Parität als Auftakt – Ergebnisse eines Lern-Lehr-Forschungsprojekts zur Zusammenarbeit von Kindern und Erwachsenen in der Jury des DKTF
Machtkritische Reflexionen zur Juryarbeit des 8. Deutschen Kinder-Theater-Festes 2018: Plädoyer für eine Kulturarbeit des spielerisch-experimentellen Zusammenwirkens von Kindern und Erwachsenen und für die Überwindung von Binarität, Rollen- und Bewertungstraditionen in Kulturprojekten
Abstract
Partizipation sollte in einer Demokratie mit dem Grundsatz einer ‚Kultur von allen für alle‘ selbstverständliche Praxis sein. Die paritätische Besetzung einer Jury, in der Kinder gemeinsam mit Erwachsenen entscheiden, ist ein Novum, das diesen Anspruch unterstreicht. Aber auch hier können sich Hierarchien manifestieren oder reproduzieren, die im umfassenderen Sinne eher befragt und bewegt werden müssen. Denn vorgängige soziale Wahrnehmungsmuster wirken grundlegend und möglicher Weise quer zu partizipativen Innovations- und Bildungsansprüchen im Bereich von Kunst und Kultur. In der Konzeption und Durchführung von kulturellen Projekten – zu denen auch das Kuratieren von Festivals gehört – liegt gleichsam aber auch die Chance, vorgängige Rollenkonstruktionen aufzulösen und spielerische Verfahren des Zusammenwirkens zu erfinden.
Vor dem Hintergrund der von der BAG Spiel & Theater beauftragen Begleitforschung der Juryarbeit des DKTF 2018 wird im Folgenden der Umgang mit Kategorien wie Kinder/Erwachsene; Expert*innen/Lai*innen befragt und eine machtkritische als spielerisch-experimentelle Konzeptionierung der Zusammenarbeit angeregt. Sie zielt auf ein Zusammenwirken in Bezug auf eine zu verhandelnde Sache, bei der verabredete Aufmerksamkeitsrichtungen dezidiert vermieden werden. Stattdessen werden persönliche Zugänge und Resonanzen zur Sache fokussiert und transparent in interpersonale und transparente Aushandlungsprozesse überführt. Es wird gezeigt, dass strukturelle Parität dann einen umfassend politisch, sozial, künstlerisch und bildungsorientierten Mehrwert befördert und Mehrperspektivität als Grundlage für gelebte Diversität und Demokratie wirksam werden lässt.
Erstmals wurde seitens der Bundesarbeitsgemeinschaft (BAG) Spiel & Theater beim 8. Deutschen Kinder-Theater-Fest (DKTF) eine paritätisch besetzte Jury aus Kindern und Erwachsenen zur Auswahl der Stücke initiiert. Dies geschah, um ein partizipatives Angebot zu schaffen, „das Kindern die Möglichkeit gibt, Aushandlungsprozesse mitzugestalten und sich als einflussnehmende und impulsgebende Akteur*innen zu erleben“ (BAG Spiel & Theater, Flyer zur Fachtagung Gestaltungs(t)räume Spiel & Theater 2019). Wissenschaftlich begleitet wurde die Jury durch Kulturwissenschaftler*innen und Studierende der Fachhochschule Dortmund (Profilstudium: Theater als Soziale Kunst (TaSK). Während Christoph Scheurle und Daniel Cosic mittels teilnehmender Beobachtung Partizipationsmodi in den Juryprozessen untersuchten (siehe: Christoph Scheurle/Daniel Cosic „Auf Augenhöhe gemeinsam entscheiden? Begleitforschung zur Jury-Arbeit beim Deutschen Kinder-Theater-Fest"), widmete ich mich innerhalb eines seminaristischen Lehr-Lern-Forschungsprojekts mittels Interviewbefragung den juryinternen Rollenkonstruktionen (Wer bin ich als Jurymitglied?/Was ist die Aufgabe eines Jurymitglieds?/Mit wem arbeite ich und wie?) im Partizipationsprozess.
Aus dieser begleitenden Perspektive werden im Folgenden Denkanstöße und Handlungsempfehlungen zukünftiger Jury-Konzeptionen für eine Zusammenarbeit von Erwachsenen und Kindern hergeleitet, die übergeordnet auch für die Grundlegung eines kulturarbeiterischen Selbstverständnisses stehen. Die Argumente resultieren sowohl aus der Beschäftigung mit dem Jury-Verfahren als auch mit dem Festival selbst und den damit verbundenen Fachtagungsreflexionen. Die zentralen Gedanken werden hier ausschnitthaft in Form von Kurzberichten von Ereignissen akzentuiert, ausgehend von einem Seminar an der Hochschule, der Interviewsituation, dem Festival mit Podiumsgespräch bis hin zu Reflexionsrunden auf einer auswertenden Fachtagung.
Aus der Perspektive einer im besten Sinne ‚Kritischen Freundin’ werden gezielt Denkanstöße und Impulse entwickelt. Grundlegend ist dabei das hier als Frage formulierte Ausgangsproblem, das den Partizipationsdiskurs und seine Praxis meines Erachtens selbst verfolgt: Wenn von Partizipation gesprochen wird, was ist damit in der Konkretion des Kontextes gemeint und intendiert? In den drei nachstehenden Schritten wird ein Verlaufsprotokoll der kritischen Reflexion mit Ergebnisthesen in Handlungsempfehlungen überführt. Das abschließende Plädoyer kontextualisiert das Zusammenwirken von Kindern und Erwachsenen ausblickhaft in einem größeren Zusammenhang von Kulturarbeit.
Mitgestaltung, Einflussnahme und Impulsgabe: Was ist möglich und geht das zusammen?
Die Stichworte, die den im Konzept und Flyer genannten Anspruch (s.o.) der partizipatorischen Juryarbeit beschreiben, klingen vielversprechend. Ohne Kontextualisierung und Konkretion laufen Mitgestaltung, Einflussnahme und Impulsgabe allerdings Gefahr zum Selbstzweck zu werden (vgl. Haker/Schmechel 2016). Faktisch steht Partizipation zwar im Dienst der Kinderrechte – aber was heißt das für die Kulturarbeit und den Theaterkontext? Im seminaristischen Lehr-Lern-Forschungsprojekt an der FH Dortmund beschäftigten wir (d.h. eine Gruppe von Studierenden und ich als Dozentin) uns mit der möglichen Ausdeutung dessen, was das präzisierte Ziel einer partizipatorischen Arbeit im Kontext einer Jury für ein Theaterfestival sein kann und kamen zu folgenden Überlegungen:
- Teilhabe an künstlerisch-gestalterischen, konzeptionellen und kuratorischen Prozessen kann die Zugänge zur (Theater-)Kultur akzentuieren, damit die Beteiligung an der Juryarbeit als ‚Türöffner’ zu kulturellen Bildungskontexten organisieren und erweitert als Raum für ästhetisch-kulturelle Bildung ansehen und gestalten.
- Zudem kann die Aufmerksamkeit auf den Mitentscheid und die möglicherweise durch eine Kind- und Jugendlichen-Perspektive veränderte Bewertung (hier: Auswahl) der zu zeigenden Festivalaufführungen gerichtet sein. In einem solchen Fall stünde mit der Beteiligung das Kunstverständnis zur Debatte (und ein intergenerationeller Blick oder lebensweltliche Perspektiven würden mutmaßlich zum dezidierten Bezugspunkt für Beteiligung).
- Noch grundlegender werden partizipatorischer Anspruch und praxeologische Konsequenz, wenn es zuvorderst um die Überwindung von Adultismus, also einer machtstrukturellen Diskriminierung von Kindern durch Erwachsene geht (vgl. Ritz 2008).
Das Deutsche Kinder-Theater-Fest hat beim letzten Festival – welches 2018 in Minden stattfand und in 2022 seine Fortführung in Lübeck finden wird – hier im Vorfeld keine zielorientierte Priorisierung vorgenommen. Ob sich ein Synergieeffekt einstellen kann, alle drei Dimensionen ineinander aufgehen, erscheint als plausible Hoffnung. Doch ist es ebenso sinnvoll, in den Blick zu nehmen, dass sich die drei Dimensionen pädagogischer, künstlerisch-ästhetischer und sozialer Aufmerksamkeitsrichtungen und Ansprüche auch widersprüchlich herausfordern können. Alle drei Perspektiven in einem Konzept zu fokussieren, kann zu Konflikten führen. Auf diesen Umstand weisen auch Cosic und Scheurle hin, wenn sie bemerken, dass es zu paradoxalen Situationen führen kann, „wenn einerseits und ausdrücklich eine spezifische Expertise – etwa des kindlichen Blicks – eingefordert wird und andererseits die Formen der Partizipation zum Bildungsprojekt erklärt werden“ (Cosic/Scheurle 2022). Widersprüche können noch verschärft oder verzweigter werden, wenn die soziale Umgangsweise und wechselseitige Projektion der Macher*innen und Beteiligten im Hinblick auf ihr Verständnis von Kindheit, Bildung und Gesellschaft divergieren. Letztlich sind es neben faktischen Gegebenheiten (bspw. Aufgabenstellungen) immer auch Menschen- und Weltbilder und persönliche Dispositionen, die als Einschätzung bspw. von kindlichen und erwachsenen Konstitutionen, Voraussetzungen und Verhaltensmöglichkeiten und -zielen in der Zusammenarbeit kollidieren können.
Für uns als Seminargruppe war entsprechend mit der Bitte, den paritätischen als partizipatorischen Prozess begleitend anzuschauen und zu reflektieren, obsolet, nach dem Ob einer spezifischen Intention zu fragen. Es konnte nur eine phänomenologische Annäherung an das Beteiligungsformat und seine Neuerungen adäquat sein, um von hier aus weiter grundlegend und vertiefend über partizipatorische Gelingensideen und -weisen nachzudenken.
Mit dieser Entscheidung ging es uns also darum, dem Wie der Wahrnehmung zu folgen, und zwar in Form einer punktuellen und spontanen Selbst- und Arbeits-Reflexion der Jury-Mitglieder inmitten des Prozesses. „Der Fülle des Erscheinens“ beschlossen wir „in einer Aufmerksamkeit für das Hier und Jetzt der wahrgenommenen und vorgestellten Phänomene“ (Seel 2007:103) zu begegnen, und zwar so, wie sie sich in dem Augenblick einer spontanen Interviewsituation darbieten würden. Dabei galt es im nächsten Schritt unseren Zugang und unser Selbstverständnis der Arbeit näher zu konturieren:
Eindrücke sammeln als Herausforderung: Vorbereitung einer Stippvisite bei einer cultural perfomance
Sensibilisiert für die genannten Partizipations-Dimensionen mit ihren Diskurs-Bezügen, beschlossen wir, das Juryverfahren als eine cultural performance von Expert*innen, die eine Festivalauswahl treffen, zu begreifen. Ein Projektereignis, das – in Anlehnung an Erving Goffmann (1969) und Gabriele Brandstetter – in einen Rahmen gesetzte Auftritte ermöglicht und wahrnehmbar macht (vgl. Brandstetter 2015). Wie diese Auftritte allerdings für die Mitglieder selbst und wechselseitig voreinander wahrnehmbar werden und wurden – und in der Sichtung der Interviews auch für uns Prozess-Besucher*innen spezifisch wirkten – interessierte uns.
Maßgeblich betrachteten wir die Juryfunktion also nicht nur als Rolle, die sich hinsichtlich ihrer „Spielvorgaben oder Handlungsmuster“ (Roselt 2005:105) reflektieren lässt. Wir bedachten vor allem die „dichotome Formation“ (ebd.) der damit erscheinenden Figur, die sich aus spezifischen Anteilen von Rolle und Person aufbaut und dessen Konstitution während einer Jurysitzung wie in einer Aufführung „permanent destabilisiert und neu formiert werden kann“ (ebd.). In diesem Sinne beschlossen wir, uns mit einem dezidiert offenen Fragenkatalog dem Prozessualen der Aufgabenbewältigung, Jurymitglied zu sein, zu widmen.
Mit dem Fokus auf die Rollenbeschreibungen und -reflexionen der Jurymitglieder entschieden wir zudem, uns so auch nur indirekt über die Setzungen, Spielregeln und Formatierungen des Grundverständnisses der Arbeit zu informieren – und zwar anhand dessen, was sich zu einem Stippvisitentermin per Interview entsprechend destillieren ließ. Auch Aussagen über die anderen Mitwirkenden fragten wir mit dem Fokus auf die eigene Rolle nicht direkt ab. Ob und inwiefern Partizipationsansprüche thematisch werden würden, ließen wir ebenso offen.
Als Vorbereitung übten wir die Durchführung offener, leitfadengestützter Interviews. Wir probten schließlich anhand folgender Fragen und Aufforderungen: ‚Was zeichnet Deine Arbeit aus?‘ ‚Erzähl mal von Dir als Theatermensch‘/‘Jurymitglied‘. ‚Was gefällt/missfällt Dir an der Jury-Arbeit?‘ ‚Was ist Dir wichtig?‘, ‚Wie lief und wie läuft die Arbeit?‘. Es erwies sich im Lehr-Lern-Projekt bei den fiktiven Gesprächsübungen als gar nicht so leicht, situativ weiterführend bei wirklich offene Folge-Fragen zu bleiben. Denn vor dem Hintergrund einer paritätischen Jury lag die Differenzsetzung von Kindern und Erwachsenen sehr nahe.
Ein Problem zeigt sich: Erste Überlegungen zum Umgang mit Differenz
Zusätzlich diskutierten wir entsprechend der beschriebenen Erfahrung den Umgang mit Differenz/-sensibilität und -setzung. Folgende grundlegende Optionen wurden uns dabei klar: Wenn neue Perspektiven über neue Beteiligte in einen bestehenden Arbeitszusammenhang eingebracht werden, kann dies entweder zum markanten Unterscheidungspunkt (bzw. -merkmal) gemacht werden oder das Ziel kann die Differenzüberwindung sein. Während die erste Option Unterschiede (neu/alt oder Kind/Erwachsene/r) wiederholt und verfestigt, bestehen bei letzterer Zielsetzung wiederum zwei Möglichkeiten im Raum: Alle Beteiligten setzen sich gemeinsam das Ziel, Arbeitszusammenhänge grundsätzlich neu zu denken und sich für eine Neustrukturierung zu öffnen oder das/die Neue/n (bzw. hier konkret die Kinder) werden in Bestehendes eingeführt, was durchaus mit Anpassung oder Assimilation einhergehen kann.
Bezogen auf die Unterscheidung Kind/Erwachsene/r stellt sich dabei die Frage sehr deutlich, ob es überhaupt möglich (bzw. sinnvoll oder unsinnig) ist, die binäre Wahrnehmungsfiguration zu durchbrechen. Das Juryprojekt und unsere Interviewtätigkeit standen hier vor der gleichen konzeptionellen Herausforderung. Im Seminar zur Vorbereitung der Interviews widmeten wir uns diesem differenzbedenkenden Aspekt gekoppelt mit der Frage, was Expert*innen-Interviews auszeichnet und betrachteten Interviews als dramatische (= szenische) Situation (vgl. Hermanns 1995). Sensibilisiert waren wir sogleich dafür, dass auch Interviewende die Gesamtsituation durch ihre Wortwahl, ihren Gestus und Habitus mitprägen. Um hier keine Beeinflussung zu unternehmen, übten wir, nicht nur die Begriffe Kind/er und Erwachsene/r rund um das Interview zu vermeiden, sondern auch mit gleichem Auftreten den jüngeren und älteren Menschen zu begegnen.
In der Begrüßung und Verabschiedung sprachen wir alle als Juror*innen und Expert*innen an. Als zusätzliche Konsequenz verfremdeten wir die Interviewsituation durch eine Fiktionalisierungsidee, welche spielerisch eine Entdifferenzierung nahelegte, in dem die Studierenden als ansatzweise ‚außerirdische Wesen‘ verkleidet in die Begegnung gingen.
Die Interviewsituation: Outer Space als ‚dritter Ort’
Die Interviews fanden in der Pause einer Jurysitzung in 1:1 Situationen à 10 Minuten statt. Das Setting war Folgendes: Bei einer der letzten Juryzusammenkünfte empfingen die Studierenden die Jurymitglieder – für diese überraschend – auf einzelnen Picknickdecken mit Snacks vor dem Mindener Theater. Die Interviewer*innen selbst waren – wie gesagt – andeutungsweise als Außerirdische (hybride Wesen) verkleidet. Entsprechend stellten sie sich zum Gesprächsauftakt vor, um dadurch eine gedankenspielerische Situation zu etablieren: Die Außerirdischen – so das fiktionale Narrativ – verkörperten Gesandte, die wissen wollten, was eine Jury ist, was sie macht, was die Expertise eines Jurymitglieds ist und wie die Zusammenarbeit funktioniert. Die Idee der diskursiven und performativen Herstellung von Wirklichkeit wurde dadurch mit thematisiert, um den strukturellen Machtgestus eines wissenschaftlichen Draufblicks zu relativieren. Außerdem sollte das verfremdete Setting dabei helfen, allen Anwesenden die Möglichkeit zu eröffnen, spielerisch und naiv-konstruktiv an eine fiktive Unkenntnis des „historischen und kulturellen Konzepts Kindheit“ (Wartemann 2015:171) anzuschließen oder/und zumindest selbst nicht in die Falle zu tappen, unbewusst habitualisierte Verhaltensmuster der Hierarchisierung, Stereotypisierung (als auch der Auf- und Abwertung der Kategorien Kind und Erwachsener) zu reproduzieren. Die Gespräche, die solchermaßen gedanklich in einem „dritten Raum“ (Bhabha 1994:37) verortet waren, wurden per Diktiergerät aufgenommen und später transkribiert.
Phänomene in der Reflexion: Gerasterte Wahrnehmung
Als Auffälligkeit und zentrales Ergebnis des Lern-Lehr-Forschungs-Projekts stellte sich dennoch die Manifestation binär gerasterter Wahrnehmungsweisen heraus. Und zwar in vielfacher Hinsicht, nämlich auf die eigene Erfahrung des Interviewens, die Interviewergebnisse, aber zudem auch bezogen auf die Ausgangsituation:
Was uns als Seminargruppe bereits bei der organisatorischen Vorbereitung und pragmatischen Absprachen mit der Jury- und Festivalleitung am meisten beschäftigte, war die Tatsache, dass offensichtlich doppelt so viele Kinder wie Erwachsene in der Jury waren, Kinder also immer im Tandem agierten. Wir verstanden das so: Die Kinder sollten sich konstitutionsbedingt abwechseln dürfen, eine*n Tandem-Partner*in für den Austausch mit einer erwachsenen Person zu haben. Und: Offensichtlich konnte mit dieser Lösung allen Kindern, die sich aufgrund regional-medialer Aufrufe für die Jurymitarbeit tatsächlich gemeldet hatten, ein Angebot gemacht werden, niemand wurde abgewiesen. Es ist freilich nicht per se zu kritisieren, dass hier auf eine/n Erwachsene/n je zwei Kinder kamen. Doch machte diese Ausgangslage, die offene – davon unabhängige – Wahrnehmung und Interpretation von vorneherein nicht einfacher. Für die Studierenden war als Reaktion unisono klar, dass, wenn auf eine/n Erwachsene/n zwei Kinder kommen, diese Tatsache der strukturellen Parität entgegensteht und unterschwellig die Frage nach der Gleichwertigkeit aller Juror*innen aufwirft.
Sensibilisiert für die Feststellung, dass es bei aller progressiven Intention nicht leicht ist, aus Wahrnehmungs- und Denkmustern herauszukommen und ein Hierarchiegefälle so auch ungewollt manifestieren statt auflösen zu können, verstärkte sich der kritische Blick der Studierenden, einhergehend mit der Bereitschaft, so genannte Gespräche auf Augenhöhe zu üben.
Der Wille der reflektierten Umsetzung begleitete entsprechend auch die Interviewsituation. Es ist aber ebenso zu konstatieren, dass die Studierenden und ich bei den Übungen zur Interviewführung und in der Nachbetrachtung der Interviews selbst bei allem Training teilweise in Sprachmuster verfielen, die die vorgängige Unterscheidung von Kindern und Erwachsenen voraussetzten. Beispielsweise in dem Sinne, ein Kind (quasi wie automatisiert) zugewandt und doch floskelhaft und suggestiv zu fragen: ‚Das war für Dich doch bestimmt anstrengend, oder?‘
Auch in der Form, dezidiert Kindern eine ‚Extraportion‘ Essen anzubieten mit den Worten, ‚das schaffst Du doch noch‘, ‚Du darfst hier ruhig ganz viel Süßes essen‘. Vor allem aber fiel uns in der (Selbst-)Reflexion auf, dass Blicke und Gesten gelernte Statuspositionierungen spiegelten. Und die Studierenden beschrieben auch, dass sie – als sie mit Erwachsenen sprachen – mehr Körperspannung bei sich gespürt, ordentlicher artikuliert und weniger gesagt hätten.
In den Interviews, haben sich durch mehrfache Erwähnung zudem drei markante Muster seitens der Jury-Mitglieder gezeigt:
- Die erwachsenen Jury-Mitglieder haben sich – ohne danach gefragt worden zu sein – mehrheitlich in einer Doppelrolle beschrieben (Expert*in für die Auswahl und Pädagog:in für die Arbeit mit Kindern) und aus unterschiedlichen Perspektiven gesprochen. Dazu haben sie sehr viel über die Kinder berichtet, bzw. über ihre Wahrnehmung von und Einschätzung der Kinder (wiederum ohne danach gefragt worden zu sein).
- Die Kinder haben von sich mehrheitlich und ohne danach gefragt worden zu sein, davon berichtet, dass die Erwachsenen sehr viel/zu viel geredet und im Gegensatz zu ihnen auch gestritten haben.
- Es wurde in allen Mitteilungen seitens der Juror*innen von einem Bewertungsbogen gesprochen, der maßgeblich für den Ablauf schien. Dennoch haben die meisten Jurymitglieder (und zwar Kinder und Erwachsene gleichermaßen) in der Interviewsituation weit mehr über ihren Geschmack und ihre persönlichen Priorisierungen gesprochen, als über die verbindlichen Kriterien des erstellten Katalogs für die Auswahl. Weitergehend waren die Informationen zur Bedeutung und zum Umgang mit den Bewertungskriterien, als auch die Nennung der Kriterien sehr uneinheitlich.
Zusammengefasst, wenig verwundernd und zugespitzt formuliert, lässt sich hier festhalten: Während sich die gerasterte Wahrnehmung (Raster Kinder/Erwachsene) durch fachliche Sozialisation und entwickelten Habitus als verinnerlicht zeigte, waren es die Spielregeln und Bewertungskriterien im Juryverfahren weit weniger.
Ich frage mich: Könnte, ja müsste dieses Verhältnis nicht umgedreht werden? Könnte bzw. müsste nicht das Erleben eines spielregelorientierten Verfahrens als individuelle Herausforderung das Zentrale, Inspirierende und zu Beschreibende sein? Geht es bei Partizipationsansprüchen nicht vielleicht doch zwingend und prioritär darum, wechselseitig grundlegende Impulse und Inspiration zu bekommen? Welche Bedingungen müssen dafür erfüllt sein und inwiefern stand die ambitionierte und paritätisch besetzte Jury dem gegenüber? Es erstaunt mich im Nachgang, dass von solchen Momenten und Gedanken in den Interviews keine Rede war.
Mit all diesen Gedanken nahm ich im folgenden Verlauf an Festival und themenbezogenen Tagungen teil. Entsprechend enger geführt wird der Blick in den nachstehenden Ausführungen, in denen ich subjektiv und selektiv akzentuierte Schwerpunkte setze, die zu meinen Empfehlungen hinführen.
Vom Festivalerfolg zu notwendigen Diskursoptionen
Das Festival ist zweifelsfrei ein Erfolg gewesen, wenn man die beteiligten Stimmen auf dem Festival und bei der parallel durchgeführten Fachtagung des Bundesverband Theater in Schulen (BVTS) (ebd.) vernimmt (vgl. auch List 2018).
Auch auf dem Podium und aus dem Publikum der Fachtagung wurde mehrheitlich deutlich gemacht: Der gelungene Auftakt für eine partizipatorische Juryarbeit sei durch Impuls und Konzept der BAG Spiel & Theater von der Leitung und den Veranstalter*innen des Deutschen Kinder-Theater-Fests in Minden gemacht und solle weitergeführt werden. Die mit Kindern mindestens paritätische Besetzung der Jury und die Zusammenarbeit von Kindern und Erwachsenen in gemeinsamen Jurysitzungen stünden für einen innovativen Anspruch und ein kultur- wie bildungspolitisch sinnvolles Format. Das erfolgreich durchgeführte 8. Kinder-Theater-Fest mit einer Bandbreite an Produktionen und ästhetischen Stilen und Inhalten habe das gezeigt und an gesellschaftlicher Relevanz und Legitimation damit gewonnen.
Auch ich konstatier(t)e, dass es keine Frage sein sollte, ob eine paritätische Juryarbeit sinnvoll ist, allenfalls kann an der Frage nach dem Wie der paritätisch-partizipatorischen Konzeption in den kommenden Jahren weitergearbeitet werden. Und so steht auch dieser Text dafür, dass man nicht hinter der guten Idee und dem mutigen Experiment aus dem Jahr 2018 zurückfallen sollte, welches die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen einlöst, indem das Recht auf Beteiligung hier umgesetzt wird. Schließlich konnten sich Kinder entsprechend dem Recht auf Beteiligung „einmischen, in Dinge, die für sie wichtig sind. Vor allem, wenn es um Entscheidungen“ ging, haben „sie ihre Meinung“ gesagt (UN Kinderrechtskonvention), was als Beitrag zur Demokratie zu verbuchen ist. Unter diesen Vorzeichen hat das Konzept der BAG Spiel & Theater an der strukturellen Implementierung der Voraussetzungen für Gleichberechtigung angesetzt, hinter der nicht zurückgefallen werden sollte. Es blieb und bleibt aber zu fragen, was diese Meinung auszeichnet, wie sie kontextualisiert und wahrgenommen wird bzw. zu was sie führt.
Auf dem Podium und im Austausch mit den Fachtagungs-Teilnehmer*innen zeigte sich zweierlei: Die Differenzierung Kinder/Erwachsene wurde auf der Tagung und im Gespräch beibehalten. Zudem wurde über die ästhetische Kompetenz (respektive Qualifikation) der Kinder, ihre separate Vorbereitung in einem Workshop – wo gemeinsam das Sehen geübt und die Kriterien der Auswahl erweitert wurden – debattiert.
Setzte hier eine Gemeinschaft von Anwesenden (vor allem Erwachsenen) in der Auseinandersetzung mit der Juryarbeit sehr stark darauf, die künstlerische Qualität ohne Einbußen zu würdigen, ästhetische Kompetenz als Marker zu setzen und Kriterien-Erarbeitung zu vergegenwärtigen? Ich argumentierte: Wenn die Einübung von ästhetischer Kompetenz und von Gesprächsrhetorik als Bedingungskriterien eine Selbstverständlichkeit und Voraussetzung ist, setzt sich ein spezifisches und einseitiges Verständnis von Kulturelle Bildung durch. Eher verunmöglicht sie dann sogar eine multiperspektivische Kunstkritik, als dass sie diese befördert. Denn sie beschreibt und vollzieht eine Arbeit, in der die Gleichwürdigkeit multipler Perspektiven und Herangehensweisen keine dezidierte Rolle spielt. Zum einen wird damit eher verhindert, Kunst ‚anders‘ zu denken. Zum anderen reproduziert sich ein machtvoller Gestus. Die Gefahr einer Instrumentalisierung steht damit im Raum.
Rekapituliert man (im Foucaultschen Sinne) unter den vorangegangenen Überlegungen, welcher Weg der Wirklichkeitskonstruktion beschritten wurde und sich in Feedbackschleifen diskursiv als selbstverständlich zu wiederholen schien, zeigt sich meines Erachtens ein geschlossenes Konzept: Die Zusammenarbeit von Kindern und Erwachsenen bestand maßgeblich aus einer erweiterten Sammlung von Kriterien, zu denen sich dann gemeinsam in möglichst altbewährter Diskussionsarbeit verhalten wurde.
Das Fragwürdige bleibt dabei, ob die erweiterte Sammlung von Kriterien sinnvoll oder vielleicht sogar überflüssig war. In dem Fachdiskurs und auf dem Festival ist an keiner Stelle öffentlich deutlich geworden, inwiefern sich dadurch ein diskursiver oder gar spektatorischer Mehrwert eingestellt hat, der ggf. sogar zu einer spezifischen Stückauswahl führte.
In jedem Fall aber forderten die Erweiterung von Kriterien noch mehr Diskussionszeit und ggf. argumentatorisch-rhetorisches Geschick, wenn die eigentliche – intrinsisch motivierte Agenda letztlich doch darin bestand und vermutlich immer darin besteht, die persönlich beliebtesten oder für wichtig interpretierten Inszenierungen durchzusetzen, wie es auch die Interviewaussagen vermitteln.
Zugespitzt formuliert kam hier acht Kindern ein pädagogisches Programm Kultureller Bildung zu Gute. Ein neuer, künstlerischer Impuls gelangte allerdings nicht in die Reflexion oder kollektive Wahrnehmung. Hinsichtlich der sozialen Dimension von Partizipation erschien das Verfahren assimilierend und fiel hinter Möglichkeiten zurück, die aber gerade durch kreative Antworten und Konzepte hervorgebracht werden könnten und müssten. Entsprechend kreiste im Nachgang mein gedankliches Brainstorming um das (künstlerische) Qualitätsverständnis unter anderen möglichen Vorzeichen und findet folgende Positionierung:
Markante Wahrnehmungsmomente anstelle von Vorformatierung eines Kanons
Was wäre, anstelle von kanonischer Fixierung und kollektiver Abarbeitung von Bewertungskriterien an ein Format mit Solo-Auftritten und ‚Aushandlungs-Sessions‘ zu denken? Wenn also alle Beteiligten ihre individuellen Wahrnehmungen mittels markanter Momente ihrer Rezeption einander vortragen und reflektieren würden und über diesen Weg ihre persönliche Besten-Liste erstellten? Hiernach könnte eine Abstimmung erfolgen, möglicherweise gefolgt von einem Abgleich mit nur wenigen vergleichenden Kriterien, die die übergeordnete Ausrichtung einer Festivalkomposition betreffen und von vorneherein schon feststehen (bspw. Varianz der Bundesländer, Varianz der Kontexte (außerschulisch/schulisch), mind. eine innovative und mind. eine inhaltlich hochaktuelle Inszenierung o.ä.).
Sicher müsste dann darüber diskutiert werden, welche anderen Kompetenzen, Voraussetzungen in den Fokus kämen. Vor allem aber erscheint mir seit dieser Erfahrung der Prozessbegleitung die programmatische Enthierarchisierung Kinder/Erwachsene als grundlegende Vorbedingung und Zugang zu diesen Fragen.
Alle sind Expert*innen
Nach dem Festival gab es noch eine auswertende Fachtagung in Vlotho, auf der Jurymitglieder, Referent*innen und weitere Verantwortliche beteiligt waren und der Staffelstab an die kommenden Ausrichter*innen und jungen Juror*innen übergeben wurde.
Mit meiner Berichterstattung brachte ich hier die Idee der machtkritischen Perspektive ein, die den Blick (auf pädagogische) Diskurse richtet, „die Fragestellungen, Problemverständnisse und Handlungsanforderungen mit hervorbringen und dabei in rekursivem Verhältnis zu gesellschaftlichen Dominanzdiskursen stehen und somit Gefahr laufen, diese zu stabilisieren. Machtkritik bedeutet in diesem Zusammenhang, die Dominanz und Selbstverständlichkeit pädagogischer Vorstellungen von ‚Anderen‘ in ihrem diskursiven Herstellungscharakter sicht- und damit veränderbar werden zu lassen.“ (Cameron 2010:261)
Eine von Cameron beschriebene machtkritische Haltung, übertragen auf den Kontext von Kulturarbeit, manifestiert sich folglich anhand der Tatsache, auch ästhetischen, künstlerischen, kulturvermittelnden Praxen und Diskursen „über ‚Andere‘ kritisch-reflexiv zu begegnen und damit Einfluss auf die Konstitution von Wahrheitsregimen und geltendem Wissen auszuüben.“ (ebd.). Eine kritische Kulturvermittlung erprobt solche Strategien, die statt auf künstlerisch-ästhetischer Alphabetisierung auf ein Teilen setzen (vgl. bspw. Wartemann 2015, Rajal et al 2020).
Die anschließende Diskussion auf dem Fachtag spiegelte dann die grundlegende Problematik, die auch andernorts immer wieder deutlich gemacht wird: Dass Kindern ein gleichwertiger Expert*innen-Status zuerkannt wird, erscheint im Kontext von Theater und Kultur ein notwendiger Bezugspunkt und wirft doch auf die Perspektive und Perspektivierung von Erwachsenen zurück.
Mit einer „Jury-Performance“ (Mammalian Diving Reflex) wurde 2013 bereits auf der Ruhrtriennale in aller Ambivalenz darauf aufmerksam gemacht (vgl. Ruhrtriennale 2012). Hier performten Kinder als Juror*innen. Die Arbeit zeigte damit das Dilemma auf, dass Kinder einerseits gehört werden müssen und verwies gleichzeitig darauf, dass sie dabei womöglich aber auch gar nichts Neues beitragen können, sondern nur spiegeln, was die Projektionen der Erwachsenen sind (vgl. Wartemann 2015). Eine Pattsituation, aus der nur die Konsequenz erwachsen kann, konzeptuell anstelle einer gruppenorientierten Differenzlinie die gleichwertige Expertise in individueller und diverser Weise zu akzentuieren.
All das führt mich mit einem die paritätische Juryarbeit in Minden reflektierenden Blick zurück auf beispielsweise die Frage, inwiefern die Einübung eines machtkritischen Zusammenwirkens für die Zusammenarbeit aller hier einen Unterschied machen könnte? Es böte sich meines Erachtens die Chance der Erprobung in einem Workshop an, der sich genau dieser Aufmerksamkeitsrichtung widmet.
Noch einmal docke ich nunmehr abschließend an die genannten Eingangsoptionen von Partizipation an und komme zu der Erkenntnis und dem Vorschlag, dass eine Synergie von künstlerischen, pädagogischen und sozialen Partizipationsdimensionen nur auf dem Fundament einer sozialen Agenda stattfinden kann. Denn es scheint offensichtlich, dass eine künstlerische Innovation verunmöglicht wird, wenn Kulturelle Bildung mit einem Vermittlungsgestus anstelle einer Begleitung einhergeht und ästhetische Kompetenz einzig als etwas zu Erlernendes (Vermittelbares) verstanden wird (vgl. Vaßen 2012). Und damit geht wiederum der soziale Anspruch, Adultismus zu vermeiden oder zu überwinden gleich leicht unter. Ein umfassender Synergieeffekt stellt sich nicht ein, wenn er nicht mit genau diesem Augenmerk konzeptionell vorbereitet, erprobt und reflektiert wird.
Schlussendlich bildet meiner Ansicht nach sogar der priorisierte Fokus auf die soziale Ausgangs- und Problemlage (Binarität) und deren Überwindung den Schlüssel für die pädagogischen und künstlerischen Ziele. Er liegt schlicht darin begründet, die kategorische Differenzsensibilität (Kinder/Erwachsene) zu überwinden. Die Herausforderungen und Fragen, die dann virulent werden, bieten eine zu ergreifende Chance als spielerisch-experimentellem Möglichkeitsraum.
Für die Konturierung und Legitimation der Rolle Jurymitglied könnte diese Agenda mitthematisiert werden und ihre Ausgestaltung sehr konkret (an die inhaltliche, künstlerische und soziale Programmatik des Festivals zurückgebunden werden). Diese damit einhergehende Selbstreflexion und Suche nach markierbaren Herausforderungen und Zielen wiederum könnte von Projekt zu Projekt schrittweise (durch fortwährende Reflektion) zu Innovation und Entwicklung führen (vor allem auch/oder erst mit Mehrwert für Kunst und Kulturelle Bildung.
Ergebnis und Positionierung
Für die Juryarbeit in 2018 kann rückblickend konstatiert werden, dass sie Partizipation als Integration von Kindern verstanden und dementsprechend gelingend umgesetzt hat. Das bisherige Modell und die Verfahren in der Juryarbeit wurden allerdings nur erweitert. Die Beteiligungsoffensive hat Kindern Einblicke in die Juryarbeit und Mitsprache ermöglicht. Das Juryprojekt war für sie auch ein Projekt Kultureller Bildung, insbesondere durch eine praktisch-aktive Teilnahme in Juryarbeit verbunden mit einem vorangegangenen Workshop für die Kinder, der sich mit der Rezeption von Aufführungen befasste und in dem sowohl das kriterienbezogene Sehen vermittelt als auch weitere Kriterien entwickelt wurden. Es sollte aber für die Zukunft mitgedacht werden, dass die damit einhergehende Haltung freilich nur eine Möglichkeit ist, Partizipation, Parität und Bildung zusammen zu denken. Objektive Bewertungskriterien (quasi ein gemeinsamer Katalog für Aspekte von Inszenierungen) sind bspw. keine zwingenden und alleinigen Messinstrumente. Sie sind vor allem auch leitend für die Gesprächsorganisation und spiegeln, dass es einen Spalt zwischen intuitiver und sachlicher Bewertung gibt. So unterschiedlich Aufführungsanalysen und Zugänge zur Rezeption in der Theaterwissenschaft/-didaktik organisiert sein können, so unterschiedlich können auch die Bewertungszugänge und Diskussionsgrundlagen zur Inszenierungsauswahl sein. (vgl. bspw. Roselt 2011; Rajal 2020)
Zum Optimieren gehört zuvorderst die Selbstkritik
Ich plädiere also dafür, das Modell nicht nur organisatorisch, verfahrenstechnisch oder in Bezug auf den Kriterienkatalog der Auswahl zu optimieren zu suchen, sondern gedanklich auch auf einer Metaebene eine machtkritische Haltung einzunehmen und vor diesem Hintergrund gleichsam Alternativen zu erwägen.
Der Aspekt der Machtkritik spielt eine Rolle in der (nicht)paritätischen Besetzung der Jury und im Reden der Jury-Mitglieder über andere Jury-Mitglieder. Genauso spielt er auch eine Rolle im Rede- und Verhaltensgestus zueinander. Wenn ich hier auch nicht vom Gestus innerhalb der Jury-Sitzungen berichten kann, sind die Fachtagungen auch ein Exempel dafür, dass die Kinder in Erscheinung traten (oder treten durften) und doch in eine exklusive oder separierte Position gebracht wurden, die vertiefend zu reflektieren, zu begründen, und im machtkritischen Geiste argumentiert, bestenfalls zu überwinden ist.
Generell sollten sowohl die aktuellen Veranstalter*innen des Kinder-Theater-Fests als auch die Mitglieder der Ständigen Konferenz ‚Kinder spielen Theater’ sich Zeit nehmen, um regelmäßig den Partizipationsanspruch zu reflektieren. Die Konzeptionist*innen der paritätischen Juryarbeit 2022 sollten sich zunächst untereinander darüber verständigen und miteinander klären, aber auch vor den Jurymitgliedern und öffentlich transparent machen, welches Verständnis von Partizipation sie haben bzw. welches partizipatorische Ziel sie mit der paritätisch aus Kindern und Erwachsenen besetzen Jury verbindet.
Soll das ‚Noch-Nicht-Wissen‘ als Qualität verstanden werden, sollte genügend Zeit für Verständigungs- und Aushandlungsprozesse bleiben, die dramaturgisch als Spuren verankert und deren Prozesse inhaltlich möglichst auch öffentlich nachvollziehbar mittransportiert werden.
Gemeinsam Potenziale erspielen: Jurymitglied als sozial-ästhetische Rollenkonstruktion
Wer tatsächlich einen synergetischen Dreiklang (Perspektiven Kultureller Bildung, künstlerische Innovation und gesellschaftliche Anerkennung von Kindern) sucht, muss bei den sozialen Voraussetzungen ansetzen und diese spielerisch verhandelbar machen. Und zwar in der Weise, dass das Jury-Projekt selbst als Möglichkeitsraum für alternatives (Sozial-)Verhalten erlebt und reflektiert werden kann.
Zusammenarbeit sollte weniger als Integration von Kindern in ein System verstanden wird, sondern Kinder als inklusiv (bereits da und unabdingbar wichtig) angenommen werden. Mit einer progressiven Einstellung und Motivation zur Weiterentwicklung des Jurykonzepts sollten bezogen auf das Deutsche Kinder-Theater-Fests Kinder als zentral avisierte Zuschauer*innen des Festivals sogar mindestens so wichtig sein wie die Erwachsenen. Das bedeutet nicht, dass berufserfahrene und akademische Expertise in den Bereichen von Theaterwissenschaft, Theaterästhetik und Ästhetischer Bildung weniger wichtig wäre. Es geht vielmehr darum, wie sie sich konstruktiv durchdringen können. Die Chance und vielmehr noch die Herausforderung besteht in einer altersmäßig und von fachlich unterschiedlich gegebenen Voraussetzungen geprägten pluralen Jurygruppe damit darin, neue Verbindungen und Austauschmöglichkeiten zwischen unterschiedlichen Seherfahrungen, Ausdrucksmöglichkeiten und Sprechweisen zu schaffen. Ein Schlüssel dazu liegt möglicherweise in der Entwicklung von innovativen Zugängen und Kommunikationsweisen, die bei den individuellen ästhetischen Rezeptionserfahrungen ansetzen und theaterpädagogisches, spielerisches Methodenrepertoire nutzen. Es interessiert dann: Welche Diskurse entstehen situativ? Und als Gesamtschau: Was bewegt mich, dich und uns? Auf welcher Beteiligungsbasis? Jury ist denk- und machbar als Werden im Tun. Das Konzept könnte Doing Jury als ästhetische Erfahrung und Gestaltung begreifen und umsetzen, wobei deren Ergebnisse gegenüber dem Publikum und der Öffentlichkeit insgesamt transparent transportiert werden.
Wennschon – dennschon! Handlungsempfehlungen für paritätisch-partizipatorische Jury- bzw. Kulturarbeit
Vermeintlich Selbstverständliches in Frage stellen: Wenn es neben Zugängen zu Kunst und Beteiligung an kulturellen Projekten im Kontext von Kunst und Gesellschaft um Gleichberechtigung, um Multiperspektivität und um Innovation gehen soll (was meines Erachtens zu intendieren und zu verhandeln wäre), wird folgerichtig zweifelhaft, ob Konzeptionist*innen sich zuvorderst Gedanken darüber machen sollten, was Kinder an Konzentration, Rhetorik und Wissen, Kompetenz oder (Lebens-)Erfahrung mitbringen/beherrschen oder nicht, um sie (noch besser) in ein bestehendes Verfahren integrieren zu können. Konstruktiver ist es sicherlich, einen experimentellen Angang zu wagen, um dezidiert pauschale Differenzierungen zu vermeiden.
Ebenfalls zweifelhaft ist zudem, warum im Juryverfahren für die Sichtungsstrategien selbstverständlich so genannte objektive Kriterien angelegt und zur ersten Maßgabe werden, die allen Jurymitgliedern die Aufgabe gibt, vorgegebene Wahrnehmungsspuren zu verfolgen und zu analysieren. Eine individuelle Aufgabe oder Blickrichtung schafft vielleicht sogar eine stärkere intrinsische Motivation. Für subjektive Wahrnehmung Ausdrucksmöglichen, Verbalisierungswege und Diskursoptionen zu bereiten und entwickeln, ist längst Praxis in Vor- und Nachbereitungen von Inszenierungen oder auch theaterpädagogischen Projekten.
Gradmesser für die Überwindung von Zweifel ist die Hinwendung zur sozialen Formatierung. Eine von Kindern und Erwachsenen paritätisch besetzte Kinder-Theater-Jury legitimiert sich grundlegend erst dann, wenn zuvorderst strukturelle Machtverhältnisse (Adultismus, Kategorien von Nicht-/Professionalität, vorgängige Einordnung/Zuordnung von Expertise und Kompetenz) reflektiert und dekonstruiert werden.
Ich plädiere damit für eine dekonstruktivistische Gesamtkonzeption und Umsetzung: In der Jury werden gezielt und konzeptionell gesetzt (mindestens ergänzend, ggf. grundsätzlich) andere Rezeptions- und Bewertungsregeln, kommunikative Umgangsformen und Arbeitsverhältnisse erprobt, die die gewohnten und die durch (fachliche) Tradition, durch Sozialisation und Erfahrung erlernte binär vorgegebene Muster durchbrechen. Das experimentelle Format nötigt und ermutigt alle gleichermaßen, sich in der Bewertung und der Kommunikation (neu) auszuprobieren. So werden möglichst gleiche Ausgangsbedingungen geschaffen. Strukturell gesehen, werden damit bei den Kindern Ermächtigungsprozesse und bei den Erwachsenen Irritationen und Neuzugänge zur Arbeit initiiert. Dass damit weiterhin Projektionen auf Kinder und Zurichtungen durch Erwachsene sichtbar werden, bleibt naheliegend. Aber der fokussierte Versuch verhandelt das Dilemma mit und kann dabei möglicherweise neue Horizonte aufmachen, ist daher als lohnenswert anzusehen. Er wäre von dem Gedanken getragen, dass die machtkritische Perspektivierung die Basis der Partizipation bildet, von der sich die anderen Beteiligungsdimensionen der künstlerischen Innovation und der Kulturellen Bildung ableiten lassen. Will man alle drei zu Beginn genannten Wirklichkeits- und Partizipationsperspektiven öffnen und verzahnen, geht dies nur, indem man gedanklich und handlungsleitend mit diesem Augenmerk beginnt, das Konzept und Verfahren zu entwickeln und zu begründen.
Dazu gehört dann in der Konsequenz, bewertungsorientiert auf die Stücke bezogen, die jeweils individuelle, subjektiv akzentuierte und durch persönliche Theater- oder auch Nicht-Theater-Erfahrung fundierte Wahrnehmung zur Grundlage für den Austausch zu machen. Die Transparenz dieser Absicht, die damit zu beherzigenden Spielregeln, die Einlassung und Experimentierfreude (selbstreflexive Wahrnehmungsmomente) sind Voraussetzung für das Gelingen.
Die interpersonale Kommunikation wird dabei zum Fokus. Mit ihr kann binäres Denken und Handeln aufgelöst werden und sollte so ein entsprechend zentraler Aspekt des Projekts sein. Eine wechselseitige Anerkennung individueller und persönlicher Expertise sollte als Arbeitshaltung in der Konzeption des Verfahrens angelegt und zwischen allen Juror*innen im Juryverfahren und mit entsprechender Öffentlichkeitsarbeit umgesetzt werden. Zu bedenken ist dabei vor allem auch, dass Sprache Bedeutung bzw. Wirklichkeit (mindestens mit-) konstruiert: In der Öffentlichkeitsarbeit und innerhalb der Jury sollte vermieden werden auf die Differenz zweier Gruppen (Kinder mit Mitspracherecht und Expert*innen) abzuheben, sie different zu beschreiben und/oder sie unterschiedlich zu adressieren.
Aus dem Vorhergesagten ergeben sich auf der Haltungs-, der Konzeptions-, der Verfahrens-, Reflexions- und Organisationsebene verschiedene – ganz praktische – Herausforderungen, die ich abschließend mit Grundsatzimpulsen konstruktiv wie folgt perspektivieren und inspirieren möchte:
Haltungssebene: Differenzsetzungen verschieben (Differenz, Binarität, Diversität)
Parität sollte gelebt und manifestiert sein, aber im gemeinsamen Agieren und im gesamten Prozess nicht explizit thematisiert werden. Mit ihrer Umsetzung sollte im Verlauf des Arbeitsprozesses die Begriffsverwendung Parität selbst zur Nebensache werden, suggeriert sie doch selbst binäres Denken.
Als notwendig sollte es auch erachtet werden, Kinder als Expert*innen zu kennzeichnen und entsprechend anzuerkennen. Eine Differenzierung könnte auf andere, offenere und individuelle Kategorisierungen der (gesuchten/gefundenen) Jurymitglieder und ihrer Expertise abzielen, neue Aufmerksamkeitsrichtungen erfinden bzw. von den Beteiligten entsprechend ihrer Persönlichkeit und Motivation (er)finden lassen und programmatisch begründet versammeln (als Perspektivensammlung von einer Theaterwissenschaftlerin, einem Theaterpraktiker oder Theaterliebhaber, einer Verbandsvertreterin, einem Sportler oder Schulhasser, einer Klassenbesten oder Formverliebten, einem Demokratieverfechter oder Gefühlsmenschen, etc.). Die Beschreibung des Konzepts und Projekts – ob auf Flyern oder in der gesprochenen Moderation, Anwerbung oder Erläuterung – sollte entsprechend sprachsensibel, gängige Kategorien dekonstruierend und innovativ durchdacht und umgesetzt werden.
Konzeptionsebene: Multiperspektivität als Aushandlung
Da Kinder die Zielgruppe des Festivals sind, ist es mindestens nachvollziehbar bis wünschenswert oder gar notwendig ihre Expertise (als potenzielles Publikum) mit einzubinden, um einem hierarchischen Strukturprinzip entgegenzuwirken.
Aber auch Kinder sind verschieden. Zu klären bleibt, warum und wie welche Kinder in die Jury kommen. Wenn Erwachsene als Stellvertretende der Verbände und aus spezifischeren Gründen bspw. wegen ihrer Theatererfahrung etc. ausgewählt wurden, so haben auch sie persönliche Interessen, Sichtweisen, unterschiedliche Hintergründe und Vorlieben und stellen sich gleichsam in persönliche Verantwortung für bestimmte gesellschaftliche und ästhetische Aspekte. Kinder unterscheiden sich ebenfalls in ihrer Individualität, ihrer Stellvertreter*innenschaft und ihrem Können voneinander. Soziale und ästhetische Perspektiven, die immer ineinander spielen, werden unter diesen Vorzeichen hier produktiv gemacht. Die unterschiedlichen Gewichtungen von Wahrnehmungs- und Bewertungsaspekten einzelner Individuen (Jurymitglieder) bezeugen in der Zusammenschau aller Beteiligten dann einen produktiven und synergetischen, weil multiperspektivischen Blick auf die Auswahl.
Wenn erwachsene Abgeordnete der Jury verbandsbezogen durch ihren Hintergrund legitimiert werden (Entsendungen durch BVTS, BuT, BAG Spiel & Theater etc.) stellt sich die Frage, welche diversen (institutionellen) Hintergründe die Kinder legitimiert. Sind es dann auch Beauftragte der einzelnen Verbände oder werden sie legitimiert als Vertreter*innen unterschiedlicher Handlungsfelder wie bspw. Kinderspielclub, Schule etc., und inwiefern sind diese dann immer theaterbezogen oder gerade auch nicht? Was sind die verbandsinternen Legitimationen und was für eine Ausrichtung des Festivals wird in der Zusammenschau der Perspektiven vielleicht neu konstruierbar und mit dem Partizipationsdiskurs zur Modifikation aufgerufen? Transparenz dieses Aushandlungsergebnisses scheint mir ein konstruktiver Schlüssel.
Dazu gehört als eigentliche Herausforderung doch am Stärksten die Implementierung eines selbstkritischen und experimentellen Zugangs. Bei einer Auswahl von Mitwirkenden kann dies zur zentralen Aufgabe werden und Bereitschaft zur Multiperspektivität besser Einlassung auf das Nebeneinander von Perspektiven und Selbstbewusstsein (Agenda für eine eigene Positionierung) die Begründung sein, wobei eine spielerisch-offene Arbeitshaltung und Bereitschaft für ein unkonventionelles Experiment ebenso dazu gehören sollte. Denn weitergedacht ist Diversität mit demselben Dilemma konfrontiert, wie Binarität, wenn nämlich sie allein durch eine identitätspolitische Besetzung als Qualität gewertet wird. Auch sie muss sich eher als Arbeitsweise zeigen können und darf nicht institutionell oder identitätspolitisch vereinnahmt oder stereotypisiert werden. Daher bleibt meines Erachtens die Umkehr (jetzt: Vom Subjektiven zum Objektiven) der Schlüssel, der dann als mitlaufender Aushandlungs- und Erkenntnisdiskurs zu betrachten bleibt und auch so öffentlich mit reflektiert werden sollte, als auch von Festival zu Festival weiter variiert werden kann.
Verfahrensebene: Jury als ernsthaftes Spiel. Rollen aufs Spiel setzen – Neue Spielregeln erfinden
Folgerichtig ist die Aufgabe hier das Kuratieren der Stücke, auch als kulturelles und spielerisches Experiment zu verstehen und der Interaktions- und Gestaltungserfahrung der Jurymitglieder als ästhetischer Erfahrung Raum und Ausdruck zu verleihen. In der Konsequenz werden dann spielerische Verfahren zur Selbstdarstellung als Jurymitglied, zur sinnlichen, spontanen und impulsiven Darstellung ästhetischer Eindrücke bei den Sichtungserfahrungen, zur Priorisierung und Bewertung und zur Verhandlung als auch zu den Entscheidungsprozessen entwickelt.
Vorstellbar wäre, dass die Rolle als Jurymitglied individuell markiert wird, jedes Jurymitglied sich bspw. mit einem Steckbrief beschreibt und die eigene Rolle und ggf. die Stellvertreter*innenschaft für eine Perspektive (oder Gruppe) zu seiner Aufgabe macht. Da dies ein unkonventionelles und innovatives Prinzip ist (in dem die persönliche Agenda in den theatertheoretisch oder kulturpolitisch kontextualisierten Diskurs bzw. die Auswahl hineinfindet und nicht anders herum), bietet es sich an, diese Rollen (und ggf. persönliche Kriterien) in einem Workshop mit allen Jurymitgliedern spielerisch zu entwickeln und einzuüben.
Wenn untereinander geklärt ist, wer aus welcher Richtung für welche Perspektive (ein)steht, interessiert umso mehr die subjektive Antwort auf die gesehenen Aufführungen. Im Workshop könnte anhand einer gemeinsamen Videosichtung das persönliche Reagieren und Artikulieren der Rezeptionserfahrung erprobt werden. Ausgangspunkte für die eigene Reflexion der Sichtung und den Austausch könnten die erinnernde Beschreibung und/oder die Auswahl für einen persönlich markanten Moment der Inszenierung sein (vgl. bspw. Thiellecke, Virginia (2016). Solche ‚solistische Resonanzaufgaben’ (in denen bspw. ein gestisches oder verbales Zitat aus der Inszenierung ausgewählt, dargestellt als auch weiterführend spielerisch transformiert und kommentiert wird) setzen der analytischen Perspektive eines gemeinsamen Bewertungsbogens Alternativen entgegen. Die Ansätze, um subjektive Zugänge zu Begründungen für die Priorisierung der Stücke zu entwickeln, sind vielfältig. Hier folgen dazu weitere stichwortartige Anregungen: jeweils persönlich beste/schlechteste Zitate (Sprache, Gestisches) aus Inszenierungen wählen und darstellen, assoziativ zur Aufführung Begriffe sammeln, Eindrücke und Gefühle zeichnerisch und szenisch collagieren, 3 Minuten non-stop Gedanken im performativen Sprechen darbieten (Diktiergerät), Kommentare mittels kreativer Schreibtechniken produzieren und vortragen, etc..
Weiterführend könnte es dann darum gehen, spielerische Formate für Fürsprachen und Gegenreden von Inszenierungen, das wechselseitige Nach- und Befragen der Jurymitglieder untereinander (Frage-Antwort-Spiele) und die Suche nach Schnittmengen und Entscheidungswegen zu erfinden und zu erproben. Am Ende, quasi ausschlaggebend für letztendliche Entscheidungen, könnte ein auf die vergleichende Zusammenschau ausgerichteter Katalog nicht für die Sehenswertesten, sondern die zentralen Aspekte der Festivalidee ausschlaggebend sein. (Dabei sollen die hier vorgeschlagenen Beispiele nur dafür stehen und anschaulich machen, dass es im spielerischen Modus darum geht, im spielerischen Bewusstsein zu agieren, dass Form und Inhalt sich bedingen und herausfordern und deshalb beides als Akt (performativer Hervorbringung) gesehen werden müssen und können, ohne dass das der Ernsthaftigkeit der Bewertung abträglich wird.)
Reflexionsebene: Demokratische Beziehungsqualität
Was durch einen Workshop und gemeinsames Spielen mehr Zeit und Einlassung bedeutet, könnte nicht nur Transparenz und Nachvollziehbarkeit ermöglichen, es würde auch experimentellen Mut bei denjenigen fördern, die vielleicht sonst ihre Gedanken angepasster oder defensiver entwickeln und verlautbaren. Und es macht deutlich, dass es nicht um eine Harmonie im Sinne eines Gleichklangs oder einer Homogenität geht, sondern um die wechselseitige Wertschätzung von Pluralität und ihren Aushandlungsprozessen in einem Wir-Zusammenhang.
Theater, Kulturelle Bildung, Festivals und vorbereitende Juryarbeit haben einen zentralen gemeinsamen Nenner: Sie konstituieren sich durch zwischenmenschliche Begegnung in Arbeit und Auseinandersetzung mit Kunst. Theater/Kultur und alle damit in Verbindung stehenden Projekte sind somit zuallererst Beziehungsarbeit. Es wäre wünschenswert, dieser Grundidee wieder mehr Raum zu geben und diese zu befördern. Nicht als Einbahnstraße, sondern als Wechselspiel des gemeinsamen Lernens (vgl. Rajal et al 2020). Ästhetische und kulturelle Bildung können darin aufgehen, das wechselseitige Geben und Nehmen als Fokus ihrer Rollenaufgabe und -arbeit anzusehen, wenn dabei offenes, freies und echtes Interesse ins Spiel gebracht wird.
Ob ein solches Verfahren andere Ergebnisse zustande bringen kann, bleibt nur zu mutmaßen. Es würden aber mit der Reflexion der Innovation wichtige Impulse in den Fachdiskurs, das Festival und die Bildungs- und Kulturpolitik übergehen.
Organisationsebene: Mehrarbeit als strukturelle Aufgabe mit Potenzial verstehen
Für die praktische Umsetzung einer entsprechenden Jury-Arbeit bedeutet dies zuvorderst Mehrarbeit: Die Konzepterstellungen für die nächsten Juryverfahren stellen sinnvollerweise jeweils einen separaten Arbeitsauftrag dar und werden in ihrem jeweiligen Format reflektiert. Wenn die Konzeption geklärt ist, sollte die Öffentlichkeitsarbeit (hinsichtlich Sprache/Ansprache/Beschreibung/Bildsprache) dem Konzept angepasst werden.
Pragmatisch sei empfohlen, dass der Jury-Prozess (Treffen der Jury) durch eine externe Person (quasi Jury-Spielleitung) dezidiert angeleitet und moderiert wird. Das dient der Entlastung der doppelten Perspektiven (bspw. auch Anwalt der Kinder bzw. Pädagog*in/Vermittler*in sein zu wollen/müssen) und Intervention, wenn sich bei den Jurymitgliedern ‚alte’ Gewohnheiten einschleichen; für Kinder und Erwachsene gesprochen: wenn sich Einzelne aus Versehen doch wieder habituell auf gewohntes Verhalten im typischen Modus Kind- Erwachsener zurückfallen lassen. Als Moderation könnte die externe Person dafür verantwortlich sein, bei den Treffen der Jury bspw. gleichberechtigte Zeitfenster für Präsentationen, Sprechanteile einzuhalten (Sprechdauer stoppen) etc., sie könnte aber auch als Conférencier und tatsächliche Spielleitung auftreten – je nachdem, wie spielerisch das Konzept angelegt wird, welche Verfahren gewählt oder entwickelt werden.
Fazit und Ausblick: Parität als Auftakt. Von Beteiligung zum spielerisch-experimentellen Zusammenwirken
Parität allein genügt noch nicht. Wenn eine Jury (oder ein sonstiges Projekt Kultureller Bildung) auf Unterscheidungen (hier Kinder und Erwachsene) reagieren möchte um diese zu bearbeiten und zu verringern, hat sie gleichzeitig ein Problem. Sie ist mit genau dieser Intention auch an der Erzeugung von Differenzen beteiligt (vgl. Plößer 2010).
Es gibt aber die Möglichkeit einen „dekonstruktiven, das heißt die normierenden und ausschließenden Effekte der Erzeugung von Differenz bedenkenden Umgang mit Differenz“ (ebd.: 2010:218) zu verfolgen. Ihn in und für die Jury-Arbeit zu erfinden – und neu zu reflektieren wäre ein bedenkenswertes Ziel. In diesem Sinne kann es nur darum gehen, mehr Partizipation zu wagen (vgl. Köhler 2017) um sich ihrer im Prozess zu entledigen und der jeweils eigentlichen Sache vertiefend und miteinander zu widmen.
Gleichwertigkeit und Gleichwürdigkeit als Credo: Von der cultural zur playful performance
Wer eine zahlenmäßige Gleichheit zur Basis erklärt, macht sie zur strukturellen Voraussetzung für einen demokratischen, partizipatorischen Prozess. Sie setzt dann konsequent an der Feststellung an, dass Stimmen verschiedener Gruppen nicht nur Gehör finden, sondern tatsächlich gleichwertig sind.
Da Kultur nicht nur auf institutionellen Bühnen aufgeführt wird und sich zu ihr verhält, sondern auch die Beschaffenheit und Formatierung von Institutionen selbst auszeichnet, sollte hier gegebener Gestaltungsspielraum insbesondere in Form von Projekt- und Festivalformationen genutzt werden und die Gleichwertigkeitsidee zur Versuchsanordnung werden. Eine solch performative Ausrichtung könnte nicht nur eine cultural performance in die Aufmerksamkeit rücken, sondern dezidiert eine experimentierfreudige playful performance sein. Sie hat in dem spezifischen Fall des Zusammenwirkens von Kindern und Erwachsenen dann die Aufgabe, Gleichwertigkeit als ein lebendiges Zusammenwirken zu ermöglichen.
Jesper Juul hat dafür mit dem Begriff Gleichwürdigkeit eine konkrete Orientierung angeboten. Als Familientherapeut hat er damit insofern eine auf partizipatorische Fragen insgesamt übertragbare, einzunehmende Haltung akzentuiert, die die Aufmerksamkeit für die subjektive Perspektive der beteiligten Personen stärkt. „Gleichwürdig bedeutet sowohl »von gleichem Wert« (als Mensch) als auch »mit demselben Respekt« gegenüber der persönlichen Würde und Integrität des Partners. In einer gleichwürdigen Beziehung werden Wünsche, Anschauungen und Bedürfnisse beider Partner gleichermaßen ernst genommen (...). Gleichwürdigkeit wird damit dem fundamentalen Bedürfnis aller Menschen gerecht, gesehen, gehört und als Individuum ernst genommen zu werden. (...) Gemeint ist (...) die Haltung, die anderen Mitglieder der Gemeinschaft in ihrer Individualität und ihren subjektiven Bedürfnissen und Wünschen anzuerkennen (...).“ (Juul 2008: Seite)
Im Januar 2012 war der populäre dänische Familienberater Jesper Juul im Rahmen des Freitag Salons ins Berliner Gorki Theater eingeladen. Auch dieses Beispiel spiegelt, dass „ein aktueller Klärungsbedarf zwischen den Generationen besteht und auch im Theater die Rollen von Erwachsenen und Kindern reflektiert werden“ (Wartemann 2015:171). Im Anschluss an die Beobachtung, stellen sich allerdings nicht nur naheliegend die folgenden Fragen: „Wie werden Kinder im Theater inszeniert? Und welche Figuren, welche Konzepte von Kindheit gehen aus diesen Auftritten hervor?“ (ebd.)
Es liegt auf der Hand, dass die von Geesche Wartemann gestellten Fragen auch insbesondere in den Handlungszusammenhängen und Fachpraxen (Kulturelle Bildung und Theaterpädagogik) beim Kuratieren und Entwickeln stärker und breit verfolgt werden müssen. In einer machtkritischen Arbeitshaltung treffen sich meines Erachtens produktiv auch verschiedene Disziplinen und Perspektiven; sind kritische Erziehungswissenschaftler*innen, Sozialarbeitswissenschaftler: innen und künstlerische Positionen in Übereinstimmung – und machen die Erwachsenen hier zuvorderst zu Lernenden.
Hintergrundinformationen zu diesem Beitrag
Juryarbeit als Herausforderung – Kinder als gleichberechtigte Akteure in der Jury des Deutschen Kinder-Theater-Fests
Der obige Textbeitrag von Christoph Scheurle und Daniel Cosic und ein alsbald ebenfalls auf kubi-online erscheinende Beitrag von Norma Köhler sind beide hervorgegangen aus der wissenschaftlichen Begleitung der erstmals paritätisch besetzten Jury beim 8. Deutschen Kinder-Theater-Fest (DKTF), das von der Bundesarbeitsgemeinschaft (BAG) Spiel & Theater in Kooperation mit der Landesarbeitsgemeinschaft Spiel und Theater NRW im Jahr 2018 am Stadttheater Minden veranstaltet wurde. Die paritätisch besetzte Jury stellte ein Novum dar, denn Kinder waren bis zur 6. Ausgabe des Festivals (2014) nicht eingebunden in die Entscheidung über die Auswahl der eingeladenen Theaterproduktionen. 2016 gab es am Theater der Jungen Welt (Leipzig) einen ersten Versuch, Kinder in die Auswahl einzubeziehen. Als Kinderjury installiert, wählten sie für das 7. Festival ihr Stück aus den Bewerbungen aus und forderten mit dieser Entscheidung ungewollt die Fachjury, die die Auswahl der übrigen fünf Produktionen verantwortete, heraus. Die Auswahl der Kinder, die bei den erwachsenen Juror*innen ‚durchfiel‘, bestärkte Teile der Fachjury in der Annahme, dass es 6 bis 9-Jährigen nicht möglich sei, künstlerisch-ästhetische Kategorien zu erfassen, zu beschreiben und spezifische Kriterien für eine Entscheidung über das Gesehene zu formulieren bzw. zu entwickeln. Andere Juror*innen thematisierten mit Blick auf die Stückeauswahl vor allem die Notwendigkeit des Austauschs und des Diskurses zwischen Kindern und Erwachsenen. Auf dem Festival in Leipzig wurde die Auswahl der Kinder auch außerhalb der Jury kontrovers diskutiert, ohne dass es am Ende zu einer fachlichen Einordnung kam.Die BAG Spiel & Theater nahm diesen Faden auf und entwickelte für das 8. Deutsche Kinder-Theater-Fest den Ansatz, mit einer zu gleichen Teilen aus Kindern und Erwachsenen besetzten Jury den Auswahlprozess zu gestalten und diese Konzeption wissenschaftlich begleiten zu lassen. Damit wurden Diskurse um Partizipation und das Selbstverständnis Kultureller Bildung selbst als Bestandteile der Festivalarbeit implementiert.
Das Deutsche Kinder-Theater-Fest, das seit 2004 alle zwei Jahre stattfindet und seit 2008 durch die Bundesrepublik wandert, ist ein konkretes Ergebnis des Bundesmodellprojektes „Kinder spielen Theater. Strukturmodelle, Methoden und Spielweisen des Theaters mit Kindern“. Die Erkenntnisse dieses vom Kinder- und Jugendtheaterzentrum (KJTZ) initiierten und unter Beteiligung bundesweiter Fachverbände und Institutionen für das Kinder- und Jugendtheater von 2002 – 2004 durchgeführten Projekts sind in der gleichnamigen Publikation zusammengefasst (vgl. Taube 2007). Die Ergebnisse der bundesweiten Forschungsstudie verweisen mit Nachdruck auf die unzureichenden Rahmenbedingungen für die Theaterarbeit von und mit Kindern. Unzureichend u.a. mit Blick auf etablierte Strukturen, Stellenwert in der Jugend-, Bildungs- und Kulturpolitik, finanzielle Förderung und öffentliche Wirksamkeit. Das steht in auffälligem Widerspruch zu den Potenzialen, die eine ästhetische Erfahrung durch das Theaterspiel aufzeigt.
An dieser Schnittstelle arbeitet die in 2004 gegründete Ständige Konferenz „Kinder spielen Theater“. In diesem Fachgremium sind bundesweite Fachverbände und Institutionen der Theaterarbeit von und mit Kindern organisiert: ASSITEJ Bundesrepublik Deutschland, BAG (Bundesarbeitsgemeinschaft) Spiel & Theater, Bund Deutscher Amateurtheater (BDAT), Bundesverband Theater in Schulen (BVTS), Bundesverband Theaterpädagogik (BuT), Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung (BKJ) und Kinder- und Jugendtheaterzentrum in der Bundesrepublik Deutschland (KJTZ). Die Ständige Konferenz verfolgt im Kern das Ziel, langfristig die strukturellen Voraussetzungen und Bedingungen der Theaterarbeit von und mit Kindern bundesweit zu verbessern, Impulse für eine vielfältige Angebotsstruktur zu setzen, bereits Bestehendes weiterzuentwickeln und zu vernetzen und nachhaltige Qualifizierungsangebote für Multiplikator*innen zu schaffen und zu etablieren. Eine wichtige Umsetzungsebene ist das alle zwei Jahre stattfindende Deutsche Kinder-Theater-Fest mit paralleler Fachtagung. Das Format konnte bei wechselnder inhaltlicher Zuständigkeit der in der Ständigen Konferenz „Kinder spielen Theater“ organisierten Bundesverbände kontinuierlich und den jeweiligen fachlichen und gesellschaftlichen Herausforderungen entsprechend weiterentwickelt werden. Bundesweit ist es das einzige Festival, das sich an 6 bis 12-jährige Kinder richtet. Gefördert wird das Deutsche Kinder-Theater-Fest vom Bundesjugendministerium.
Deutsches Kinder-Theater-Fest: www.kinder-theater-fest (letzter Zugriff am 23.9.2022).