Partizipation als Reflexionsanlass
Vortrag - gehalten im Rahmen der von BKJ und bpb verantworteten bundesweiten Fachtagung „Illusion Partizipation - Zukunft Partizipation" am 15.11.2015 in Berlin
Vorbemerkung
Bestimmte Begriffe lösen bei uns Gefühle aus: Einige Begriffe machen Angst, andere Begriffe erregen Abscheu, und dann wiederum gibt es Begriffe, die ausgesprochen positiv besetzt sind. Offensichtlich gehört der Begriff der Partizipation zu der letzteren Kategorie. Er ist attraktiv, und er ist es aus gutem Grund, denn er erfasst einen wichtigen, manche sagen sogar: den wichtigsten Aspekt einer demokratischen Grundordnung (Gerhardt 2007). Partizipation wurde zudem in harten Auseinandersetzungen über viele Jahrhunderte hinweg schrittweise erkämpft.
In den letzten Jahrzehnten hat der Partizipationsbegriff dann geradezu einen Siegeszug angetreten, weil Partizipation in immer mehr Bereichen realisiert wurde. Begonnen hat alles damit, dass man auch in der Welt der Wirtschaftsbetriebe mehr Demokratie einführen wollte: es ging um Mitbestimmung in Betrieben, es ging um das Betriebsverfassungsgesetz. Ein anderer Bereich, in dem die Frage der Mitbestimmung sehr intensiv diskutiert wurde, ist die Schule. Hierbei ging es darum, dass sich Schülerinnen und Schüler an der Gestaltung des Schullebens beteiligen. Inzwischen ist es sogar so weit, dass es entsprechende gesetzliche Regelungen gibt, die in den verschiedenen Feldern das Mitspracherecht und zum Teil auch das Mitgestaltungsrecht verbindlich regeln. Dies betrifft nicht bloß diejenigen, die auf Dauer in diesen Einrichtungen arbeiten, es betrifft zum Teil auch die Nutzerinnen und Nutzer. So formuliert etwa das Weiterbildungsgesetz in Nordrhein-Westfalen ausdrücklich die Pflicht für die Trägerorganisationen, dass die Teilnehmenden an den Weiterbildungsprogrammen eine nachzuweisende Beteiligungsmöglichkeit haben müssen.
Das Problem solch sympathischer Begriffe besteht darin, dass sie gerne von allen in Anspruch genommen werden wollen. Gerade im politischen Geschäft braucht man solche Begriffe, die nicht bloß die Köpfe der Menschen, sondern auch ihre Herzen erreichen (Fuchs 2011). Ein gewisser Vorläufer bei der strategischen Nutzung dieses Gedankens war der damalige Generalsekretär der CDU, Kurt Biedenkopf. Er richtete eine Arbeitsgruppe Semantik ein, die die Aufgabe hat, in der Gesellschaft vorhandene positiv besetzte Begriffe zu finden und Nutzungsmöglichkeiten für die eigene Partei auszuloten. Ein wichtiger Begriff, der die Begehrlichkeit der konservativen Partei weckte, war der Begriff der Solidarität. Dieser Begriff stammt aus der Arbeiterbewegung und er erfasst den Zusammenschluss von denjenigen, die wenig Macht haben, um gemeinsam mehr an Stärke zeigen zu können. Solidarität meint das Zusammenstehen von Machtlosen in Notlagen. Am Ende der Besetzung dieses Begriffes – auch dieses Konzept des „Begriffe Besetzens“ wurde seinerzeit entwickelt – hatte man es geschafft, den Bedeutungsgehalt von Solidarität geradezu in sein Gegenteil zu verkehren: Man sprach nämlich jetzt davon, dass der reiche Staat Bundesrepublik Deutschland „solidarischh“ mit der Weltmacht USA bei deren Krieg in Südostasien sein müsse.
In der Pädagogik nennt man solche sympathiebesetzte Begriffe „Pathosformeln“, wie es etwa vor einigen Jahrzehnten der Begriff der Emanzipation eine solche Pathosformel war. Sie ersetzen mühsame Legitimationsanstrengungen, wenn man sein Anliegen mit einer solchen Formel begründet. Im Hinblick auf Partizipation muss man daher sehen, dass - gerade weil der Gegenstand dieses Begriffes eine solch zentrale Bedeutung für unsere demokratische Grundordnung hat - man besonders aufpassen muss, ob er nicht für das falsche Anliegen genutzt wird. Es macht daher Sinn, einige Punkte zu benennen, die zur Theorie, Konzeption und Geschichte des Partizipationsbegriffs gehören und die man kennen sollte, wenn man ihn in der praktischen Arbeit verwendet.
1. Teilhabe als Menschenrecht
Wer an einen Teil denkt, muss zugleich an das Ganze denken, zu dem dieser Teil gehört. Wer diesen Teil haben will (Teilhabe), muss ihn sich zuerst nehmen (Teilnahme). Teilnahme ist also der Teilhabe vorgelagert. Denkt man diesen Ansatz weiter, so muss man berücksichtigen, dass der gewünschte Teil vermutlich bereits in den Händen anderer ist. Das bedeutet, dass das, was man haben will, man anderen nehmen muss und diese bereit sein müssen, es auch wegzugeben. Neben dem Teilnehmen und dem Teilhaben geht es also auch um das Teilen, genauer gesagt um das Aufteilen, und noch genauer: um eine Veränderung der bisherigen Aufteilung. Dies macht deutlich, dass bei diesem Prozess mit Widerstand derer zu rechnen ist, die etwas weggeben müssen. Denn man hat die durchaus berechtigte Angst, dass man nach diesem Prozess weniger hat als vorher.
Ist es daher erwarten, dass dieser Prozess freiwillig und harmonisch geschieht? Vermutlich nicht. Aus diesem Grund hat man Rechte formuliert, die diesen Prozess regulieren sollen. Es gibt dabei nicht nur einfache Rechte, sondern Teilhabe ist sogar einer der am höchsten abgesicherten Begriffe: Er gehört zu dem Bereich der Menschenrechte, Teilhabe ist ein Menschenrecht.
Unter den Menschenrechten gibt es im Wesentlichen zwei große Gruppen: die klassischen Schutz- und Abwehrrechte, die entwickelt worden sind, um den Einzelnen vor Übergriffen insbesondere des Staates zu schützen. Man denke etwa an die berühmte habeas-corpus-Regel, die besagt, dass die Polizei einen Verdächtigen nur 24 Stunden in Gewahrsam nehmen darf. Dann muss dieser einem Richter vorgeführt werden. Die zweite Gruppe von Menschenrechten betrifft Teilhaberechte. Wie der obige Gedanke klargemacht hat, sind Teilhaberechte Umverteilungsrechte. Hier geht es nicht mehr bloß darum, einen Einzelnen zu schützen, es geht darum, dass die einen etwas haben wollen und die anderen etwas geben müssen.
In der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 (Bundeszentrale 2004) finden sich beide Typen von Menschenrechten. Da diese Allgemeine Erklärung jedoch keine Rechtsverbindlichkeit hat, wollte man relativ schnell daraus ein verbindliches Völkerrecht machen. Es war insbesondere die Gattin des ehemaligen amerikanischen Präsidenten Roosevelt, Eleanor Roosevelt, die sich dies als Lebensaufgabe gesetzt hat. Dieser Prozess war allerdings ausgesprochen mühsam, was man schon daran erkennen kann, dass die erste Idee gescheitert ist, nämlich die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte in einem einzigen völkerrechtlichen Pakt zusammenzufassen. Es mussten zwei Pakte werden, die jeweils die Abwehrrechte und die Teilhaberechte erfassten. Und es dauerte fast 20 Jahre, bis entsprechende Textformulierungen für diese beiden Pakte vorlagen. 1966 wurden diese von der Vollversammlung der Vereinten Nationen genehmigt. Allerdings dauerte es dann wiederum zehn Jahre, bis hinreichend viele Staaten diese Pakte ratifiziert hatten, so dass sie erst 1976 in Kraft gesetzt werden konnten.
Interessant ist dabei die Beobachtung, dass man sehr genau zwei Gruppen von Staaten unterscheiden konnte: Die westlichen Staaten mit ihrem liberalen Kapitalismus bevorzugen eindeutig den Pakt, bei dem es um die Abwehrrechte ging, wohingegen die damaligen sozialistischen Staaten eher den zweiten Pakt bevorzugten, bei dem die Umverteilung im Mittelpunkt stand.
Auf ein Problem soll bereits an dieser Stelle hingewiesen werden: auf die Tatsache nämlich, dass Rechte nur so weit gelten, wie man sie in der Praxis auch durchsetzen kann. D.h. es muss Kontrollorgane geben und man muss bei Überschreitung der Gesetze mit Sanktionen rechnen. Offensichtlich ist genau dies ein Schwachpunkt im Völkerrecht.
2. Teilhabe und Teilgabe
Die im ersten Teil vorgenommene einfache Analyse des Prozesses des Teilnehmens lässt sich fortführen. Eine erste Überlegung greift die Tatsache auf, dass man als Teil immer Teil eines Ganzen ist. Dieses Ganze ist kein regelloses Chaos, sondern eine Struktur, eine Ordnung, ein Regelsystem, in das man sich als Einzelner einordnen will und muss. D.h. mit der Teilnahme und der Teilhabe ist die Bereitschaft verbunden, das vorlegende Regelsystem zunächst einmal zu akzeptieren.
Dieses zusammenhängende Ganze ist zudem eine Kooperationsgemeinschaft. Nun haben wir gerade im Bereich der Bildung und Kultur in den letzten Jahren sehr ausführlich diskutiert, dass Kooperation zwar ebenfalls ein positiv besetzter Begriff ist, dass die Praxis der Kooperation allerdings erhebliche Anforderungen an diejenigen mit sich bringt, die kooperieren wollen. Denn es geht nicht einfach darum, dass sich zwei Partner zusammen tun, dass sie beschließen, miteinander zu kooperieren und dass sie aus diesem Kooperationsprozess unverändert hervorgehen. Kooperation bedeutet immer auch sich einzulassen auf den anderen, auf dessen legitime Interessen, und daher ist Kooperation immer auch mit erheblichen Veränderungsprozessen der beiden Partner verbunden. Insbesondere bedeutet Kooperation, dass man nicht alleine seine eigenen Ziele durchsetzen kann, sondern dass man sich mit dem Partner auf gemeinsame Ziele einigen muss. Nur in Ausnahmefällen ergibt sich dabei, dass beide Seiten ihre Vorstellungen in vollem Umfang in dem Kooperationsprojekt realisieren können.
All dies gilt daher auch für den Prozess der Teilhabe: Man wird davon ausgehen müssen, dass beide Seiten zwar legitime Ziele haben, das aber durch die Integration in das Ganze sich auf beiden Seiten erhebliche Veränderungen ergeben. Insbesondere bedeutet dies, dass derjenige, der teilnehmen und seine Teilhabe realisieren will, auch etwas geben muss: Teilhabe ist auf beiden Seiten keine Einbahnstraße, sondern es geht um Geben und Nehmen. Daher übernehme ich den Vorschlag (von Hanne Seitz), dass komplementär zur Teilhabe auch an Teilgabe gedacht werden muss.
Damit eröffnen sich aber auch neue Fragestellungen: Denn wenn jemand etwas geben soll – das wurde bereits oben angedeutet – dann muss er das wollen oder er muss es müssen. Wenn es freiwillig geschieht, dann braucht man Ziele, die man akzeptiert und die gute Gründe für das Geben sind. Falls es nicht freiwillig geschieht, wird man damit rechnen müssen, dass man erhebliche Widerstände zu überwinden hat. In der Geschichte der Menschenrechte ist genau dies zu beobachten: Alle Menschenrechte sind – jedes einzelne für sich – Ergebnis eines langen Kampfes, sind also verbunden mit Aspekten der Macht und Gewalt (Wesel 2010).
3. Teilhabe als Methexis
Das Wort Partizipation hat bekanntlich lateinische Wurzeln. Bei allen lateinischen Fachbegriffen lohnt es sich, danach zu fragen, ob es griechische Vorläufer gibt. Die gibt es in diesem Fall in der Tat, nämlich in dem Begriff der Methexis. Dahinter steht folgende Überlegung: In der platonischen Philosophie sind es ewige Ideen, die das Wesen der Realität ausmachen. Das Wissen des Menschen entsteht dadurch, dass er Anteil hat an diesen ewigen Ideen. Pädagogik besteht daher entsprechend der sokratischen Methode darin, diese möglicherweise verborgenen Ideen ans Tageslicht zu bringen. Dies ist es, was die Hebammenkunst des Sokrates (Mäeutik) beschreibt.
Im Mittelalter schloss man sich diesem Gedankengang an mit einer wichtigen Veränderung: Die ewige Idee, die das Tragende der Welt ist, ist Gott. Und auch hier besteht der Anteil des Menschen an der Welt darin, dass er Anteil an Gott hat.
Diese religiös-theologische Erklärung des Seins des Menschen in der Welt durch einen Bezug zu Gott wurde im Zuge der Neuzeit durch den Prozess der Säkularisierung obsolet. Als Ersatz für diese Verbindung zu ewigen Ideen oder zu Gott formulierte man daher Rechte und insbesondere Menschenrechte. Man kann daher die Menschenrechte – quasi als funktionales Äquivalent der antiken und der mittelalterlichen Methexis - als Säkularisierung eines ehemals theologisch-religiösen Ansatzes begreifen.
Möglicherweise klingt das für viele neuartig, doch ist es in vielen Wissenschaften nachgewiesen, dass zentrale Begriffe Säkularisierungen ehemals theologischer Begriffe sind. In der Pädagogik ist es insbesondere einer der Kernbegriffe, nämlich der der Begriff der Bildung, denn das Bild, das in diesem Wort steckt ist das Bild Gottes (imago dei), die Gottesebenbildlichkeit des Menschen, so wie sie im Alten Testament beschrieben wird: Gott schuf den Menschen im zum Bilde. Der Prozess der Bildung bedeutet daher, dieser Gottesebenbildlichkeit entsprechen zu sollen. Auch der Begriff der Kreativität geht bekanntlich mit seiner Bedeutung des Schöpferischen auf die Schöpfungsgeschichte im Alten Testament zurück.
Im Hinblick auf die Partizipation findet sich dieser Gedanke bei all den Ansätzen, die davon ausgehen, dass Partizipation nur dann gelingt, wenn derjenige, der partizipieren will, sich nicht nur oberflächlich das Ziel des Ganzen, in das er aufgenommen werden soll, zu eigen macht, sondern geradezu für dieses Ziel „brennt“.
4. Gründe für die Teilhabe
Wie oben angedeutet, braucht der Mensch nicht bloß Gründe für eine Teilhabe, sondern insbesondere auch Gründe für die Teilgabe, also für das, was er möglicherweise aufgeben muss. Hierfür kann man unterschiedliche Begründungen anführen. Eine erste Begründung besteht etwa darin, dass man aus Überzeugung geben will. Auch dies ist ein zutiefst christlicher Gedanke, denn man findet bereits in der Bibel die Aussage: Geben ist seliger denn Nehmen. Diese Aussage wurde durchaus in der Geschichte ernst genommen, etwa bei der Gründung der sogenannten Bettelorden. Es ist kein Zufall, dass der derzeitige Papst, der nach kurzer Amtszeit bereits als Papst der Armen etikettiert wird, sich den Namen Franziskus gegeben hat.
Nun sind vermutlich die wenigsten bereit, freiwillig etwas wegzugeben. Realistischer ist vielmehr die Annahme, dass man sich einen Nutzen davon verspricht, wenn man etwas weggibt. Ein solcher Nutzen muss dann auch kalkulierbar sein. Mit diesem Ansatz befindet man sich mitten in dem, was die großen Theoretiker der bürgerlichen Gesellschaft, die Soziologen Max Weber, Werner Sombart und Georg Simmel, um die Jahrhundertwende 1900 als Wesen des Kapitalismus charakterisiert haben: nämlich seine Rechenhaftigkeit, seine Orientierung am individuellen Nutzen und dessen Kalkulierbarkeit.
Es gibt natürlich auch pädagogisch-psychologische Argumente. Ein wichtiges Grundlagenpapier zur Partizipation hat etwa das Bundesjugendkuratorium im Jahre 2006 veröffentlicht (BJK 2006). Das Kernargument dieses Papieres, warum es für den Einzelnen sinnvoll ist, partizipieren zu wollen, besteht in der Selbstwirksamkeit: Man muss spüren (und zwar auf beiden Seiten), es bringt mir etwas, wenn ich partizipiere, es wird eine Wirkung meiner Partizipation sichtbar, die mich spüren lässt, dass ich für das Ganze eine Bedeutung habe. Offensichtlich ist dieser Gedanke mit so wichtigen Begriffen die Anerkennung und Wertschätzung verbunden. Es ist daher kein Zufall, dass in vielen aktuellen Persönlichkeitstheorien das Konzept der Selbstwirksamkeit eine zentrale Rolle spielt (Pervin 2000).
5. Teilhabe als Menschenrecht 2
Die Tatsache, dass kulturelle Teilhabe ein Menschenrecht ist, bedeutet, dass sowohl die Politik- als auch die Rechtswissenschaften sich legitimerweise mit dieser Thematik befassen können. Daneben gibt es inzwischen einen elaborierten Diskurs in der Philosophie, etwa über die Frage nach dem Menschenbild, das hinter den Menschenrechten steht. So sind etwa die philosophischen Disziplinen der Ethik und der Anthropologie ebenfalls zuständig für eine Debatte über das Menschenrecht der kulturellen Teilhabe. Im Hinblick auf das Menschenbild hat sich das Problem ergeben, dass man sehr genau sagen kann, vor welchem geistigen Hintergrund und in welcher geographischen Region die Menschenrechte entstanden sind. Es ist Europa, vor allen Dingen das Europa der Renaissance, in dem die Idee eines autonomen Individuums, einer Persönlichkeit und einer Person als Trägerin von Rechten entstanden ist (Fuchs 2001). Bei den Menschenrechten ist dies spürbar, weil es sich um Individualrechte handelt und Gruppenrechte keine Rolle spielen. Im Bereich der Künste ist es allerdings so, dass in den meisten Teilen der Welt die Entstehung und das Praktizieren der Künste ein kollektiver Prozess ist. Das Urheberrecht, das seine Basis in entsprechenden Menschenrechten findet (Recht am geistigen Eigentum) ist jedoch ein Individualrecht, so dass Gruppenrechte bei der Vergütung von geistigem Eigentum nicht berücksichtigt werden. Dieser individualistische Ansatz der Menschenrechte führt immer wieder zu Protesten, zuletzt bei der großen Menschenrechtskonten Konferenz in Wien im Jahre 1993, bei der es gelungen ist, erstmals das Recht auf Entwicklung nicht bloß von Einzelnen, sondern auch von Gruppen als Menschenrecht anerkennen zu lassen.
Wer sich auf eine Argumentation mit Menschenrechten einlässt, muss den inneren Zusammenhang und ihre Logik respektieren. So sind Menschenrechte unteilbar und es gibt keine Hierarchie unter ihnen. Auch wenn es für jedermann unmittelbar einsichtig zu sein scheint, dass etwa das Recht auf körperliche Unversehrtheit ein prioritäres Recht ist, auch wenn Brecht sagt, dass erst das Fressen käme und dann erst die Moral käme, so stimmt dies nicht mit der Philosophie der Menschenrechte überein. Alle Menschenrechte sind untereinander gleich, sodass das Recht auf kulturelle Teilhabe gleichberechtigt neben dem Recht auf körperliche Unversehrtheit steht. Dahinter steckt das Bild eines voll entwickelten Menschen, bei dem es nicht bloß um biologisches Überleben geht, sondern der seine Menschlichkeit erst dann entfalten kann, wenn seine Fähigkeiten, Interessen und Handlungsmöglichkeiten voll entwickelt sind.
Ein zweiter Aspekt in diesem Kontext ist die universelle Gültigkeit der Menschenrechte. Es ist nicht zulässig, etwa aus Gründen einer nachzuholenden ökonomischen Entwicklung, in bestimmten Regionen Ausnahmen zu machen.
Menschenrechte gelten zudem für alle. Vor diesem Hintergrund ist es möglicherweise befremdlich, dass es eine erhebliche Redundanz unterschiedlicher völkerrechtlich relevanter Pakte und Konventionen gibt. So findet sich – zum Teil mit identischer Formulierung – das Menschenrecht auf kulturelle Teilhabe nicht bloß in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und den dazugehörigen Pakten, sondern auch in der Behindertenrechtskonvention, in der Kinderrechtskonvention oder in der UNESCO Konvention zur kulturellen Vielfalt. Man kann sich daher fragen, warum diese Redundanz nötig ist. Der Grund besteht darin, dass wir offenbar dazu neigen, dann doch Ausnahmen zu machen: Müssen Frauen tatsächlich wählen (so wurde das Frauenwahlrecht in der Schweiz erst im Jahre 1971 und in Liechtenstein erst im Jahre 1984 eingeführt). Müssen Menschen mit Behinderung wirklich an Politik partizipieren? Können die das überhaupt? Sollte man Kindern tatsächlich zumuten, sich politisch zu engagieren? Wegen dieser immer wieder vorgetragenen Wünsche, Ausnahmen zu machen, war es daher notwendig, für spezielle Menschengruppen gesonderte Konventionen zu formulieren und zu verabschieden.
6. Verschiedene Teilhabeformen
Man kann – auch im Kontext der Menschenrechte – eine ökonomische, politische, soziale und kulturelle Teilhabe unterscheiden. Alle hängen aufs engste miteinander zusammen, wie man etwa an den PISA-Ergebnissen erkennen kann: Die Schulleistungen der Schülerinnen und Schüler hängen aufs engste damit zusammen, aus welcher Familie sie stammen.
Es gehört auch zur westlichen Tradition, dass man immer wieder die politische Teilhabe daran gebunden hat, dass Eigentum vorliegt. Selbst die ersten Theoretiker einer parlamentarischen Demokratie wie etwa John Locke plädierten für ein Eigentum als Voraussetzung einer politischen Partizipation. Ein Grund für diese Verbindung bestand in der Idee, dass nur derjenige unabhängig in der Politik urteilen kann, der über eine ökonomische Unabhängigkeit verfügt.
Trotz dieser Zusammenhänge der unterschiedlichen Teilhabeformen ist es sinnvoll, sie voneinander zu unterscheiden. Denn es gibt jeweils unterschiedliche Stellschrauben und Mittel, die zu ihrer Realisierung beizutragen. So unterscheidet man etwa die vier großen A: availability, accessability, acceptability und adaptability. In Deutschland hat der renommierte Sozialpolitikforscher Franz Xaver Kaufmann (1997) die Möglichkeiten politischer Einflussnahme im Hinblick auf soziale Teilhabe durchdekliniert und die Kriterien der Erreichbarkeit, der Bezahlbarkeit, der rechtlichen Zugänglichkeit und der Bildung unterschieden.
Im Hinblick auf Künste und ästhetische Praxen ist spätestens an dieser Stelle auf die Arbeit des französischen Kultursoziologen Pierre Bourdieu hinzuweisen, der in umfangreichen Studien nicht bloß gezeigt hat, dass sich bestimmte ästhetische Praxisformen, Rezeptionsweisen und Präferenzen sehr klar bestimmten gesellschaftlichen Gruppen (Milieus und Lebensstilgruppen) zuordnen lassen, sondern dass sie zusätzlich einen erheblichen Einfluss darauf haben, über welche Machtposition der Betreffende in der Gesellschaft verfügt. Der Umgang mit Kunst ist also keineswegs eine harmlose Freizeitbeschäftigung, sondern er trägt entscheidend dazu bei, in welcher Weise sich die Gesellschaft verändert oder stabil bleibt. Aufgrund dieser politischen Bedeutung einer ästhetischen Praxis setzte sich Bourdieu sehr stark dafür ein, dass in einem vom Staatspräsidenten bei dem Collège de France in Auftrag gegebene nationalen Curriculum eine ästhetische Alphabetisierung für alle verankert wird.
7. Das Menschenrecht auf Teilhabe und die Möglichkeit von Sanktionen
Es wurde bereits oben angedeutet, dass Rechte nur insoweit eine Relevanz haben, wie man ihre Einhaltung kontrollieren bzw. Verstöße dagegen sanktionieren kann. Wie steht es damit bei den Menschenrechten. Im Bewusstsein der Öffentlichkeit sind die Blauhelme eine Art Polizei der Vereinten Nationen. Es gibt einen Sicherheitsrat, der darüber entscheidet, wo und wann solche Blauhelme eingesetzt werden. Ein solcher Einsatz ist im Hinblick bei Verstößen gegen die unterschiedlichen Ansprüche auf Teilhabe nicht möglich. Es gibt keine Blauhelme, obwohl etwa die Ergebnisse der ersten PISA-Studie in Deutschland, der zufolge 20 % der getesteten Jugendlichen bestenfalls die unterste Kompetenzstufe erreichen (weswegen eine gesellschaftliche Teilhabe schlechterdings nicht möglich ist), einen solchen Blauhelmeinsatz durchaus gerechtfertigt hätten. In diesem Bericht ist sogar davon die Rede, dass unser deutsches Schulsystem ein System einer „strukturellen Demütigung“ ist.
Als Ersatz für eine nicht vorhandene Polizei hat jeder der völkerrechtlich relevanten Pakte ein internes Kontrollverfahren. So müssen die Mitgliedstaaten in regelmäßigen Abständen (meist sind es vier Jahre) einen Umsetzungsbericht dem Menschenrechtsausschuss der Vereinten Nationen in Genf vorlegen, in dem sie zeigen, inwieweit sie Wort und Geist des betreffenden Paktes im eigenen Land realisieren. Solche Staatenberichte kann man durchaus politisch nutzen, wie es etwa bei der Nationalen Koalition, die sich zur Umsetzung der Kinderrechtskonvention in Deutschland (und in anderen Ländern) gegründet hat, getan wird. In der Tat ist es so, dass diese Staatenberichte sehr genau gelesen werden und – wie im Falle von deutschen Staatenbericht zur Umsetzung der Kinderrechtskonvention häufiger geschehen – umgehend zurückgeschickt werden, weil die Berichte die Kriterien nicht erfüllen. So hatte man in einem entsprechenden deutschen Staatenbericht lediglich die Rechtsvorschriften aufgelistet, die im Umgang mit Kindern und Jugendlichen in Deutschland bestehen; der Menschenrechtsausschuss wollte aber etwas über die Lebenswirklichkeit der Kinder und Jugendlichen wissen. Auch bei der UNESCO Konvention zur kulturellen Vielfalt wurde inzwischen ein Staatenbericht von Deutschland vorgelegt, der allerdings keineswegs so gründlich evaluiert wurde, wie das bei den Menschenrechtspakten geschieht.
8. Partizipation zwischen Pädagogik und Politik
Dass Partizipation ein zentrales Prinzip politischen Handelns ist, ist selbstverständlich. Partizipation spielt allerdings auch in pädagogischen Kontexten eine große Rolle. Man muss nur etwa an die Prinzipien von Bildung als Koproduktion bzw. der Subjektorientierung in einer zeitgemäßen Pädagogik denken. Die Frage ist jedoch, in welchem Verhältnis pädagogische und politische Partizipation zueinanderstehen. Einen ersten Hinweis geben Transferstudien, die verdeutlichen, dass die politische Partizipation von Jugendlichen deutlich höher ist, wenn sie eine partizipative Erziehung zu Hause genossen haben: Partizipation in der Familie ist offenbar eine wichtige Gelingensbedingung dafür, dass später politische Partizipation gewollt und betrieben wird. Meines Wissens weniger untersucht ist bisher, inwieweit eine pädagogische Partizipation in anderen Erziehungsinstitutionen einen Einfluss auf die spätere politische Partizipation hat. Ich denke, es ist nicht unvorsichtig, davon auszugehen, dass es eine solche positive Korrelation gibt: Partizipation kann man im Kleinen lernen, um sie später im Großen zu betreiben. Andererseits muss jedoch beachtet werden, dass man offenbar in Deutschland im internationalen Vergleich dazu neigt, politische Probleme zu pädagogisieren. Man erinnere sich etwa, als Kinder- und Jugendkriminalität ein öffentlich diskutiertes Thema wurde, man mit pädagogischen Zusatzprojekten darauf geantwortet hat. Ähnliches kann man sehen, wenn es wieder einmal eine Debatte über Rechtsextremismus gibt. Dabei geht es nicht darum, dass entsprechende Projekte nicht sinnvoll sein können. Es steckt dahinter allerdings die Überlegung, dass man politische Probleme auf pädagogischem Wege – und dies auch noch mit relativ geringen Ressourcen – lösen könne. Dagegen muss sich Pädagogik wehren, damit politische Probleme nicht auf pädagogischem Wege entsorgt (und eben nicht gelöst) werden. Daraus ergibt sich die Reflexionsaufgabe, steht sehr genau zu überlegen, in welche Kategorie der Partizipation seine eigenen Anstrengungen gehören.
9.Partizipation und Widerständigkeit
In vielen aktuellen persönlichkeitstheoretischen Konzeptionen spielen Widerstandsressourcen eine zentrale Rolle (Antonovski, Bandura etc.). Bei den historischen Hinweisen wurde bereits erwähnt, dass das Recht auf Partizipation gegen erhebliche Widerstände durchgesetzt werden musste. Man musste eine erneute Aufteilung von Beteiligungsrechten von denjenigen erkämpfen, die sie hatten und die sie nicht abgeben wollten. Die Geschichte der Teilhaberechte ist also ein Kampf, der sehr viel mit Gewalt zu tun hat.
Es gibt allerdings auch die andere Seite, dass man nämlich zum Mitmachen gezwungen wird, ohne dass man partizipieren möchte. Beispiele in der Geschichte waren etwa die Zwangsmitgliedschaften in nationalsozialistischen Organisationen. Widerständigkeit besteht hier darin, sich gegen eine solche Aufforderung zur Wehr zu setzen, also nein sagen zu können (Fuchs 2016).
Widerständigkeit kann man allerdings auch erleben, wenn man sich in dem Ganzen, das einen aufgenommen hat, letztlich mit seinen Ideen nicht oder nur zum Teil durchsetzen kann. Hier zeigte sich, dass zur Partizipation ein erhebliches Maß komplexer Persönlichkeitsdispositionen gehört: Kompromissfähigkeit, Empathie, die Bereitschaft, Interessen anderer als legitim zu respektieren. Es gehört zwar einerseits die Akzeptanz von Mehrheitsentscheidungen dazu, allerdings muss auch berücksichtigt werden, dass es in jeder demokratisch organisierten Gesellschaft auch einen Minderheitenschutz geben muss. Man muss zudem in der Lage sein, Abstriche von seinen eigenen Zielen und Vorstellungen zu machen. Insgesamt geht es darum, Mehrheiten zu suchen und Konflikte auszuhalten. In der Soziologie spricht man hier etwa von Mikropolitik. Daraus folgt, dass Partizipation ein durchaus anspruchsvolles Geschäft ist, bei dem man zudem nicht erwarten kann, dass es stets harmonisch verläuft.
10. Partizipation und Überforderung
Einen wohlmeinenden Schutz vor einer möglichen Überforderung habe ich bereits oben dort angesprochen, wo man Ausnahmen von der Gültigkeit der Menschenrechte machen wollte: Man will doch die Frauen, die Kinder, die Menschen mit Behinderung nur vor einer Überforderung schützen, die durch die jeweilige Partizipation entstehen könnte. Dass dies nicht rechtens ist, ist der Inhalt der entsprechenden völkerrechtlich gültigen Konventionen.
Trotzdem kann es auch jenseits dieser Ausschlussbemühungen zu einer Überforderung kommen. Man denke etwa an Betriebe, in der es eine hohe Kultur der Mitbestimmung gibt. Dies kann dazu führen, dass nicht bloß alle immer alles wissen wollen, man will auch über alles mitreden und vor allen Dingen alle Entscheidungen mittreffen. An dieser Stelle kommt das Problem der Verantwortlichkeit ins Spiel: Man muss mögliche Sanktionen mittragen, wenn man falsche Entscheidung getroffen hat. An dieser Stelle schwindet gelegentlich die Bereitschaft zur Partizipation.
Ein anderes Beispiel für eine Überforderung ist die Gesamtschule. Nach wie vor lebt die Idee der Gesamtschule als einer demokratisch organisierten Schule, was insbesondere bedeutet, dass nicht nur Schülerinnen und Schüler, sondern auch Lehrerinnen und Lehrer eine Gesamtverantwortung für die Schule übernehmen. Das bedeutet, dass der Kommunikationsaufwand erheblich ist, so dass es in Gesamtschulen – etwa im Vergleich zu Gymnasien – sehr viele Arbeitsgruppen gibt, in denen einzelne Probleme diskutiert und bearbeitet werden. Dies wiederum ist der Grund dafür, dass viele Lehrerinnen und Lehrer an der Gesamtschule über die Last einer großen Zahl von Arbeitsgruppen klagen. D.h., es ist der alltägliche Widerspruch zwischen einem Anspruch auf Partizipation und der Arbeitsbelastung, die durch diese Partizipation entsteht.
Ein weiteres Beispiel sind aktive Eltern, die die Notwendigkeit einsehen, aktiv in den Bildungseinrichtungen ihrer Kinder mitzuwirken, zugleich Mitglieder einer Bürgerinitiative sind, die für eine Fußgängerampel an einer verkehrsreichen Straße kämpft, sich in der Gewerkschaft oder Partei engagieren und möglicherweise auch im Rahmen einer Hausgemeinschaft die entsprechenden gemeinsamen Anliegen diskutieren und klären wollen. In dieser Situation wird aus der Partizipation leicht ein Fulltimejob mit dem Ergebnis, dass die Betreffenden nach kurzer Zeit ausgebrannt sind.
Was ist die Lösung in einer solchen Situation? Der Philosoph Martin Seel (2002) hat ein Buch mit dem Titel „Sich bestimmen lassen“ geschrieben. Er bezog dies zwar auf ästhetische Kontexte, doch gilt dies auch für viele Fälle im Alltag: Kein Mensch kann alle seine Lebensvollzüge vollständig kontrollieren. Er muss viele Regeln einfach hinnehmen und Vertrauen in die Institutionen haben, in die er sich begibt. Man denke etwa an einen Patienten, der sich in einem Krankenhaus operieren lassen will. Vertrauen ist also ein wichtiges Prinzip, da es davon entlastet, alles kontrollieren zu wollen. Vertrauen kann man allerdings missbrauchen, wie man etwa an den Missbrauchsskandalen in der Odenwaldschule erkennen kann. Daher ist es eine Bringschuld einer Organisation, die Vertrauen von ihren Nutzern beansprucht, ständig zu überprüfen, inwieweit sie ein solches Vertrauen auch verdient.
11. Partizipation und die Ambivalenz der Gleichheit
Neben Freiheit ist Gleichheit ein zentrales Prinzip einer modernen demokratischen Gesellschaft. Gleichheit bedeutet, dass alle das gleiche Recht zur Teilhabe haben. Dies ist etwa ein fundamentales Prinzip in der Rechtsprechung, bei der allzu lange Standesunterschiede zu einer Ungleichbehandlung geführt haben. Allerdings muss man sehen, dass sich bei aller Gleichbehandlung die betreffenden Akteure mit unterschiedlichen Ressourcen an der Partizipation beteiligen. Zudem tritt immer wieder der Fall auf, dass eine Gleichbehandlung von Ungleichem zu Ungerechtigkeiten führt. Ein Beispiel, das ich selbst erlebt habe, war die Einführung der „Methode der offenen Koordinierung“ im Bereich der Kommission der Europäischen Union. Alle sollten bei der Lösung eines bestimmten Problems mitreden können, was dazu führte, dass ein ausgesprochen heterogener Kreis von Menschen zusammentraf, die alle möglichen Vorstellungen einbrachten. Es wurden dabei individuelle Einzelmeinungen als gleichwertig zu solchen Vorschlägen betrachtet, hinter denen ein aufwändiges demokratisches Verfahren in großen Verbänden stand. Der Gewinner dieses Spiels war die Verwaltung, der es leicht fiel, für ihre von Anfang an feststehenden Vorstellungen irgend einen Vertreter zu finden, der sie in die Debatte eingebracht hat, wodurch die Verwaltung mit einer gewissen Berechtigung eine Legitimation ihrer Entscheidung beanspruchen konnte. Hier ist die Durchsetzung eines abstrakten Prinzips der Gleichheit und der Gleichbehandlung nichts anderes als eine Strategie der Entmachtung von solchen Positionen, die man nicht realisieren möchte.
Auf einer ähnlichen Ebene befindet sich das Prinzip des „Einbindens“, man nimmt mögliche Gegner der eigenen Position „ins Boot“, was heißt, dass man die Verantwortung für die von einem selbst gewollte Entscheidung auf andere überträgt.
12. Wieviel Gemeinsamkeit brauchen wir?
Alle Jahre taucht in der politischen Debatte der Begriff der „Leitkultur“ auf. Eingebracht wurde er seinerzeit von dem Göttinger Politikwissenschaftler Bassam Tibi, der darunter die Tradition der Menschenrechte verstand, so wie sie in Europa entstanden sind. In der deutschen Debatte wurde daraus eine deutsche Leitkultur, also ein Kanon verbindlicher kultureller Inhalte, die die Menschen kennen mussten, wenn sie in der deutschen Gesellschaft aufgenommen werden wollten. Die Akzeptanz einer Leitkultur war also die Bedingung dafür, dass eine Integration (im Verständnis der Befürworter einer solchen Leitkultur) gelingt. Dies führte zu solch abstrusen Vorstellungen, dass man einen jungen Mann, dessen Vorfahren irgendwann einmal aus der Türkei nach Deutschland ausgewandert sind, nur dann als integriert betrachten kann, wenn er bei einem Länderspiel Türkei gegen Deutschland nicht für die Türkei jubelt.
Seriöser sind die Vorstellungen des Bundestagspräsident Norbert Lammert, der darauf hinweist, dass zwar das Grundgesetz die verbindliche Basis unseres Zusammenlebens ist, dass aber die formale Einhaltung rechtlicher Regeln nicht genügt, damit eine Integration (und damit eine Partizipation derer, die diese Integration haben wollen) als gelungen betrachtet werden kann. Es muss noch etwas dazu kommen, etwa eine geteilte Grundüberzeugung, die das Ganze zusammenhält. Dies ist der Gedanke, der in den ersten Abschnitten unter dem Begriff der Methexis diskutiert worden ist. Das zentrale Problem besteht hierbei darin, zu definieren, was dieses Zusätzliche ist, das zu der Akzeptanz des Grundgesetzes dazukommen muss, damit die Partizipation und Integration gelingen. Ist es zu wenig, dann besteht die Gefahr einer bloß formalen Teilhabe, verlangt man aber zu viel, dann schießt man offensichtlich über das Ziel hinaus.