Partizipation und Teilhabe
Partizipation zielt wie auch Kultur auf das Vermittlungsverhältnis und Vermittlungshandeln zwischen Individuum, Gemeinschaft und Gesellschaft, allerdings weniger bezogen auf die symbolisch-ästhetische Vermittlung von Praktiken als auf die politische Vermittlung von Interessen. Wie beim Kulturbegriff lässt sich auch in Bezug auf Partizipation ein enges (konventionelles) von einem weiten (non-konventionellen) Verständnis unterscheiden. Diskurse zu Partizipation und Kultureller Bildung überschneiden sich etwa dort, wo Kulturelle Bildung „eine Teilhabe am kulturellen Leben erschließen soll“ (BMFSFJ 2009:786). Dieser Überschneidungsbereich soll im Folgenden umrissen werden, aufbauend auf einer Klärung des Partizipationsbegriffs sowie einer Darstellung ausgewählter Forschungsbefunde sowohl zum engen als auch zum weiten Verständnis von Partizipation.
Was bedeutet Partizipation?
Die politische Philosophie markiert Partizipation als das zentrale Prinzip des Politischen, durch das „Menschen wechselseitig Einfluss aufeinander nehmen, um im sozialen Zusammenhang mehr zu erreichen, als ihnen als Einzelwesen möglich ist“ (Gerhardt 2007:14). Partizipation bezieht sich demzufolge auf Entscheidungen, die sowohl das Leben der Individuen als auch das jeweilige Gemeinwesen betreffen und ist deshalb durch die wechselseitige Begründung und Begrenzung von Selbst- und Mitbestimmung bestimmt (ebd.:24f.). Ein solches Verständnis des Politischen, das von der griechischen Philosophie bis in moderne Demokratietheorien reicht, basiert auf einem Verständnis des Individuums als Subjekt und als Bürger. Der Subjektstatus verweist auf die Fähigkeit zu und das – in der westlichen Geschichte normativ begründete – Recht des Individuums auf eigene Willensentscheidung, der Bürgerstatus auf die Einbettung dieser Fähigkeit und dieses Rechts in eine politisch verfasste Gemeinschaft. Die Autonomie, die in beiden Begriffen mitschwingt, bedeutet demzufolge nicht die vollständige Ungebundenheit als vielmehr die Mündigkeit im Sinne von Freiheit bei gleichzeitigem Bewusstsein sozialer Abhängigkeit und Einbettung. Partizipation verweist dabei in mehrfacher Weise auf Repräsentation: erstens als Vorstellung (bzw. Bewusstsein) und Mitteilung eigener Interessen; zweitens als Vorstellung von den Anderen und damit vom Gemeinwesen (oder der Öffentlichkeit), innerhalb dessen eigene Interessen entwickelt und realisiert werden; drittens die Vorstellung (Präsentation) „von anderen Dingen vor anderen Menschen“ durch institutionalisierte Vertretung durch Andere (ebd.:32ff.). Im Kontext der Demokratie erfordert Repräsentation deshalb kommunikative Aushandlung (Deliberation) und Vertrauen im Rahmen intersubjektiver Anerkennungsverhältnisse (Honneth 1992; Habermas 1999).
In funktional ausdifferenzierten Gesellschaften erfuhren diese Anerkennungsverhältnisse zum einen eine Institutionalisierung als formale Bürgerrechte, politische Rechte und soziale Rechte (vgl. Marshall 1950). Diese Institutionalisierung sicherte Mitbestimmungsmöglichkeiten ab, führte aber zum anderen zu einer tendenziellen Entkoppelung und Entfremdung zwischen Mitbestimmung und Selbstbestimmung, umso mehr als der gesellschaftliche Individualisierungsprozess formalisierte Repräsentationsverfahren und -verhältnisse tendenziell ad absurdum führt, der Partizipationsbegriff zunehmend diffus und als „Teilhabe oder Teilnahme“ definiert wird (vgl. Schnurr 2011).
Partizipation erweitert sich dabei erstens sukzessive von der politischen Ebene auf die Ebene sozialer Partizipation – vor allem das Ehrenamt und die Mitgliedschaft in Vereinen – sowie die kulturelle Ebene.
Zweitens wird der Partizipationsbegriff zu einer Diskursarena, die sich stellvertretend vor allem auf Jugendliche bezieht und durch die Pole Emanzipation und Selbstverantwortlichkeit markiert wird; so lässt sich die steigende Bezugnahme auf Partizipation seit den 1990er Jahren als kulturelle Unterfütterung eines neoliberalen Aktivierungstrends interpretieren (vgl. Masschelein/Quaghebeur 2003).
Drittens werden sowohl Partizipationsmöglichkeiten als auch Partizipationshandeln immer mehr zum Gegenstand dichotomer Sichtweisen – etwa im Verweis auf zu wenig oder abnehmende Partizipation oder die Unterscheidung „richtiger“ und „falscher“ Partizipation (vgl. Walther 2010).
Damit ist viertens Partizipation – bzw. Partizipationskompetenz als Wissen und Fähigkeit zur „richtigen“ Partizipation – als Ziel pädagogischer Praxis begründet: Jugendliche sollen im Rahmen von Partizipationsprojekten in Schule, Jugendarbeit und Kommune lernen, sich im Sinne formal institutionalisierter Verfahren zu beteiligen (z.B. Jugendforum oder Jugendgemeinderat). Sie werden also erst einmal außerhalb von politischer Macht, Kultur und oder Gesellschaft verortet, Partizipation als Prinzip und Voraussetzung jeglichen pädagogischen Handelns tritt dagegen in den Hintergrund (Bundesjugendkuratorium 2009b).
Wer partizipiert woran und warum (nicht)? Forschungsbefunde
Sozialwissenschaftliche Forschung hat sich traditionellerweise damit auseinandergesetzt, ob und wie Gesellschaftsmitglieder die vorgesehenen Beteiligungsformen und Teilhabeverfahren nutzen, für deren Akzeptanz und Geltung besonders die Partizipation Jugendlicher stellvertretend im Fokus steht. So fragen Shell-Jugendstudien und DJI-Survey traditionell nach dem politischen Interesse, der Wahlbeteiligung, Mitgliedschaft in Parteien, Gewerkschaften und Vereinen, und kommen – mit widersprüchlichen Befunden, die auf einen kontinuierlichen Abwärtstrend (vgl. Deutsche Shell 2010) oder eine Stabilität politischer und sozialer Partizipation hinweisen (vgl. Gaiser u.a. 2008). Sowohl der DJI-Jugendsurvey als auch der Freiwilligen-Survey der Bundesregierung fragen darüber hinaus inzwischen auch nach non-konventionellen Formen politischer und sozialer Partizipation, ob dies die Teilnahme an Demonstrationen und politisch motiviertem Konsum (bzw. Boykott) oder eher projekt- statt mitgliedschaftsförmiges kulturelles, sportliches oder soziales Engagement betrifft (vgl. Picot 2006). Diese Studien stellen eher eine Veränderung als einen Rückgang von Partizipation fest. Ein genereller Befund – quer zur Unterscheidung konventioneller und non-konventioneller Partizipation – ist dagegen der einer sozialen Ungleichheit von Partizipationsverhalten. Danach überwiegen Jungen und Männer eher bei den formalen bzw. konventionellen, Mädchen und Frauen dagegen bei den informellen, non-konventionellen Partizipationsformen. Generell steigt der Partizipationsgrad mit dem Bildungsniveau sowie der sozialen Klasse, was sich außerdem in einer unterdurchschnittlichen Beteiligung von MigrantInnen spiegelt. Dies führt zur Frage, wie und wo unterschiedliches Partizipationsverhalten gelernt wird. Einer Studie der Bertelsmann Stiftung zufolge sehen Kinder und Jugendliche die meisten Beteiligungsmöglichkeiten in der Familie, mit weitem Abstand gefolgt von Schule und Kommune (Bertelsmann Stiftung 2007:74ff.). Ungleichheiten werden dabei sowohl infolge ungleicher familiärer Ressourcen als auch durch segmentierte öffentliche Institutionen wie etwa das dreigliedrige Schulsystem reproduziert (vgl. Helsper u.a. 2006). Dabei sind die Partizipationsmöglichkeiten im Gymnasium keineswegs umfassender als in der Hauptschule, sondern die Tatsache des Besuch des Gymnasiums selbst bedeutet ein höheres Maß an Wahl- und Entscheidungsmöglichkeiten und ein höheres Maß an (Selbst-)Vertrauen, eigene Interessen in bzw. mittels öffentlicher Institutionen umzusetzen (Walther 2010).
Auch die Analyse einer sozialen Ungleichheit von Partizipation impliziert die Unterscheidung zwischen Partizipation und Nicht-Partizipation auf Seiten der Benachteiligten. In der Forschung wird deshalb zunehmend dafür plädiert, nicht nur den Blick auf Formen, sondern auch auf Inhalte von Partizipation zu weiten. Dies lässt sich sowohl mit individualisierten Formen der Vergesellschaftung als auch mit entstandardisierten Lebensläufen begründen, die die Individuen mit Ungewissheit und Unsicherheit konfrontieren und verbindlichen Mitgliedschaften tendenziell widersprechen. Hier wird die tendenzielle Entfremdung zwischen Mitbestimmung und Selbstbestimmung besonders virulent. Sie wirft die Frage nach der biografischen Relevanz und Passung von gesellschaftlichen Handlungsaufforderungen auf – die immer weniger vorausgesetzt werden kann, sondern individuell hergestellt werden muss (vgl. Jakob 1993).
So wie sich ein erweiterter Partizipationsbegriff aus der Notwendigkeit ableitet, subjektive Konstruktionsprozesse von Partizipation in den Blick zu nehmen, ergibt sich gleichzeitig für die Analyse von Partizipation die Notwendigkeit, ihre biografischen Konstruktionsprozesse und -bedingungen auf Seiten der Subjekte zu rekonstruieren. So verdeutlicht eine ethnografische Studie zu Engagement- und Beteiligungsprozessen in einem benachteiligten Stadtteil zum einen, dass vielfältige Formen nachbarschaftlicher Solidarität und Unterstützung, wie sie in „benachteiligten“ Milieus vielfach zu finden sind, unsichtbar bleiben, weil nur bestimmte, institutionalisierte Formen von Partizipation als solche anerkannt werden. Sie verdeutlicht zum anderen, dass diese institutionalisierten Formen des Engagements über die Dominanz bestimmter Formen der Kommunikation, Interaktion und Thematisierung von Anliegen als Ausschließungsmechanismus gegenüber Menschen wirken können, die in Bezug auf den Zugang zu sozialen Gütern und Positionen ohnehin schlechter gestellt sind (Munsch 2005). Diese Menschen finden sich mit ihren Anliegen dort nicht wieder, können also keine biografische Passung herstellen, sodass Partizipation möglicherweise zu einem weiteren „Ort des Ausschlusses“ wird (ebd.:77). Aus einer sozialräumlichen Perspektive lässt sich diese „Krise“ institutionalisierter Formen der Partizipation als ein Problem unterschiedlicher Raumvorstellungen identifizieren. Ihnen liegen „absolutistische“ Raumvorstellungen zugrunde, die davon ausgehen, dass Institutionen oder Territorien (Stadtteil, Kommune, Wahlbezirk) politisch gestaltbare Räume sind, die als solche beispielsweise für Jugendliche bedeutsam sind. Die sozialräumliche Realität Jugendlicher, die subjektive Bedeutung von Räumen liegen hierzu jedoch oftmals quer, außerhalb oder gehen mitten durch territoriale Einheiten, sie haben einen anderen subjektiv bedeutsamen „Zuschnitt“. Dort wo es ausreichend „Schnittmengen“ unterschiedlicher Sozialraumvorstellungen gibt, entstehen „Kristallisationspunkte“ für Partizipation (Reutlinger 2003), kann biografische Passung hergestellt werden. Solche Kristallisationspunkte finden sich beispielsweise in jugendkulturellen Kontexten in Form der Entwicklung politischer Orientierungen. Diese kulturelle Dimension politischer Meinungs- und Einstellungsbildung und Entwicklung von Mentalitäten und Verhaltensweisen wird im Partizipationsdiskurs weitgehend ausgeblendet. Wie Nicolle Pfaff (2006) in einer multimethodischen Studie zeigen konnte, stellen jugendkulturelle Szenen Räume einer Politisierung dar, die auf unterschiedliche, szenespezifische Weise ihren Ausdruck findet (siehe Christian Schmidt „Jugendkulturelle Szenen und Kulturelle Bildung“). Musik und eine szenespezifische Sprache sind beispielsweise ästhetische Mittel, sich gesellschaftliche Realität anzueignen, zu bearbeiten und eigenen Positionen zu Politik und aktuellen gesellschaftlichen Problemen Ausdruck zu verleihen bzw. eigenen Bedürfnissen Sichtbarkeit zu verschaffen. Eine qualitative Studie zur biografischen Relevanz von Partizipation für „benachteiligte“ Jugendliche in der Jugendarbeit zeigt, dass Kristallisationspunkte für Partizipation dort entstehen, wo Partizipation als ein Mittel zur Bewältigung zentraler biografischer Herausforderungen, Interessen und Bedürfnisse zugänglich und anerkannt wird – als ein Mittel zur Herstellung von Zugehörigkeit, Anerkennung und Selbstinszenierung (Schwanenflügel 2011; vgl. Keupp 2007). Wo dies gelingt, können Identitätsbildungs- und Emanzipationsprozesse in Gang gesetzt werden, die Handlungsspielräume und damit die Teilhabemöglichkeiten dieser Jugendlichen erweitern. Aus einer bildungstheoretischen Perspektive bedeutet dies, dass die Erweiterung von Teilhabechancen zugleich Teilhabe voraussetzt (vgl. Dewey 1993).
Andreas Walther u.a. (2006) verdeutlichen dies in einer europäischen Studie zu Maßnahmen am Übergang Schule-Beruf, welche in der Regel darauf zielen, die formalen Teilhabechancen dieser Jugendlichen auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt zu erhöhen. Dort wo Partizipation integrales Prinzip (und nicht nur ein indirektes Ziel) der Maßnahmen selbst ist, wo sie also den AdressatInnen Möglichkeiten der Mitbestimmung von Zielen und Inhalten sowie Mitgestaltung der Arbeitsformen zubilligt, wird Identifikation möglich und entsteht über die Möglichkeit, selbst subjektiv sinnvolle Perspektiven zu entwickeln Motivation; oder: durch die subjektive Erfahrung von Teilhabe entsteht intrinsische Motivation zur Teilhabe. Und nur dort, wo die Nutzung öffentlicher Institutionen intrinsisch motiviert ist, kann wirklich die Rede von Teilhabe sein.
Schlussfolgerungen
Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass Partizipation als ein interessegeleitetes Handeln, das sich auf Gemeinschaft bezieht, immer biografisch geprägt ist und unterschiedliche Äußerungsformen und -inhalte bildet. Aus dieser Perspektive wird deutlich, dass sich Partizipation nicht auf bestimmte Formen und Inhalte beschränken darf, sondern jedes Handeln eines Individuums im Gemeinwesen potentiell als Partizipationsäußerung anerkannt werden muss, d.h. als (öffentliche) Äußerung eines Anspruchs auf Mitbestimmung im Gemeinwesen bzw. in der Nutzung öffentlicher Institutionen zur Verfolgung biografisch relevanter Handlungsziele (Walther 2010). Dies impliziert auch die Anerkennung unterschiedlicher kultureller Praktiken der Interaktion, Kommunikation, Äußerung und Vorstellung subjektiver Interessen und Bedürfnisse sowie die Anerkennung unterschiedlicher Anliegen als berechtigt und aushandlungswürdig. So lassen sich etwa jugendkulturelle Praktiken im öffentlichen Raum beispielsweise als Äußerung eines Anspruchs auf Sichtbarkeit interpretieren, d.h. eines Anspruchs auf die Gestaltung von Anerkennungsverhältnissen angesichts der Prekarität und Fragilität von Identitätsbildungsprozessen in der Spätmoderne (vgl. Keupp 2007).
Im Hinblick auf Befähigung zur Partizipation stellen Bildung und Partizipation einen wechselseitigen Entstehungszusammenhang dar. Die Anerkennung subjektiv bedeutsamer Partizipationsäußerungen ermöglicht den Aufbau von Selbstbewusstsein, Selbstvertrauen und Identitätsbildung und führt im besten Fall zu einer Erweiterung von Handlungsmöglichkeiten. Bildung – verstanden als ein Prozess der Identitätsentwicklung – ist gebunden an die Eigentätigkeit des Einzelnen und setzt als solcher Partizipation – die Aushandlung von Interessen, Bedürfnissen und Zielen – voraus. Insofern als diese Anerkennungsverhältnisse Bildungsprozessen vorausgehen müssen, ist die Befähigung zur Partizipation deshalb zuallererst eine Frage ihrer rechtlichen Absicherung.
Ein weiter Partizipationsbegriff wie er hier skizziert wurde, ist für Kulturelle Bildung deshalb relevant, weil er die Frage aufwirft, welche kulturellen Praktiken der Aushandlung von Interessen, der (ästhetischen) Kommunikations- und Interaktionsmittel, des sozialräumlichen Zuschnitts von einer (Mehrheits-)Gesellschaft miteinbezogen und als legitime Mittel und Äußerungsformen von Partizipation anerkannt werden. Ein weiter Partizipations- und Kulturbegriff beziehen auf der einen Seite per definitionem mehr Menschen mit ihren Bedürfnissen nach und Akten der Teilhabe bzw. ihren kulturellen Repräsentationen und Praktiken mit ein (vgl. Treptow 2005). Auf der anderen Seite verdeutlichen sie auch, dass gesellschaftliche und kulturelle Teilhabe nicht nur eine Frage der Bildung (im Sinne der Vermittlung von Kompetenzen und Zugängen) ist, sondern auch der Anerkennung der kulturellen Praktiken und Teilhabeakte, die Menschen im Kontext ihrer lebensweltlichen und biografischen Alltagspraxis und Identitätsarbeit vollziehen – unabhängig davon, ob sie formal institutionalisierten Vorstellungen von „Kultur“ und „Partizipation“ entsprechen.