abhängigkeiten, Wirkungen und Machtstrukturen, vor allem in der Praxis von Post Critics. Entscheidend dabei ist, nicht eine Kritik verbalsprachlich zu formulieren und somit auf eine Subjekt-Objekt-Dichotomie zu verweisen, wo ein vorgängiges Subjekt sich Welt aneignet bzw. sich dazu kritisch in Beziehung setzt. Auch geht es nicht um einen symbolischen Widerstand. Vielmehr ist durch das Eingebundensein des Subjekts in digitale Umwelten, durch sein „Being in“ in kulturellen Transformationsprozessen, eine Distanznahme im herkömmlichen Sinne nicht mehr denkbar. Es braucht nach Meyer (2016) den echten Eingriff ins Reale, es geht um wirklich wirkende Experimente, die sich primär performativ äußern. Die Tradition der Kulturkritik als Reflexionsmodus der Moderne habe in der Postdigitalität ausgedient.
Schließlich weist sich Post-Internet-Art als Entgrenzung der Künste aus (Post Art), bei der sich in einer kulturell globalisierten Welt Praktiken der Bedeutungsproduktion zwischen Künsten, Moral, Wissenschaft, Recht und Politik ausnehmen. Die Grenze zwischen Kunst und Nichtkunst, zwischen künstlerischen und sozialen Praktiken wird dabei destabilisiert, andererseits vernetzen sich die Künste untereinander. Eurozentrische Kulturräume des White oder Black Cube diffundieren hin zu einem „Global Contemporary“ (Meyer 2016:244).
Eine Entgrenzung der Künste bzw. ein Diffundieren der Künste ist auch im gegenwärtigen professionellen Theater zu beobachten, dessen Neubestimmung nicht durch die Divergenz einer Pluralität der Stile auszumachen ist, sondern vielmehr in den divergierenden Auffassungen darüber zum Tragen kommt, „was Theater ist und was Theater der Gesellschaft ist“ (Otto 2014:48). Das institutionalisierte Theater deckt sich immer weniger mit einer Kunst, die zunehmend anderswo stattfindet – nämlich außerhalb der Architekturen (d.h. der Theatergebäude), auf und in öffentlichen und medialen Spielplätzen, Parallelwelten und Versammlungsräumen (vgl. ebd.). De-professionalisierung, De-spektualisierung und De-limitierung ist die Trias, die diese Neuerungen markiert. Während bei ersterer ein zunehmender Einsatz nichtprofessioneller Spieler*innen gemeint ist (z.B. die Expert*innen des Alltags bei Rimini-Protokoll), zielen De-spektualisierung und De-Limitierung auf eine Aufhebung des Raum-Zeit-Kontinuums: Einerseits durch eine Aufhebung der Form der Sichtbarkeit durch die Anordnung von Bühne und Zuschauerraum (Delimitierung des Raums). Andererseits durch die Absage bzw. Erweiterung der Liveness (Delimitierung der Zeit).
Nach Balme (2021) gibt es ein großes Nachdenken über die Zukunft des Theaters, das durch seine Verortung in einer zunehmend globalisierten und digitalisierten Welt über sein Selbstverständnis neu bzw. anders nachdenken muss. Allein der Anspruch, der der sozialen Logik des Allgemeinen (Reckwitz 2017) folgt und von einem normativen Stücke-Autoren-Kanon und somit von einem zu vermittelnden kulturellen Erbe ausgeht, wird generell zu definieren sein, was unter cultural heritage angesichts einer sozialen Logik des Besonderen, aber auch angesichts von Postkolonialismus und Postmigration zu verstehen ist.
Ebenso stellt sich angesichts einer vernetzten Welt die Frage, wo die Arenen des Austauschs, des Diskurses und der Verhandlung darüber, wie man künftig leben will und kann, zu finden sind.
Diese Entgrenzungen und Verschiebungen in den Kunstpraktiken, die im Fall des zeitgenössischen Theaters auch mit einer Neubefragung seines Stellenwerts und Selbstverständnisses einhergehen, nehmen aus einer kulturwissenschaftlichen Perspektive Praktiken und deren zugrundeliegenden Wissensordnungen, Artikulationsformen und Wirkmechanismen in den Fokus. Jenseits reiner Reproduktion und Übersetzung digitaler Praktiken in den physischen Raum liegt das (Bildungs-) und subversive Potenzial in deren Widerständigkeit, in dem Sich-dazu-in-ein-Verhältnis-Setzen, in einem Hinterfragen und einem Erkunden neuer performativer Möglichkeitsräume in Bezug auf Sozialität, Materialität, Medialität und Kulturalität (vgl. Unterberg/Jörissen 2021:37-39).
Als konkretes Beispiel für Post Critics soll auf zwei Kollektive verwiesen werden: zum einen auf das Performancekollektiv The Agency, zum anderen auf das Medientheaterkollektiv MachinaEx. Mit ihrem hyperaffirmativen Duktus experimentiert The Agency auf immersive Weise mit den Erscheinungsformen des Neoliberalismus. Es geht dabei um das Ausloten subversiver Handlungsmöglichkeiten unter den Bedingungen des Post-Digitalen. Neoliberal konnotierte Formate und deren ästhetische Strategien werden übersteigert, Technologien des Selbst überdreht, das utopische Potenzial aus queer-feministischer Perspektive gesucht (vgl. The Agency-Homepage). Spekulative Forschungsfragen (z.B. Wie kann Subversion aussehen?) sind der Anstoß für performatives Suchen nach alternativen Zugängen und Handlungsmöglichkeiten.
Einen anderen Zugang wählt MachinaEx. Es steht für Real Life Game Theater und forscht an der Schnittstelle von Theater und Computerspiel. In den immersiven Theaterstücken, die zugleich begehbare Computerspiele sind, werden digitale Technologien mit Mitteln des klassischen Illusionstheaters kombiniert. So kann die Reflexion des eigenen Tuns und Handelns in Gang gebracht werden, wie z.B. die eigene allzu große Bereitschaft, sich durch den Wettkampfgedanken steuern und emotionalisieren zu lassen, im Stück Endgame. Die ludische Rahmung von Endgame offeriert ein Netzwerkverhalten, das physisch sicht- und erlebbar wird und durchaus zu irritieren vermag.
Fazit: Postdigitales Schultheater als Reflexionsraum von Postdigitalität
Aus den bisher skizzierten Bezugsdimensionen, die postdigitales Theater an der Schule tangieren, lässt sich unschwer erkennen, dass sich das Bildungspotenzial nicht in einem Bedienen und bühnenwirksamen Einsatz digitaler Endgeräte (z.B. von Beamer, Livekamera, Smartphone etc.) auf der Bühne erschöpfen kann. Ebenso greift eine bloße Übersetzung des sog. Analogen ins „Digitale“ zu kurz (z.B. Whatsapp-Nachricht statt Brief). All dies entspräche einer rein medienkompetenz- und mediendidaktischen Orientierung und wirft zuweilen zu Recht die Frage auf, ob allein schon eine Flut an digitalen Medien das Theater zu einem postdigitalen Theater macht.
Postdigitalität als kultureller Prozess, der sich in und durch Praktiken zeigt, die sich in Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsmuster eingeschrieben haben, wäre vielmehr als Reflexions- und Erfahrungsraum mit theatral-performativen Mitteln zu verstehen. Ackermann (2020) argumentiert aus dem Zustand der Postdigitalität heraus, dass das Digitale bereits so selbstverständlich, vertraut und im Alltag angekommen ist, um ausreichend Potential für kritische Reflexion zu bieten und Fragen nach Überwachung und Kontrolle, Datafizierung des Menschen, Immersion und Distanz theatral (z.B. über Immersion/Interaktion) zu verhandeln.
Diese Perspektive ist im schulischen Kontext bei einem Verständnis von Digitalisierung als Kulturtechnik sicherlich ungewöhnlich. Eine postdigitale Gegenwart impliziert die Notwendigkeit, innerhalb von Strukturen monopolisierter Plattformen, von Aufmerksamkeitsökonomien, flächendeckender Datenerfassung und unüberschaubarer, bedeutungserzeugender Aussagenkomplexe zu agieren (vgl. Unterberg/Jörissen 2021). Drängender wird dabei die Frage sein, wie man in einer Kultur der Digitalität agency, die Fähigkeit zum potentiell widerständigen Handeln, (wieder)gewinnen kann. Kritik 2.0 geht dabei – wie die Beispiele der Performance-Kollektive The Agency und MachinaEx verdeutlichen - nicht mehr von einer kantschen Distanznahme zum Objekt (Subjekt-Objekt-Dichotomie) aus, bei der sich das Subjekt digitaler Praktiken bedient oder diese verbalsprachlich kritisiert. Die Praktiken Post Critics oder Cultural Hacking sehen das Subjekt gleichermaßen als Handelndes (agens) und Unterworfenes (subiectum) an. Das Unterworfensein unter machtförmige und ökonomisch-kapitalistische Logiken sozial-digitaler Plattformen kann zu einem theatral-performativen Befragen beispielsweise von Subjektkonstitutionen einladen: Wie konstituieren soziale und kulturelle (Alltags)Praktiken Identität/Subjekt? Oder radikaler: Was bedeutet es, in einer immer stärker von algorithmischen Logiken […] abhängigen Kultur Subjekt zu sein? (vgl. Jörissen 2018).Und diese tentativen Suchbewegungen, die eine rein kompetenzorientierte Ausrichtung des Theaterunterrichts übersteigt, könnte von Netzwerklogiken ausgehend eine schulische wie auch außerschulische Community in diese lösungsorientierte Befragung mit einbeziehen. Somit etablierte sich Theater in der Schule (wieder oder überhaupt) als Reflexions- und Aushandlungsraum für Praktiken und Diskurse, für kulturell Tradiertes und kulturell Hybrides, oder anders gesagt: Postdigitales Theater in der Schule würde gleichsam (wieder oder überhaupt) zur Arena mit diskursiven, agonalen, performativen, spielerischen und kritischen Dimensionen (siehe Zirfas „Die Arena der Kulturellen Bildung. Ein analytisches Modell“). Die Frage nach dem Stellenwert des professionellen Theaters angesichts einer globalisierten und digitalisierten Welt und das Reformulieren eines leiblich-physischen Versammlungsraums, in dem Praktiken und Diskurse zur Disposition stehen, hinterfragt werden und neu bzw. anders probiert werden – dieser reformulierte Raum könnte auch eine Perspektive für postdigtitales Schultheater in einer globalisierten und digitalisierten Welt werden.