Postdigitales Schultheater: Eine Kartografie zentraler Akteur*innen des Diskurses ‹Theater und Digitalität›
Abstract
Der vorliegende Beitrag dient als Grundlage zur Theoretisierung und Konzeptualisierung des ‹Postdigitalen Schultheaters›. Ausgangspunkt sind theoretische Überlegungen, die den Postdigitalitätsbegriff aus kultur- und medienwissenschaftlicher Perspektive mit aktueller Forschung zur Digitalisierung in der Kulturellen Bildung und schlussendlich mit zeitgenössischen Konzeptualisierungen von theaterpädagogischer (Schul-)Praxis verbinden. Als wichtiger Einflussfaktor für das Postdigitale Schultheater werden dabei u. a. digitale Transformationsprozesse innerhalb der Theaterkunst (als zentrale Bezugskunst des Schultheaters) im Zuge der ‹Postdigital Condition› identifiziert. Um diese Transformationsprozesse zu ergründen, wurden zwei zentrale Forschungsfragen aufgestellt: (1) ‹Wer spricht wie über Theater und Digitalität?› und (2) ‹Welche Implikationen erschließen sich daraus für das Postdigitale Schultheater?›. Die Analyse des aktuellen Diskurses um ‹Theater und Digitalität› ergab, dass sich vier idealtypische Positionen bestimmen lassen, die insbesondere durch ihre Verortung des ‹Digitalen› im Theater zu unterscheiden sind. Das Digitale ist demnach entweder im Spiel mit Medientechnologien auf der Bühne, in der Lebenswelt zeitgenössischer Theatermachender als ‹Digital Natives›, in den strukturellen Beschaffenheiten des Internets oder in der Ästhetik einer theatralen ‹Post-Internet-Art› zu finden. Bezüglich der theaterpädagogischen (Schul-)Praxis wurde aus diesen Positionen jeweils eine zugespitzte und diskussionsanregende These für das Postdigitale Schultheater abgeleitet.
‹Postdigital Theatre in Education›. A Cartography of Central Actors within the Discourse ‹Theatre and Digitality›
This article serves as a foundation for theorization and conceptualization of the ‹Postdigital Theatre in Education›. It starts with a theoretical reflection to relate the term ‹postdigital› from cultural and media studies perspectives to current research on digitalization in arts education, and finally to contemporary conceptualizations of theatre pedagogical practice in schools. Digital transformation processes within the performing arts in the context of the ‹postdigital condition› are identified to have significant influence on the Postdigital Theatre in Education. To examine these transformation processes, two central research questions are raised: (1) ‹Who is speaking in what way about theatre and digitality?› and (2) ‹What implications derive for the Postdigital Theatre in Education?› An analysis of the current discourse on ‹theatre and the digitality› showed how four ideal-typical positions can be determined that differ primarily in where they locate ‹digitality› within the performing arts. Digitality therefore can be found either in the performative play with media technologies, in the everyday lives of contemporary theatre practitioners as ‹digital natives›, in the structural conditions of the internet, or the aesthetics of a theatrical ‹post internet art›. To relate back to the theatre pedagogical practice in schools all these positions led to the articulation of four theses for the Postdigital Theatre in Education which lead to further research and discussion in the field.
Dieser Beitrag basiert auf Reflexionen von Sören Jannik Traulsen und Felix Büchner, vorgetragen im Rahmen einer Posterpräsentation auf der 11. Tagung des Netzwerks Forschung Kulturelle Bildung zu „Ästhetik – Digitalität – Macht", März 2021.
Theoretische Überlegungen zum ‹Postdigitalen Schultheater›
Themenschwerpunkte aktueller Fachzeitschriften wie die Zeitschrift für Theaterpädagogik. Theater und Digitalität (2021) und die Zeitschrift Schultheater. theater:digital (2020) weisen darauf hin, dass digitale Transformationsprozesse der Gesellschaft zunehmend Relevanz für (schul-)theaterpädagogische Arbeit bekommen. So prognostizieren Boles und Sting (2021, 3) bezüglich der Bedeutung von Digitalität für Arbeitsfeld und Selbstverständnis von Theaterpädagogik eine
«komplexe Herausforderung, aus der sich inhaltliche, künstlerisch-ästhetische, (theater)pädagogische Aspekte und Fragen ergeben, die wiederum eingebettet sind in aktuelle kultur- und gesellschaftspolitische Entwicklungen».
Im Kontext dieses Diskurses ist der vorliegende Artikel zu verorten, der die Theaterkunst als eine zentrale Bezugskunst des Schultheaters identifiziert und untersucht, wie diese durch gegenwärtige Digitalitätsdiskurse verändert wird. Ziel ist es, den Diskurs ‹Theater und Digitalität› dahingehend zu analysieren, dass dieser für Theorie und Praxis des ‹Postdigitalen Schultheaters› greifbar und diskussionsanregend wird. Der Begriff ‹Postdigitales Schultheater› zielt darauf, Formen des Schultheaters unter den Vorzeichen einer postdigitalen Gesellschaft in den Blick zu nehmen (vgl. Büchner und Traulsen 2021a). Die theoretische Arbeit am ‹Postdigitalen Schultheater› impliziert in diesem Sinne sowohl eine Bestandsaufnahme des gegenwärtigen Schultheaters als auch eine konzeptbildende Perspektive auf das zukünftige Schultheater. Nach einer Bestimmung des Postdigitalen Schultheaters folgt zu diesem Zweck eine Darstellung von vier Positionen im Diskurs Theater und Digitalität, welche in zugespitzten Thesen für das Schultheater resultieren. Diese Thesen sind dabei keine Positionierungen oder Forderungen von uns als Autoren (Anm.: Der vorliegende Beitrag wurde in geteilter Erstautorenschaft verfasst.), sondern abgeleitet aus den vier Diskurspositionen. Ihre Formulierungen sind teils überspitzt, damit sie ein starkes diskussionsanregendes Potenzial innehaben und zu einer Positionierung der Lesenden einladen. (Anm.: Anzumerken ist an dieser Stelle, dass diese Thesen ursprünglich im Rahmen einer Posterpräsentation auf der Fachtagung «Ästhetik – Digitalität – Macht. Neue Forschungsperspektiven im Schnittfeld von kultureller Bildung und Medienpädagogik» (Büchner und Traulsen 2021b) präsentiert worden sind. Die Thesen wurden insbesondere auch für diesen Kontext zugespitzt, um eine lebendige Diskussion des Plenums anzuregen.)
Warum Postdigitalität?
Dem Begriff der ‹Postdigitalität› ist das Verständnis inhärent, dass digitale Transformationsprozesse so weit fortgeschritten sind, dass eine untrennbare Verschränkung mit der nicht-digitalen Lebenswelt besteht. Cramer (2014) betont, dass wir in einer Zeit leben, in der scheinbar dichotome Begriffspaare wie analog/digital oder online/offline aufgrund ihrer komplexen Verwobenheit zur Beschreibung unserer Gesellschaft nicht mehr zutreffend sind. Digitale Medientechnologien werden somit nicht mehr – wie es bspw. dem Begriff der ‹Neuen Medien› innewohnt – als Störung der ‹analogen› Welt verstanden, sondern als Merkmale unseres alltäglichen Lebens. Dem folgend suggeriert die Verwendung des Begriffs weder eine rejizierende noch eine affirmative Haltung gegenüber digitalen Medientechnologien; sie vermittelt vielmehr eine Anerkennung des Zustands einer ‹Postdigital Condition›, welche die wertneutrale Feststellung zulässt, dass Digitalität mittlerweile ein fester Bestandteil des menschlichen Daseins ist. Das Präfix ‹post› behauptet in diesem Sinne nicht, die Digitalität sei vergangen (ähnlich wie das Postkoloniale nicht behauptet, dass Kolonialität nicht mehr existiert), sondern signalisiert jenen gegenwärtigen, digital geprägten allgemeingesellschaftlichen Zustand (Cramer 2014).
Nun könnte man daraus schließen, die Nutzung des Begriffs der Postdigitalität sei hinfällig, weil das menschliche Leben ohnehin unmittelbar mit der Gegenwärtigkeit digitaler Medientechnologien einhergeht – oder anders: Wenn unsere Gesellschaft quasi ausnahmslos postdigital ist, was beschreibt der Begriff dann überhaupt? Allerdings bietet eine explizit postdigitale Perspektive das Potenzial, digitale Transformationsprozesse – vor allem auch in ihrer Unscheinbarkeit – zu fokussieren und kritisch zu betrachten. Kurz: Alles ist postdigital (geprägt), doch die Benennung dessen macht es erst greif- und kritisch verhandelbar. Sie ermöglicht auf diese Weise, neben technologischen Aspekten unserer Gesellschaft insbesondere auch soziotechnische Verflechtungen und Veränderungen auf institutionellen, gesellschaftlichen oder kulturellen Ebenen in den Blick zu nehmen, sowie Dimensionen von Macht, Herrschaft oder Ungleichheit zu reflektieren (Jandrić u. a. 2018). In diesem Sinne wird mit dem Begriff auch eine diskursive Gegenposition zur aktuellen Debatte um erforderliche ‹Digitalisierung› markiert, indem nicht der Prozess einer – häufig von wirtschaftlichen Interessen getriebenen und durch medial prominent vertretene Angstszenarien vor einem internationalen Zurückfallen befeuerten – Technologisierung (Anm.: So z. B. in der Welt: «Rang 17. Das deutsche Zukunftszeugnis fällt ernüchternd aus» (Eckert 2019) und «Wie Deutschland seinen digitalen Rückstand aufholen soll» (Doll und Siems 2019) oder im Spiegel: «Durchgefallen. Digitalisieren» (Böcking 2021).) im Zentrum der Beschäftigung steht.
Postdigital Education
Postdigitale Strukturen und Einflüsse prägen in ihrer Allgegenwärtigkeit das menschliche Dasein in nahezu allen Lebensbereichen (Jandrić u. a. 2018). Zunehmend beschäftigt sich auch die Bildungs- und Schulforschung mit postdigitalen Wirkmechanismen und einer sogenannten ‹Postdigital Education›. Eine logische Folgerung aus der bisherigen Darstellung der Postdigitalität ist, dass die Idee einer Postdigital Education nicht nur technologiebasierte Lehr-Lern-Konzepte (z. B. E-Learning und flipped classroom) inkludiert, sondern auch ‹traditionellen› Unterricht als postdigital begreift, selbst wenn in diesem ein Klima der Digitalitätsrestriktion herrscht, da sowohl Unterrichtsmaterialien als auch soziale Prozesse, in- und ausserhalb einer Schulklasse sowie menschliche Denkweisen durch Digitalität geprägt sind (Fawns 2019). In den Vordergrund einer postdigitalen Bildung rücken dabei, unabhängig von einer Befürwortung oder Ablehnung zunehmender digitaler Transformationprozesse, Fragen nach Verantwortung gegenüber digitalen Infrastrukturen, Inhalten und Kommunikationsformen sowie die Anliegen «zu verstehen, wie […] Technologien wirken und mitzugestalten, wie sie uns als Menschen formen sollen» (Schmidt 2020, 66). Mit Bezug auf die digitale Transformation der schulischen Bildung stellt Macgilchrist (2019) fest, dass diese häufig «sehr techniklastig» geführt werde und Aspekte wie «die Transformation von Lernumgebungen oder ein grundsätzlicher Haltungs- und Kulturwandel» im Diskurs oft vernachlässigt würden. Sie resümiert:
«Wer nur auf die Digitalisierung reagiert, hat eingeschränkte Möglichkeiten und kann nicht viel mehr tun, als didaktische Konzepte zu finden, mit denen man besser unterrichten bzw. mit denen man Kompetenzen für den Umgang mit digitalen Medien besser fördern kann. […] Wer neugestaltet, denkt die Rolle von Schule anders und sieht sich selbst als Teil eines postdigitalen, soziotechnischen Netzwerks, das Entscheidungen über Daten, Umwelt, zwischenmenschliche Beziehungen, Gerechtigkeit, Dekolonisierung, Design, Respekt, Lernaktivitäten, Kommunikation, Architektur, Relationalität und Teilhabe fällt. Wenn es um die Gestaltung von digitalen Technologien in der Schule geht, geht es im Kern auch immer um die allgemeinere Frage, welche Welt mit welcher Technik wir uns wünschen».
Postdigitalität in der Kulturellen Bildung
Ähnlich wie Schmidt (2020) und Macgilchrist (2019) betont insbesondere auch die Kulturelle Bildung kontinuierlich die Notwendigkeit, junge Menschen als aktiv Agierende in postdigitalen Lebenswelten zu stärken. Die Kulturelle Bildung kann nach Schneider (2009) grundlegend dazu beitragen, junge Menschen einerseits in ihrer Persönlichkeitsbildung zu unterstützen und andererseits ein «unverzichtbarer Bildungsort» für den Erwerb von Kompetenzen sein, die eine Auseinandersetzung mit «Bewertungs- und Beurteilungskriterien für das eigene und das Leben anderer» (ebd., 46) ermöglichen.
Die gegenwärtige Forschung zur Kulturellen Bildung im Zusammenhang mit der digitalen Transformation geht davon aus, dass die Postdigital Condition so komplex und multidimensional sei, dass sie rein kognitiv nicht mehr zu durchdringen ist (Jörissen und Unterberg 2019). In Formaten der Kulturellen Bildung läge hingegen die Möglichkeit, die «Digitalisierung im Rahmen ästhetischer Prozesse und Vollzüge umfassender zu erfahren und zu verstehen» (ebd., 8). Konkrete partizipatorische und emanzipatorische Potenziale der Kulturellen Bildung im postdigitalen Kontext sind nach der aktuellen Forschung zur Digitalisierung in der Kulturellen Bildung weitreichend. (Anm.: Das Bundesministerium für Bildung und Forschung fördert unter dem Titel ‹Digitalisierung in der kulturellen Bildung› seit 2017 insgesamt 14 Forschungsprojekte, «die sich durch einen bildungswissenschaftlich fundierten und in den Diskursen kultureller Bildung verankerten interdisziplinären Forschungsansatz auszeichnen und dabei die Auswirkungen des digitalen Wandels auf die kulturelle Bildung auf der Grundlage einschlägiger Theoriebildung […] empirisch untersuchen» (BMBF 2017).) In ihr wird die Chance gesehen, persönlichkeitsbildende Prozesse zu initiieren, gemeinschaftsbildende Dynamiken zu gestalten und im Hinblick auf den Umgang mit digitalen Medientechnologien Impulse zu geben, «die demokratische Werte stimulieren und in die Lage versetzen, dem postdigitalen Zeitalter kreativ, kritisch, fragend und produktiv zu begegnen» (Ackermann 2019, 179).
Das ‹Postdigitale Schultheater›
Als spezifischer Bestandteil der Kulturellen Bildung soll in diesem Beitrag das Postdigitale Schultheater untersucht werden. Die Auseinandersetzung mit dem Postdigitalen Schultheater baut konzeptuell auf bisheriger Forschung zu Theater und Theaterpädagogik in der Schule (Fachunterricht Theater/Darstellendes Spiel oder Theater AGs) auf, betont aber in besonderer Weise das postdigitale Umfeld, in dem theaterpädagogische Prozesse in der Schule stattfinden, wodurch die aktuelle Forschung zur Digitalisierung in der Kulturellen Bildung als zentraler Bezugs- und Referenzrahmen identifiziert wird. Dem Verständnis der Postdigital Education folgend bezieht sich auch das Postdigitale Schultheater auf keine spezifischen Unterrichtsformen, sondern auf die jeglicher Unterrichtsform inhärente Postdigital Condition. Somit kann die Beschäftigung mit dem Postdigitalen Schultheater von einer Reflexion ‹klassischer› Dramen-Inszenierungen bis hin zur Inszenierung von Digital-Avatar-Inszenierungen im Internet reichen (Büchner und Traulsen 2021a) – die Forschung zum Postdigitalen Schultheater interessiert sich demnach sowohl für Projekte, in welchen Digitalität formal oder inhaltlich eine besondere Rolle spielt (bspw. das Projekt #digitanz; vgl. Steinberg u. a. 2019), als auch für Projekte, die keine hervorgehobene formale oder inhaltliche Thematisierung von Digitalität für sich beanspruchen.
Unabhängig von einer gewählten theatralen Form teilt das Postdigitale Schultheater fundamentale Merkmale mit dem herkömmlichen Schultheater, die Hruschka (2012) als «Produktion und Rezeption, Gestalten und Reflektieren, eigenes künstlerisches Tun und kulturelle Teilhabe» (ebd., 168) beschreibt. Zudem sieht Hruschka (2016) im Theater einen
«Analyseapparat […], um die Besonderheit eines Ortes, eines Objekts, die Spezifik eines historischen oder aktuellen gesellschaftlichen Phänomens und – eben besonders häufig – die Lebensgeschichten der Spielenden oder ihrer Angehörigen aus unterschiedlichen Perspektiven zu erörtern und spielerisch zu befragen» (ebd., 110).
Zudem argumentiert Hilliger (2018), dass das Theater durch die Erprobung, Überprüfung, Infragestellung und Gestaltung sozialer Prozesse wie z. B. die Lebenswelten und -formen der Theaterspielenden «eine hohe Relevanz gerade auch für die junge Generation [besitzt], die in einem oft konflikthaften Prozess ist, in die Gesellschaft hineinzuwachsen» (ebd., 62).
Das Postdigitale Schultheater, welches sich bewusst der gesellschaftlichen digitalen Transformationsprozesse annimmt, scheint demnach besonders prädestiniert für eine kritische und gestalterische Auseinandersetzung mit der (postdigitalen) Umgebung, indem es Inhalte und Materialien der (postdigitalen) Lebenswelt der Schülerinnen5 aufgreift und ihnen theatral begegnet. Beispielhaft stellt Hruschka (2012) in Bezug auf digitale Medientechnologien fest, dass Jugendliche in der theatralen Praxis
«ihre Sehgewohnheiten aus neuen medialen Darstellungsformaten (z. B. YouTube) einbeziehen, reflektieren und produktiv machen [können]. Die Beschäftigung mit inszenatorischen Verfahren des Theaters und anderer Medien zielt allerdings nicht auf die bloße Reproduktion von Alltagserfahrungen und medialen Stereotypien, sondern auf deren künstlerische Überschreibung und Transformation» (ebd., 169).
Wissenschaftliche Betrachtungen, die Schultheater und Postdigitalität zusammenbringen, sind rar. Büchner und Traulsen (2021a) fordern jüngst, dass es
«ein Anliegen der (schul-)theaterpädagogischen Forschung sein [sollte], das ‹Postdigitale Schultheater› unter Einbezug zeitgenössischer theaterwissenschaftlicher, theaterpädagogischer und theaterdidaktischer Phänomene grundständig zu konzeptualisieren und zu theoretisieren, um beispielweise unterrichtspraktische oder didaktische Überlegungen sowie bildungstheoretische Reflexionen vornehmen zu können» (ebd., 13),
doch scheint das Verknüpfen der Diskurse um das Schultheater und die Postdigitalität noch in den Kinderschuhen zu stecken. Eine wichtige Vorarbeit bietet Jörissen (2020), der vier Ebenen benennt, die aus digitalen Transformationsprozessen resultierend auf das Schultheater wirken:
- «Für das Theater in der Schule sollte es maßgeblich sein, dass die gegenwärtigen postdigitalen Jugendkulturen in einer erheblich, ja radikal veränderten Position in Bezug auf Selbst- (Identitäts-, Körper- und Status-) Inszenierungen sind im Vergleich schon zu nur fünf oder gar zehn Jahre älteren Kohorten» (ebd., 41).
- «Das szenische Lernen […] ist […] millionenfache alltägliche Realität auf den Kanälen der YouTuber und Influencer. Man hat das in der Schule nur noch nicht gemerkt und stakst entsprechend, szenisch gesprochen, ziemlich ungelenk durch die pädagogische Landschaft» (ebd.).
- «Digitalisierung bedeutet in Bezug auf performative Künste: Entgrenzung und Hybridisierung der Räume (und damit der Relationierungen der Akteure). […] [E]s [gibt] Präsenz aber auch unter Bedingungen hybrider und virtueller Räumlichkeiten, wie die Forschung schon lange aufgezeigt hat» (ebd.).
- «Was die vierte Ebene betrifft – das gesellschaftliche und kulturelle Bezugsfeld –, ist an dieser Stelle nicht viel zu sagen: Ist es nicht das ureigenste Terrain des Theaters?» (ebd.).
Auf Grundlage dieser Ebenen lassen sich die folgenden vier Fragen stellen, deren Beantwortung für die angestrebte Theoretisierung und Konzeptualisierung des Postdigitalen Schultheaters zentral ist:
- Wie verändern sich Schülerinnen im Kontext der Postdigital Condition?
- Wie verändert sich das (szenische) Lernen im Kontext der Postdigital Condition?
- Wie verändert sich das Theater als zentrale Bezugskunst des Schultheaters im Kontext der Postdigital Condition?
- Wie verändert sich die Gesellschaft im Kontext der Postdigital Condition?
Der vorliegende Beitrag schließt sich im Folgenden an die in Frage drei aufgeworfene Thematik der Transformationsprozesse in der Bezugskunst Theater an und verfolgt damit das Ziel, die Konzeptualisierung und Theoretisierung des Postdigitalen Schultheaters voranzutreiben. Konkret werden zwei Forschungsfragen formuliert, derer sich dieser Beitrag annimmt:
- Wer spricht wie über Theater und Digitalität?
- Welche Implikationen erschließen sich daraus für das Postdigitale Schultheater?
Ziel des Beitrags ist, den Diskurs Theater und Digitalität zu analysieren und unterschiedliche Positionen zu identifizieren, die auf das Postdigitale Schultheater einwirken. Unserer Argumentation zufolge lassen sich im Diskurs vier idealtypische Positionen ausmachen, die sich voneinander insbesondere durch ihre Verortung des ‹Digitalen› im Theater unterscheiden. Das Digitale ist demnach entweder im Spiel mit Medientechnologien auf der Bühne, in der Lebenswelt zeitgenössischer Theatermachender als ‹Digital Natives›, in den strukturellen Beschaffenheiten des Internets oder in der Ästhetik einer theatralen ‹Post-Internet-Art› zu finden. Im weiteren Verlauf unseres Beitrags skizzieren wir nach einer kurzen Beschreibung unseres methodischen Vorgehens diese vier Positionen, weisen auf zentrale Vertretende jener Positionen hin und leiten jeweils eine These für das Postdigitale Schultheater ab.
Methodisches Vorgehen
Das beschriebene Forschungsvorhaben ist unter anderem dadurch gekennzeichnet, dass das zu analysierende Datenmaterial einerseits in seiner Menge äußerst umfangreich ist, andererseits in seiner Form stark variiert. Um diesem Umstand methodisch gerecht zu werden, wurde ein mehrschrittiges Forschungsdesign entwickelt und zur Anwendung gebracht. Der Forschungsprozess lässt sich in die folgenden drei Phasen unterteilen, die jeweils andere methodische Herangehensweisen erfordern:
- Akteur*innennetzwerk identifizieren (Wer?)
- Dokumente recherchieren (Was?)
- Diskurspositionen analysieren (Wie?)
Anzumerken ist, dass die genannten Phasen in einem reziproken Wechselspiel zueinander stehen und ihre Abfolge nicht stringent chronologisch umgesetzt, sondern prozesshaft aufgrund von zwischenzeitlichen Forschungsergebnissen modifiziert wurde. Insbesondere die Phasen eins und zwei verliefen häufig parallel.
Akteur*innennetzwerk identifizieren
Um den ersten Teil der Forschungsfrage (Wer spricht wie über Theater und Digitalität?) zu beantworten, wurde das diskursive Feld ‹Theater und Digitalität› auf wiederkehrende Akteur*innen und deren Beziehungen untereinander sondiert und analysiert. Ausgehend von einer Internetrecherche, d. h. dem explorativen Erschließen von Websitetexten, Veranstaltungsbeschreibungen, Publikationen etc., konnten zentrale Akteur*innen des Diskurses Theater und Digitalität sowie deren Verbindungen untereinander identifiziert werden. (Anm.: Als Diskurs wird hier im weitesten Sinne ein Repertoire aus Sprache, Text und Praxis einer bestimmten Menschengruppe zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmen Ort verstanden, das ebenso Narrative, Glaubensüberzeugungen und Weltansichten beinhaltet. Ein Diskurs ist in diesem Sinne ein Vehikel für die Produktion von Bedeutungen und Handlungen gleichermaßen (Anderson und Holloway 2018).) So wurde eine Struktur des Diskurses erschlossen, die als Netzwerk beschrieben werden kann. Die Knoten dieses Netzwerks waren demensprechend die jeweiligen Akteur*innen: Theaterfestivals wie das ON/LIVE Festival am Forum Freies Theater (FFT) Düsseldorf oder das Theatertreffen der Berliner Festspiele, Konferenzen wie die Jahrestagung der Dramaturgischen Gesellschaft oder das Symposium Theater und Digitalität an der Universität der Künste Berlin, Theaterinstitutionen wie die Akademie für Theater und Digitalität Dortmund und die Projektstelle Digitale Entwicklung am Staatstheater Augsburg, Theaterkollektive wie die Cyberräuber und machina eX oder auch Einzelpersonen wie der Professor für digitale Medien an der Ernst-Busch-Hochschule, Friedrich Kirschner, oder die Medien- und Theaterwissenschaftlerin Martina Leeker. Die Kanten des Netzwerkes waren die Beziehungen unter diesen Akteur*innen: Gemeinsame Auftritte bei Theaterfestivals, geteilte Podien bei Konferenzen, gegenseitige Nennungen und Zitationen in Publikationen oder Teilnahme an Veranstaltungen. Das entstandene Netzwerk diente in der Folge als erste Orientierung bezüglich sozialer sowie thematischer Nähe und Distanz der zentralen Akteur*innen.
Dokumente recherchieren
Ausgehend von der vorausgegangenen netzwerkartigen Analyse konnten in der Folge gezielt Dokumente der existierenden Akteur*innenpositionen gesucht, ausgemacht und archiviert werden. Die Dokumenttypen des entstandenen Archivs umfassten eine weite Bandbreite von Veranstaltungsankündigungen und -dokumentationen, Programmheften und -flyern, Pressemitteilungen oder Publikationen in Fachzeitschriften (bspw. Theater der Zeit), Sammelbänden (bspw. Heinrich-Böll-Stiftung 2020: Netztheater. Positionen, Praxis Produktionen) und auf Webseiten (bspw. www.nachtkritik.de). Die Dokumentrecherche war dadurch limitiert, dass lediglich freie, zum Teil jedoch kostenpflichtig im Internet verfügbare Dokumente einbezogen wurden. Des Weiteren lag ein Fokus auf weitestgehend deutschsprachigen, zum Teil englischsprachigen Publikationen, die sich größtenteils auf den deutschsprachigen Theaterraum bezogen. Nichtsdestotrotz umfasste das Dokumentarchiv für die endgültige Analyse über 30 Publikationen, was die Analyse und Bestimmung inhaltlicher Positionen des Diskurses Theater und Digitalität ermöglichte.
Diskurspositionen analysieren
Um den zweiten Teil der Forschungsfrage zu beantworten (Wer spricht wie über Theater und Digitalität?) wurde die ‹Thematische Analyse› als methodische Grundlage herangezogen, da sie als besonders flexible Analysemethode gilt, die das Identifizieren von thematischen Mustern in Datensätzen zulässt, zugleich Einzelfallanalysen nach Bedarf ermöglicht und daher zur Analyse des äußerst diversen Datensatzes geeignet schien (Braun und Clarke 2008). Zudem kann sie als reine Analysemethode verstanden werden, die keine theoretischen oder epistemologischen Rahmenbedingungen voraussetzt. Der Ablauf kennzeichnet sich durch eine induktive Vorgehensweise aus, in der der Codierungsprozess nicht durch theoretische Annahmen vorstrukturiert ist, sondern in erster Linie datengeleitet erfolgt. Die auf diese Weise identifizierten thematischen Muster wurden von uns in vier unterschiedliche Positionen des Diskurses Theater und Digitalität zusammengeführt. Diese Diskurspositionen sind fortan als Idealtypen mit fluiden und dynamischen Grenzen untereinander zu verstehen. In der Praxis werden sich Akteur*innen dementsprechend nicht immer eindeutig einzelnen Positionen zuweisen lassen, sondern können durchaus Eigenschaften verschiedener Positionen verkörpern. Nichtsdestotrotz konkurrieren die vier Positionen miteinander um Diskursmacht, was eine kritische Analyse in Bezug auf ihre Implikationen für das Postdigitale Schultheater erforderlich macht.
Positionen im Diskurs Theater und Digitalität
(Anm.: Die numerischen Positionen nachfolgend sind lediglich textstrukturierend und beinhalten keine inhaltliche, hierarchische oder chronologische Reihenfolge.)
Position 1: Das Digitale als Spiel mit Medientechnologien auf der Bühne
Positionsbeschreibung
Position 1 sieht das Digitale verkörpert in den verschiedenen Medientechnologien unserer Zeit und geht davon aus, dass ebenjene Technologien unsere Gesellschaft auf vielfältige Weise prägen und demzufolge aus dem Alltag der Menschen nicht mehr fortzudenken sind. Vertretende der Position 1 sehen digitale Medientechnologien als modern, innovativ und fortschrittlich an und bewerten deren Einsatz in theatraler Praktik daher als positiv.
Argumentation im Diskurs
Problematisiert wird von dieser Position, dass sich das Theater der Digitalisierung zu lange erwehrt habe; nun sei es an der Zeit, sich der gesellschaftlich, digitalen Transformation anzuschließen, um nicht abgehängt zu werden und interessant sowie relevant zu bleiben. Exemplarisch schreibt Oelze (2018), dass
«auch ein Kulturbetrieb wie [ein] Opernhaus und [ein] Theater […] die Chancen und Potenziale der Digitalisierung nutzen [muss], um den Ansprüchen seines heutigen und des künftigen Publikums gerecht zu werden».
Betont wird im Kontext dieser Argumentation die Verwendung digitaler Medientechnologien in ‹analogen› Aufführungssituationen. Hegemann (2019) resümiert bspw.:
«Wie man im Gegenwartstheater sehen kann, kann es auf der Bühne neben seinen traditionellen Requisiten auch die neuen medialen Apparate Kameras, Screens, Bildschirme etc. auf die Bühne bringen und in seinen über das traditionelle Theater hinausgehenden Möglichkeiten nutzen. Dadurch fällt es nicht hinter die technische Entwicklung zurück und kann trotzdem sein Alleinstellungsmerkmal behalten. Ein modernes gegenwärtiges Theater muss auf dem Stand der Produktivkräfte sein, sonst verwandelt es sich in ein Museum. Und diese Herausforderung nimmt das Theater nach anfänglichem Zögern mittlerweile an […]. Das führt im Theater zu einer noch vor 100 Jahren kaum vorstellbaren Situation, dass im Medium Theater technische Medien auftauchen, die ebenfalls Darstellungen ermöglichen».
Position 1 betont im Zuge dieser Argumentation häufig, dass das Theater traditionell innovationsfreudig sei und sich nie davor gescheut habe, technologische Errungenschaften auf der Bühne zu erproben. So kamen zum Beispiel bereits im antiken Theater komplexe Theatermaschinen zur Anwendung, um spektakuläre Auf- und Abtritte zu ermöglichen oder visuelle oder auditive Spezialeffekte zu erzeugen. Ebenso wurde infolge der Industrialisierung und weitreichender Elektrifizierung auch das Theater elektrisch: Künstliche Beleuchtungen gelangten neben einer Reihe anderer Innovationen in das ästhetische Repertoire von Inszenierungen (Otto 2020). Wenn sich das zeitgenössische Theater hingegen gegen die Integration von digitalen Medientechnologien sperre, verlöre es seine Relevanz, da es die digitalisierte Gesellschaft nicht mehr angemessen abbilden und kommentieren könne.
Außerdem kritisiert Position 1, dass das Theater seiner Aufgabe als Imaginationsraum nicht mehr gerecht werde, da es durch seinen Fokus auf analoge Spielformen regelrecht in der Vergangenheit stecken geblieben sei. Als Grund für diesen Missstand werden unter anderem institutionelle und strukturelle Barrieren wie zu strenge Spartenaufteilungen und zu enge Finanzierungsmöglichkeiten in Theaterhäusern sowie eine mangelnde Expertise von Theaterpersonal in Bezug auf Beschaffung, Wartung und Inszenierung von digitalen Medientechnologien ausgemacht. Lobbes (2021) mahnt in diesem Sinne beispielhaft an, dass
«am Theater […] seit Ewigkeiten mit Video gearbeitet [wird], aber in den meisten Kostenstellen der Produktionen ist Regie-Bühne-Kostüm drin, sonst nichts. Bei Video wird es immer schwierig. Gleichzeitig sind das aber hochqualifizierte Kollegen, die in der freien Wirtschaft mehr verdienen würden und bis zuletzt an den Programmierungen arbeiten».
Im Idealfall solle das Theater Position 1 folgend durch das kreative Spiel mit verschiedenen zeitgenössischen Medientechnologien (VR-Brillen, Tablets, Projektionen, Animationen, Hologrammen, Robotern etc.) neue Darstellungsweisen und deren Wirkung erproben. (Anm.: Diese Argumentation wird im Diskurs teilweise stark kritisiert. So schreibt Nioduschewski (2019): «Das größte Missverständnis in Bezug auf das Verhältnis von Theater und Digitalität besteht allerdings darin, dabei ausschließlich an technische Innovationen zu denken oder an Roboter, Hologramme und Algorithmentexte, die die Bühne erobern. Was im Kurzschluss dazu führt, das Digitale gegen das Analoge des Theaters in Stellung zu bringen (obwohl in den Häusern ja seit Jahren digitalisierte Bühnentechnik vor sich hin schnurrt). Es geht eben nicht nur um Digitalisierung von Infrastruktur (auch), nicht nur um den künstlerischen Einsatz digitaler Techniken (auch), sondern vor allem um Digitalität – einen Begriff, den der Informatiker Nicholas Negroponte bereits Mitte der 1990er Jahre prägte und dabei prophezeite, dass das Digitale wie die Luft und das Wassertrinken nur noch durch seine Ab- und nicht Anwesenheit bemerkt werden würde.») Diese Form ästhetischer Praxis wird von der theatertheoretischen Tradition des ‹Intermedialen Theaters› analytisch gerahmt, in der (nicht nur digitale) Medien auf ihre theatralen Wirkmechanismen hin befragt werden. Zentrale zeitgenössische Vertretende dieser Position sind bspw. die 2019 vom Regisseur Kay Voges gegründete und am Schauspiel Dortmund angesiedelte Akademie für Theater und Digitalität oder die von der Dramaturgin Tina Lorenz besetzte Projektleitung Digitale Entwicklung am Schauspiel Augsburg; aber auch schon Mitte der 1990er-Jahre wurde von Regieführenden wie etwa Christoph Schlingensief, Frank Castorf und René Pollesch mit zu jener Zeit unkonventionellen Technologien (z. B. Live-Kameras) auf der Theaterbühne experimentiert (Warstat 2011). Einen besonderen Stellenwert in der theatralen Praxis dieser Position besitzt momentan das Einbinden von Virtual-Reality-Technologien und das Spiel mit Künstlichen Intelligenzen, vertreten durch bspw. das im Diskurs äußerst präsente Theaterkollektiv Cyberräuber (Mustroph 2019).
Implikationen für das Postdigitale Schultheater
Im Kontext schulischer Bildung findet diese Position ihr Äquivalent in einer Kritik an der Trägheit der Institution Schule in Bezug auf Digitalisierung und digitale Bildung. Um Schülerinnen angemessen auf das Leben und die Arbeit in einer digitalisierten Gesellschaft vorzubereiten (sowie in internationalen Vergleichsstudien nicht noch weiter zurückzufallen; Anm.: Siehe bspw. die aktuelle ICILS Studien (Eickelmann u. a. 2019), sollten demnach umfassende Investitionen in digitale Infrastrukturen und Ausstattungen vorgenommen werden. Exemplarisch zu benennen sind Schulgebäude mit Breitband, Klassenräume mit Whiteboards und Schulklassen mit Tabletcomputern (Feil 2021). Diese Forderungen sind mit den Forderungen der hier beschriebenen Diskursposition deckungsgleich, sofern das Digitale in den Technologien verortet und demzufolge eine Ausstattung und Verwendung von Technologien mit dem Versprechen einer erfolgreichen Digitalisierung gleichgesetzt wird. Auf das Postdigitale Schultheater bezogen bedeutet dies, dass es sich sowohl spielpraktisch, inszenatorisch als auch theatertheoretisch gegenüber digitalen Medientechnologien öffnen müsse.
These: Im Postdigitalen Schultheater werden digitale Medientechnologien als Spielpartnerinnen erforscht.
Position 2: Das Digitale als Lebenswelt von Digital Natives
Positionsbeschreibung
Position 2 sieht das Digitale umgesetzt in der Theaterpraxis einer bestimmten Bevölkerungsgruppe: den ‹Digital Natives›. Digital Natives sind eine Generation von Menschen, die überwiegend und umfassend in einer von Digitalität geprägten Gesellschaft sozialisiert wurden. Die Grundannahme dieser Position lautet, dass sich durch die Beobachtung der Theaterpraxis von Digital Natives auf eine gänzlich neue Theaterform schließen lasse: das Theater der Digital Natives (Barca u. a. 2020).
Argumentation im Diskurs
Problematisiert wird von dieser Position der Versuch älterer Generationen von Theatermachenden, das Digitale im Theater umzusetzen. Diese seien als ‹Digital Immigrants› nicht imstande, das Digitale im Theater zu verorten bzw. es dort zu realisieren. Da die Institution Theater jedoch überwiegend von Digital Immigrants bestimmt werde, in deren Lebensrealität das Digitale ein Fremdkörper sei, bleibe das Digitale auch im Theater ein Fremdkörper, und damit seien auch die meisten Versuche, es auf der Bühne umzusetzen, zum Scheitern verurteilt. Die hierarchischen Strukturen der Institution Theater verwehrten den Digital Natives darüber hinaus den Zugang und die Möglichkeit, das Theater der Digital Natives zu produzieren. Wie diese Strukturen wirken, kritisiert unter anderem auch Anders (2021), in deren Augen «das Theater […] ein Strukturproblem [hat]. Sein Bau und seine Arbeitsweise scheinen zum Zerrbild des Systems geworden zu sein, das es auf der Bühne kritisiert». Aus diesem Grund rücken für diese Position insbesondere junge, freie Theaterkollektive in den Fokus, da diese nicht an die festgefahrenen Strukturen der Institution Theater gebunden seien:
«Die Ungebundenheit von Freischaffenden und Kollektiven stellt im Zusammenhang mit ästhetischer Reflexion des Digitalen einen Vorteil dar: Man fühlt sich weder einem literarischen Kanon verpflichtet, noch muss man eine Theaterarchitektur bedienen, die aus vor-digitaler Zeit stammt» (Barca u. a. 2020, 8).
Aus dieser Prämisse folgt die Forderung, die Praxis des Theaters der Digital Natives zu beobachten und in Bezug auf seine Eigenschaften und Darstellungsstrategien zu befragen. Dies wurde insbesondere im Rahmen des ON/LIVE Festivals am FFT Düsseldorf getan, wo das ‹Theater der Digital Natives› 2016 programmatisch ausgerufen wurde und seitdem jährlich von diversen Theaterkollektiven der freien Szene inszeniert wird. Nach mehreren Festivaldurchläufen charakterisieren Barca, Grawinkel-Claassen und Tiedemann (2020) das Theater der Digital Natives mithilfe zweier zentraler Beobachtungen: Einerseits werde im Theater der Digital Natives die Trennung zwischen Darstellung und Publikum immer weiter dekonstruiert, andererseits weise das Theater der Digital Natives intergenerationale Settings und Spielformen aus, was es zu einem Theater der Generationen mache (Barca u. a. 2020). Darüber hinaus wird das ‹Cultural Hacking› als Leitmotiv des Theaters der Digital Natives ausgemacht. Verstanden als «kritisches und subversives Spiel mit kulturellen Codes, Bedeutungen und Werten» (Meyer 2013, 15) biete das Cultural Hacking den Digital Natives die Möglichkeit, ihre durch Medientechnologien geprägte Lebensrealität mit all ihren Implikationen und Widersprüchen auf der Bühne spielerisch zu verhandeln. Als Beispiele für das Theater der Digital Natives werden in diesem Kontext verschiedene freie Theaterkollektive benannt, die häufig im Rahmen des ON/LIVE Festivals auftreten. Dazu gehören bspw. machina eX, in deren Theaterpraxis an der Schnittstelle von Computerspiel und Theaterstück das Publikum wahlweise Spielfiguren steuert oder selbst zur Spielfigur wird (machina eX 2021), oder pulk fiction, deren Kinder- und Jugendtheaterstücke bewusst generationale Grenzen durch interdisziplinär ausgestaltete Performances aufzulösen versuchen (pulk fiktion 2021).
Der Position 2 steht im Diskurs eine grundsätzliche Kritik am Begriff der Digital Natives (Kirschner und De Bruyckere 2017) sowie an dem zugrundeliegenden Generationsverständnis und der Grundannahme gegenüber, dass Digital Natives medienkompetenter seien als andere Bevölkerungsgruppen, die an dieser Stelle kurz ausgeführt werden soll. So resümiert Kammer (2018) infolge der Veröffentlichung der DIVSI U25-Studie des Deutschen Instituts für Vertrauen und Sicherheit, dass
«auch wenn und obwohl es sich um die erste Generation handelt, in der es keine Offliner gibt, […] sich bei Weitem nicht alle jungen Menschen ausreichend auf eine digitale Zukunft vorbereitet [fühlen]. Gut 40 Prozent – und damit doppelt so viele wie noch in 2014 – haben sogar regelrecht Angst vor einer Zukunft, in der vieles nur noch digital geht».
Ebenso ist aus postdigitaler Perspektive anzumerken, dass die Lebensrealität von Digital Immigrants ebenfalls umfassend von der Postdigital Condition geprägt ist und eine analytische Trennung dieser Bevölkerungsgruppen dementsprechend nicht zwangsläufig produktiv ist.
Implikationen für das Postdigitale Schultheater
Im Kontext Schule lässt sich aus Position 2 ein emanzipatorischer Bildungsansatz ableiten: Da die Schülerinnen der zeitgenössischen Schule durchwegs den Digital Natives zuzurechnen sind, werden diese zu Expertinnen des (digitalen) Alltags (Rimini Protokoll 2007) und damit zu Digitalmultiplikatorinnen einer sich digitalisierenden Schule. Die in die Institution Schule eingeschriebenen Machtverhältnisse, insbesondere zwischen der (wissenden) Lehrperson und den (unwissenden) Schülerinnen werden somit umgekehrt: Die Digital Immigrants scheinen auf die Alltagsexpertise der Digital Natives angewiesen zu sein, um angemessen auf das mündige Leben in einer postdigitalen Welt vorzubereiten.
Im Postdigitalen Schultheater liegt aus Perspektive dieser Position das Potenzial, den Digital Natives in der Institution Schule eine Bühne zur Verfügung zu stellen, um der postdigitalen Lebensrealität subversiv-spielerisch zu begegnen.
These: Das Postdigitale Schultheater versteht sich als kultureller ‹Hackspace› für ‹Digital Natives›.
Position 3: Das Digitale als Spiel im und mit dem Internet
Positionsbeschreibung
Diese Position sieht das Internet als Dreh- und Angelpunkt des Digitalen und fragt danach, wie sich Theater durch das Internet verändert. Dementsprechend wird das Internet im Theater und gleichzeitig das Theater im Internet gesucht. Zentrale Einflüsse auf die theatrale Praktik kommen demnach von Inhalten zeitgenössischer Darstellungsplattformen wie YouTube, Twitch, Instagram und TikTok, die wiederum selbst (auch) von Theatermachenden bespielt werden.
Argumentation im Diskurs
Frühe Aktivitäten dieser Position sahen im Internet ein Tool, mit dem sich das (Stadt- und Staats-)Theater öffentlichkeitswirksamer präsentieren konnte: Webseiten- und Social-Media-Auftritte wurden eingerichtet, Newsletter verschickt und Medienevents wie die Twitter-Theater-Wochen veranstaltet (www.nachtkritik.de 2013). Zeitgenössische Aktivitäten dieser Position verstehen das Internet als Bühne und nutzen dessen Infrastruktur, um ganze Theateraufführungen live zu streamen. Die Stadt Hamburg sieht beispielsweise in der
«Digitalisierung die Chance, den Theaterraum um eine zusätzliche Dimension zu erweitern und damit sowohl inhaltlich besonders interessierten Besuchern ein ergänzendes Angebot zu bieten, als auch die internetaffine junge Generation mit digitalen Angeboten gezielt anzusprechen und zu interessieren» (Behörde für Kultur und Medien Hamburg 2021).
Langfristig könne digitales Theater, ohne das «herkömmliche Theater» zu ersetzen, durch die Verwendung «neuer verfügbarer Technologien und Distributions-Mechanismen für unterschiedliche Inhalte […] im Zuge der umfassenden Digitalisierung nicht mehr nur an einem Ort zu einer Zeit stattfinden, sondern […] zeitversetzt an viele Orte im digitalen Raum gelangen und auf unterschiedlichen Ebenen stattfinden» (ebd.). Durchaus kritisch wird jedoch diskutiert, inwiefern das Streamen einer Theateraufführung dem Theater-Erlebnis gerecht werden kann. Unterschiedlichen Akteur*innen nach müsse das Theater eigene Formen entwickeln, um das Internet als Bühne zu nutzen. So äußert sich unter anderem der Regisseur Falk Richter (2018) folgendermaßen:
«Selbstverständlich ist es möglich, Theaterinszenierungen ins Netz zu stellen, aber, wenn es sich dabei nur um abgefilmte Theaterinszenierungen handelt, finde ich das persönlich uninteressanter als das Original-Ereignis. Das Erlebnis im Theater zu sitzen mit anderen Zuschauern und live und unmittelbar Zeuge des nicht mehr weiter medial bearbeiteten Materials zu sein, ist sehr viel stärker, als Zuhause auf seinem Laptop irgendwo eine abgefilmte Aufführung zu sehen. Interessanter wäre es dann, wenn man das Medium des Internets nutzt und direkt dort im Internet inszeniert. Also eine Inszenierung nur für Internetuser macht. Eine Inszenierung, die auf das Medium und seine ihm innewohnenden besonderen Strukturen eingeht und damit arbeitet».
Ackermann (2020) weist in diesem Sinne bspw. auf die Potenziale von Internet- und Social-Media-Plattformen wie Twitch-TV hin – «weil es eine Livesituation gibt, in die ich als Zuschauer/in über den Chat eingreifen kann» und TikTok – wo «es zum Beispiel […] zu jeder Aufführung eine Challenge gibt, deren kreativer Output dann zu einer eigenen Online-Inszenierung collagiert wird» (ebd., 21ff.).
Insbesondere während der Corona-Pandemie und der folgenden Schließung des Veranstaltungssektors erfuhr diese Position große Aufmerksamkeit, war sie doch per Definition nicht auf physische Kopräsenz angewiesen. (Anm.: Gleichzeitig erfährt die dritte Position im aktuellen, Corona bedingten, Diskurs großen Gegenwind. Beispielsweise merken Reupke und Goll (2020) an, dass «digitales Theater […] niemals eine Live-Aufführung [ersetzt]. Die Materialität einer Aufführung, die erst im Moment performativ hervorgebracht wird, geht verloren. Die Räumlichkeit einer Aufführung – wie der Theaterraum genutzt wird, ob er stark abgedunkelt ist, ob sich die Zuschauenden während der Aufführung gegenseitig sehen können oder nicht – ertrinkt in der Flächigkeit des Laptopbildschirms. Der Sound, der aus den Lautsprechern des Laptops dröhnt, liefert nur einen dürftigen Abglanz des Orchesterklangs, sodass man sogar wieder Räuspern und raschelndes Bonbonpapier für ein wuchtiges Klangerlebnis einer Strauss-Oper in Kauf nähme. Die körperliche Präsenz der Darstellenden, die Präsenz ihrer Stimmen, die die Zuschauenden emotional einzunehmen vermögen und häufig die Initialzündung für eine nachhaltige Faszination der Oper als Kunstform bedeutet, verliert sich. Die Atmosphäre vermag sich bei mehreren geöffneten Tabs und der Möglichkeit, den Stream jederzeit zu unterbrechen, nicht wirklich einstellen. Die Sinnlichkeit des Theaters verabschiedet sich in der Datenübertragung, die Mediatisierung wird zum Fingerzeig auf das Original. Das pluriästhetische Erlebnis wird zweidimensional verschlankt. Vom Theaterbesuch als ritualisiertes kulturelles und soziales Ereignis ganz zu schweigen» (ebd., 215).) Position 3 problematisiert traditionelle Ideen eines ortsgebundenen und durchritualisierten Theatererlebnisses, bei dem ein Publikum in der Regel passiv-rezipierend auf eine in einer prestigeträchtigen Architektur installierte Guckkastenbühne schaut. Das Theater solle sich vielmehr von der Flexibilität und Niedrigschwelligkeit vieler Unterhaltungsangebote aus dem Internet inspirieren lassen und sich dessen Netzwerkstrukturen zu eigen machen.
Zentraler Treffpunkt der Position 3 ist das Online-Festival Theater und Netz, das seit 2013 von der Heinrich-Böll-Stiftung und www.nachtkritik.de veranstaltet wird und aus dem sich Diskussionen um das sogenannte ‹Netztheater› und (aktueller) ‹Postpandemische Theater› entwickelt haben. Diskutiert werden hier unter anderem Aufführungsplattformen des Internets wie Zoom, Youtube und Discord (Diesselhorst 2020). Beispielhaft für diese Position ist die gestreamte Live-Cam-Performance Werther’s Quest for Love von Jonny-Bix Bongers an den Münchener Kammerspielen zu nennen, welche sich grundsätzlich Phänomenen des Internets (z. B. Google-Suchfunktion, YouTube-Prokrastination) künstlerisch zu eigen macht und auf diese Weise nicht nur Theater im Internet ist, sondern eben auch dem Internet eine Rolle im Theater zukommen lässt.
Implikationen für das Postdigitale Schultheater
Im Kontext schulischer Bildung lassen sich Parallelen in Bezug auf das reziproke Verhältnis von Schule und Internet finden. So findet schulische Aktivität zunehmend im Internet statt (bspw. Stundenplaneinsicht, Materialverteilung und Kommunikation zwischen Lehrpersonen sowie Schülerinnen auf Lernmanagementsystemen wie z. B. Iserv; Kuhn 2021), gleichzeitig wird die Schule selbst von den Möglichkeiten des Internets geprägt (bspw. Einbindung von Inhalten des Internets im Unterricht oder Internet-Recherche-Aufträge für Schülerinnen; Dörr und Zylka 2010). Für das Postdigitale Schultheater bedeutet dies, dass das Theater sowohl im Internet stattfinden kann, dass das Theater aber eben auch durch die Inhalte des Internets geprägt ist, die von Schülerinnen als auch Lehrkräften konsumiert werden.
These: Das Postdigitale Schultheater orientiert sich mehr an YouTube & Co. als an den Strukturen des Staatstheaters.
Position 4: Das Digitale als Post-Internet Ästhetik
Positionsbeschreibung
Position 4 geht davon aus, dass das Digitale im Theater eine bestimmte Art der Ästhetik sei, die sich als ‹Post-Internet-Ästhetik› beschreiben lasse. Die Post-Internet-Art ist seit den 2000er-Jahren ein beliebtes Phänomen in den bildenden Künsten, das sich ästhetisch an den Strukturen und Vorgaben des Internets bedient. Sie ist eine «Kunst unter den heutigen bildkulturellen und aufmerksamkeitsökonomischen Verhältnissen, die das Internet schuf» (Cramer 2016). Das Präfix ‹post› signalisiert in diesem Sinne nicht, dass das Internet künstlerisch hinter sich gelassen wurde, sondern dass sich ästhetisch nach dem Internet gerichtet wird (ebd.). Es wird davon ausgegangen, dass sich eine Post-Internet-Ästhetik nicht nur in den bildenden Künsten, sondern auch im zeitgenössischen Theater finden lasse.
Argumentation im Diskurs
Nach Position 4 realisiert sich Post-Internet-Ästhetik im Theater bspw. in einer visuellen Hyper-Affirmation von Selfiemotiven (Barca u. a. 2020), Meme-Humor und Snapchatfiltern oder in der Orientierung an Dramaturgien von Instagram-Reels, TikTok-Challenges oder Snapchat-Stories. In Abgrenzung zu Position drei geht es dieser Position nicht um Überführung des Theaters in das Internet und vice versa, sondern um eine künstlerische Adaption von Phänomenen des Internets in eine Ästhetik, die durchaus ‹offline› produziert werden kann. Sie ist demnach interessiert an der visuellen Sprache einer im Internet populär praktizierten visuellen Kultur und kann in diesem Sinne als ein ‹Internet-Age Update of Pop Art› (Jandrić und Cramer 2021) interpretiert werden. Mit der Post-Internet-Ästhetik sei es laut Bringer (2016) «wie mit dem Internet selbst: viel Irrsinn, viel Unsinn, maximale Überforderung, aber ab und zu macht es Klick». Daneben wird der Post-Internet-Ästhetik von dieser Position ein kritisches Element diagnostiziert, da sie unter anderem einem «ironisch verbrämten Warenweltfetischismus» fröne und vom «Unbehagen an der Konsumkultur [handele] und davon, wie man den Ekel besonders herzlich und freudvoll umarmt, anstatt ihn wütend zu bekämpfen» (Nedo 2015).
Beschrieben wird diese Position beispielshaft von Barca u. a. (2020) in der Theaterpraxis des Theaterkollektivs The Agency, wo «Kostüm, Sprache und Setting zu [einem] ästhetischen Standard» passen, der sich sonst in Post-Internet Kunstwerken wiederfindet,
«die sich vor allem dadurch qualifizieren, dass sie ein gutes Selfie-Motiv abgeben und in den sozialen Medien viral gehen, bevor sie online – statt in einer Galerie – verkauft und via Amazon verschickt werden».
Zu beobachten sind außerdem immer häufiger Inszenierungen, in welchen ferner Emojicons als Theatermasken oder im Bühnenbild auftauchen, wie exemplarisch Das Phantom von Uruk auf dem Theatertreffen der Jugend 2018 (Berliner Festspiele 2018, 6f.), wodurch die Ästhetik von Chatrooms und Kommentarspalten in den Theaterraum überführt wird. Darüber hinaus finden sich im Diskurs kaum Beschreibungen einer Post-Internet-Theaterpraxis. Mit der Überführung des Begriffs aus den bildenden Künsten verbindet Position 4 daher auch das Ziel, aufführungsanalytisches und theaterwissenschaftliches Vokabular für die Beschreibung von Post-Internet-Ästhetik im Theater bereitzustellen.
Implikationen für das Postdigitale Schultheater
Während im zeitgenössischen Kunstunterricht das Phänomen der Post-Internet-Ästhetik – sicherlich aufgrund der großen Popularität in den bildenden Künsten – zur Diskussion kommt (Meyer u. a. 2019), bleibt es im Theaterunterricht weitestgehend unbesprochen. Wird das Schultheater allerdings als Schulfach verstanden, in dem Schülerinnen theatertheoretisch mit diversen Theaterformen in Kontakt kommen und diese theatral-praktisch zur Anwendung bringen, sollte auch die Post-Internet-Ästhetik in das Repertoire von zu vermittelnden Spielformen aufgenommen werden. Das Postdigitale Schultheater greift in diesem Sinne die visuelle Kultur und Sprache des Internets als gleichwertiges ästhetisches Material für theatrale Lehr- und Lernprozesse auf und lässt seine Schülerinnen mit diesen spielerisch experimentieren.
These: Das Postdigitale Schultheater ist ein Erkundungsraum der ‹Post-Internet-Ästhetik›.
Fazit
Im Fokus dieses Beitrages stand die Beantwortung zweier Fragen: (1) Wer spricht wie über Theater und Digitalität? und (2) Welche Implikationen erschließen sich daraus für das Postdigitale Schultheater? Um diese Fragen angemessen zu beantworten, wurden zunächst umfangreiche theoretische Vorüberlegungen getroffen. Diese gründliche Ausführung war in besonderer Weise notwendig, da das Konzept des Postdigitalen Schultheaters bisher kaum detailliert beschrieben worden ist. Kultur- und medienwissenschaftliche Auseinandersetzungen mit dem Postdigitalitätsbegriff sowie die aktuelle Forschung zur Digitalisierung in der Kulturellen Bildung wurden als zentrale Bezugsfelder identifiziert und mit zeitgenössischen Überlegungen zum Theater in der Schule in Verbindung gebracht. Im Einklang mit den beschriebenen Erkenntnissen aus der Kulturellen Bildung konnte festgestellt werden, dass das (Schul-)Theater mit seinen partizipativen und emanzipatorischen Merkmalen ausgesprochen geeignet für eine postdigitale Bildung ist, die sich als Ziel setzt, das Verhältnis zwischen digitalen Medientechnologien und dem menschlichen Dasein kritisch zu verhandeln. Im Postdigitalen Schultheater wird es überdies möglich, die Lebenswelten von Schülerinnen kreativ spielerisch miteinzubeziehen und kritisch zu verhandeln, wodurch hier das besondere Potenzial zu liegen scheint, die Postdigital Condition reflexiv zu denken, (neu) auszuloten und praktisch zu gestalten.
Als theoretische Grundlage zur Beschreibung des Postdigitalen Schultheaters wurden Jörissen (2020) folgend vier Fragen zum Schultheater in einer postdigitalen Gesellschaft aufgestellt, die langfristig dessen grundlegende Theoretisierung und Konzeptualisierung ermöglichen. Da dieser Beitrag als zentrale Bezugsnorm für das Postdigitale Schultheater den Diskurs Theater und Digitalität und damit die Beantwortung der dritten Frage anvisiert hat, wurde dieser im weiteren Verlauf der Arbeit fokussiert. Eine analytische Betrachtung der übrigen Themenfelder nach Jörissen (2020) ist zukünftig erforderlich.
Die Analyse des Diskurses Theater und Digitalität ergab eine Identifizierung von vier idealtypischen Positionen, die sich in erster Linie bezüglich der Verortung des Digitalen unterscheiden (1. Das Digitale als Spiel mit Medientechnologien, 2. Das Digitale als Lebenswelt von Digital Natives, 3. Das Digitale als Spiel in und mit dem Internet, 4. Das Digitale als Post-Internet-Ästhetik). Einerseits sind diese Diskurspositionen dadurch gekennzeichnet, dass die Abgrenzung zueinander durchlässig ist, sodass bspw. einzelne Inszenierungen unterschiedlichen Positionen zugeordnet werden können. Andererseits zeigt der Diskurs, dass das Thema Theater und Digitalität durchaus vital und kontrovers diskutiert wird, sodass einzelne Positionen in Theorie und Theaterpraxis um Diskursmacht konkurrieren. Die wissenschaftliche Betrachtung der unterschiedlichen Positionen scheint deshalb nicht nur für die Forschung zum Postdigitalen Schultheater relevant, sondern liegt auch im Interesse der Theaterwissenschaft und der Theaterpraktik (wie etwa bei der dramaturgischen Konzeption einer Inszenierung). Für das Postdigitale Schultheater konnte diesen Überlegungen folgend aus jeder Position eine These abgeleitet werden:
- Im Postdigitalen Schultheater werden digitale Medientechnologien als Spielpartnerinnen erforscht.
- Das Postdigitale Schultheater versteht sich als kultureller ‹Hackspace› für ‹Digital Natives›.
- Das Postdigitale Schultheater orientiert sich mehr an Youtube & Co. als am Staatstheater.
- Das Postdigitale Schultheater ist ein Erkundungsraum der ‹Post-Internet-Ästhetik›.
Diese Thesen wurden zugespitzt formuliert, um zentrale Forderungen der jeweiligen Position hervorzuheben. In diesem Sinne ist eine kritische Diskussion und Reflexion der Thesen jedoch weiterhin wichtig und sinnvoll, insbesondere wenn sich aktueller und zukünftiger Theaterunterricht daran orientiert. Forschungspraktisch würde sich an diesen Beitrag daher bspw. eine empirische Untersuchung von Unterrichtpraxis im Sinne einer Beobachtung und Analyse von Theaterunterricht anschließen.
Auch wenn die Darstellung der einzelnen Positionen umfassend scheint, sollte zukünftige Forschung untersuchen, ob bestimmte Positionen im Diskurs nicht in das vorgeschlagene Modell zu implementieren sind und die vier bestehenden Positionen ggf. um weitere Positionen erweitert werden müssen. Diese Frage stellt sich insbesondere mit Blick auf die Datengrundlage, da diese hauptsächlich mittels Internet-Recherche generiert worden ist. Möglicherweise gibt es jedoch Einflussfaktoren im Diskurs Theater und Digitalität, die im Internet wenig präsent sind. Eine weitere Limitation ist, dass ein Großteil der analysierten Daten in deutscher oder englischer Sprache vorliegt und vorranging im deutschsprachigen Theaterraum verortet ist. Die Betrachtung des internationalen Diskurses von Theater und Digitalität oder auch die Analyse des Diskurses abseits des Internets (bspw. durch Interviews mit zentralen Akteur*innen oder mit Theaterbesuchenden) könnte aufschlussreich sein. Auch ein Blick in theatrale Praxis, der die vier theoretischen Positionen auf Inszenierungen bezieht und diese aufführungsanalytisch betrachtet, wäre ein sinnvoller Anknüpfungspunkt für die weiterführende Forschung.