Naturerfahrung und Kulturelle Bildung

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von Ulrich Gebhard

Erscheinungsjahr: 2020

Abstract

Natur und Landschaft haben für den Menschen Bedeutungen, die kulturell erzeugt werden. Diese Bedeutungen sind weniger Eigenschaften der Natur bzw. der Landschaft, sondern Interpretationen des Menschen. Die Bedeutung von Naturerfahrungen für Wohlbefinden, Gesundheit und Sinnkonstituierung ist ein zentrales politisches und kulturelles Thema und damit eine Herausforderung auch für die Kulturelle Bildung: Was bedeutet dies konkret im Kontext von Freiheit, gutem Leben, Wohlfühlen und Gesundheit? Denn das gute Leben ist auch eine Funktion der Qualität der Natur, der Umwelt, in der wir leben. 

Natur als Kultur 

Natur und Landschaft haben für den Menschen eine Bedeutung, die kulturell erzeugt wird. Sie, sind weniger Eigenschaften der Natur bzw. der Landschaft, sondern Interpretationen des Menschen (vgl. Hunziker 2010). Sowohl das menschliche Verhältnis zur Natur als auch der Naturbegriff unterliegen kulturellen Einflüssen. Es handelt sich nämlich immer um von Menschen angeeignete und bereits reflektierte Natur, die ohne die Beziehung zu ihr gar nicht zu denken ist. Insofern ist die Frage nach der subjektiven Bedeutung von Natur bzw. Naturerfahrung letztlich eine kulturwissenschaftliche beziehungsweise eine kulturpsychologische Fragestellung (vgl. Sichler 1992). 

Durch den Leib, durch die „Natur, die wir selber sind” (vgl. Böhme 1992) hat der Mensch Anteil am Natürlichen und vor diesem Hintergrund hängt die Naturbeziehung und die Selbstbeziehung des Menschen zusammen. Wir können nicht objektivierend definieren, was die Natur an sich ist. Wir können aber darüber nachdenken, was sie für uns ist, wir können darüber nachdenken, was die Natur uns bedeutet. Bei Naturerfahrungen geht es nicht um ein gleichsam naturwüchsiges Geschehen, sondern stets um einen kulturell vermittelten Aneignungsprozess von Natur. Naturbeziehung und Naturwahrnehmung setzt Naturinterpretation voraus.

Dass und wie sehr unsere Naturvorstellungen kulturell erzeugt sind, betont die „Cultural Theory“ (Wildavsky 1991), wenn sie – durchaus mit kritischer Note – von „Myths of Nature“ spricht. In Abgrenzung dazu zeigt Reusswig (2004), wie sehr die Naturbilder mit ihren kognitiven, emotionalen und ästhetischen Elementen wesentlich von unterschiedlichen Lebensstilen geprägt sind. Wie wir Natur interpretieren, ist insofern ein zutiefst kulturelles Thema und hat zudem auch etwas mit der jeweiligen psychischen und sozialen Verfasstheit zu tun (vgl. Groh 1996).

Es geht darum, wie sich äußere Natur in der inneren Natur des Menschen repräsentiert und was das für Folgen hat. Der Vorstellung Alexander von Humboldts entsprechend, der bei der Naturforschung „nicht bei den äußeren Erscheinungen allein verweilen”, sondern die Natur so erforschen wollte, „wie sie sich im Inneren der Menschen abspiegelt”. Und wie sich Natur im Inneren spiegelt, ist angesichts – negativ formuliert – der ökologischen Krise, dem Klimawandel oder – positiv formuliert – der Bedeutung von Naturerfahrungen für Wohlbefinden, Gesundheit und Sinnkonstituierung ein zentrales politisches und kulturelles Thema und damit eine Herausforderung für die Kulturelle Bildung. 

Denn Naturerfahrungen sind immer auch Kulturerfahrungen, oder – wie E.E. Boesch es ausdrückt – die „Kultur ist das Biotop des Menschen” (Boesch 1980:10). Dabei ist die Unterscheidung von Objektivierung und Subjektivierung der Umwelt von Bedeutung (vgl. Gebhard 2020). Die Natur hat für den Menschen zwar eine „objektive” Bedeutung, wird zugleich jedoch auf subjektive Weise mit symbolischen Bedeutungen aufgeladen.

„Die Umwelt ist Kultur nicht einfach in dem Sinne, daß sie zu einem größeren Teil durch den Menschen erst gestaltet wurde, sondern auch in dem tieferen Sinne, daß sie, auch als Natur, immer zugleich auch Struktur und Symbol ist, eingebettet in Bedeutungssysteme komplexer Art, Träger von Valenzen und damit Versprechungen, Bestätigungen oder Begrenzungen und Bedrohungen des Handelns.“ (Boesch 1980:100)

In diesem kulturwissenschaftlichen Zusammenhang ist ,Natur' vor allem in ihrer symbolischen Valenz von Bedeutung. ,Natur' wird beispielsweise zum Symbol für paradiesische, auch utopische Zustände, kennzeich­net eine Sehnsucht nach Unentfremdetheit, nach Ganzheit und Glück.

Eine solche Sehnsucht nach ,Naturschönheit' und eine entsprechende ästhetische Stilisierung wurde historisch erst möglich, nachdem eine reale Entfremdung (und/oder auch Emanzipation) von der Natur durch die Entwicklung von Naturwissenschaft und Technik eingetreten ist. Der Prozess des Wandels von einer negativen zu einer positiven Sicht der (wilden) Natur wird geradezu als „eine der Bedingungen der Möglichkeit von Naturerfahrung” (Groh/Groh 1989:54) betrachtet. Die in Poesie und Landschaftsmalerei gleichermaßen stilisierte Sehnsucht nach Arkadien war jedenfalls nicht zufällig eine Begleiterscheinung der Aufklärung. „Das vorgeblich geschichtslose Naturschöne hat seinen geschichtlichen Kern” (Adorno 1970:102). In der Symbolik von schöner Natur verdichtet sich zum einen eine Kritik an politischen Zuständen, zum anderen eine regressive Tendenz hin zu einer harmonisch phantasierten Vergangenheit, aber auch ein utopischer Entwurf für eine bessere Zukunft, wobei die auch bedrohlichen Aspekte der Natur eher ausgeblendet sind. 

So ist zumindest eine Bedingung der Romantisierung (oder auch Verklärung) von Natur, dass man keine Angst mehr vor ihr hat. Die gesuchte Nähe zur Natur setzt die Distanz zu ihr voraus, die erst durch Technik und Naturwissenschaft gewährleistet ist. Vor allem die gezähmte (kulturivierte) Natur ist schön. 

In diesem Kontext ist ,Natur' meistens ,gut'. Das gilt für das romantische Naturgedicht ebenso wie für die moderne Waschmittelwerbung. Dass diese deutlich positiv getönte Natursymbolik die Menschen nicht gehindert hat, die konkrete Natur zu zerstören, steht freilich in einem merkwürdigen Missverhältnis zu dieser Naturästhetik; künstlerischer und wissenschaftlich-technischer Zugang zur Natur sind eben auseinandergefallen. Doch kann ,Natur' auch eine kritische Kategorie sein, nämlich als (symbolisches) Korrektiv zu einer entfremdeten Gesellschaft und als Vor-Schein (im Blochschen Sinne) einer utopischen Welt. ,Natur' ist dann nach Bloch ein „Vermissungs- und Überholungsbild” einer Welt ohne Entfremdung, wozu freilich ein „nicht quantifizierend-kalkulatorischer Naturbezug” (Bloch 1970:170) gehört.

Es kommt darauf an, auf das kritische Potential von Kunst, das heißt hier von Naturästhetik, zu insistieren, statt die utopischen Momente der Natursymbolik vorschnell leichtfertig zu verschenken. Angesichts der ökologischen Krise kann das bedeuten, die Versprechungen der Naturästhetik mit der realen Naturerfahrung zu konfrontieren. Eine solchermaßen „ästhetische Erziehung” (Schiller) des Menschen verrät weder das utopische, kritische Moment von Kunst, noch ist sie eine unpolitische, folgenlose Flucht in ein idyllisches Arkadien.

Indem die Erfahrung von äußerer Natur zugleich eine Erfahrung von innerer Natur ist, wird die symbolisch-ästhetische Valenz von Naturerfahrungen zentral. Die symbolische Valenz unserer Naturerfahrungen kann zu einer „Attraktion der ästhetischen Natur” werden, die zugleich ein „absichtslos sinngebender Akzent des menschlichen Daseins” (Seel 1991:106) ist. „Die Gegenwart des Naturschönen ist in diesem Sinn unmittelbar und mittelbar gut, ihre Erfahrung also eine positive existentielle Erfahrung” (Seel 1991:303). Martin Seel unterscheidet in seiner „Ästhetik der Natur” drei Weisen der sinnlichen Wahrnehmung von Natur:

  • die Kontemplation als Modus sinnfremder Naturbegegnung,
  • die Korrespondenz als Modus sinnhafter Naturbegegnung und 
  • die Imagination als Modus bildhafter Naturbegegnung. 

Durch die symbolisch-ästhetische Aufladung von Natur kann Natur-Erfahrung in gewisser Weise eine Art von sinnstiftender Selbst-Erfahrung werden. Das gilt auch dann, wenn der reflexive Geist den projektiven Charakter der symbolisch gedeuteten Natur erkennt. Sinn ist nie ein gestifteter, Sinn ist immer ein erzeugter. Zu betonen ist weiterhin, dass die symbolische Aufladung von Natur nicht nur ein bewusst zielgerichteter Prozess ist, sondern dass sich die Phantasien und Bedeutungszuschreibungen über Natur auch aus unbewussten Quellen speisen werden. Dass Sinnerzeugung qua Natur möglich ist, zeigen nicht nur die historischen Naturkonzeptionen des 18. und 19. Jahrhunderts, sondern auch die je individuellen Symbolisierungen und sinnhaften Konstrukte, die auch Gegenstand kultureller Bildung sein können.

Gutes Leben braucht gute Orte

Das ,gute Leben' hat Konjunktur und wird in der Philosophie ebenso wie im öffentlichen Diskurs thematisiert. Die Frage nach dem guten Leben ist durchaus radikal gemeint und weit entfernt, sich mit hedonistischen Oberflächlichkeiten zufrieden zu geben. Auch unsere Naturverhältnisse haben etwas mit dem guten Leben zu tun. Es ist für uns nicht gleichgültig, in welchem Verhältnis wir zu unserer Umgebung stehen. Landschaft und Natur, Orte, in denen wir uns aufhalten, sind wesentliche Rahmenbedingungen für ein gelingendes menschliches Leben. In diesem Zusammenhang gibt es zudem eine gesellschaftliche Debatte über den Zusammenhang von menschlichen Naturverhältnissen und dem guten Leben, die auch politische und ethische Aspekte – Nachhaltigkeit, Klima, Umweltkrise – in den Blick nimmt. Es gibt nicht nur gute Werte, Beziehungen, Lebensstile, Konsumhaltungen und vieles mehr – es gibt gewissermaßen auch ,gute Orte‘, in denen wir in einer Art von Resonanz gleichsam ,aufblühen‘, eben gut leben können (vgl. Gebhard/Kistemann 2016). 

Das gute Leben ist also auch eine Funktion der Qualität der Natur, der Umwelt, in der wir leben. Für viele Menschen gehört dazu die Natur. In der seit 2009 aller zwei Jahre durchgeführten Naturbewusstseinstudie zeigt das Bundesamt für Naturschutz (BfN) auf, dass für über 90 % Deutschen „die Natur zu einem guten Leben dazu gehört“. 

Dass mit dem Erleben von Natur auch Aspekte des guten Lebens berührt werden können, hat bereits Immanuel Kant formuliert: seine Überlegungen zum Naturschönen finden wir in der „Kritik der Urteilskraft“ (Kant 1790 § 86), nämlich, „dass ein unmittelbares Interesse an der Schönheit der Natur zu nehmen [...] jederzeit ein Kennzeichen einer guten Seele sei; und dass, wenn dieses Interesse habituell ist, es wenigstens eine dem moralischen Gefühl günstige Gemütsstimmung anzeige, wenn es sich mit der Beschauung der Natur gerne verbindet“ (Kant 1790/1977:395). 

Bei unseren Naturbeziehungen geht es nicht nur um das Überleben, sondern auch um das sinnerfüllte, das ,gute Leben'. Diese Sinndimension unserer Naturbeziehungen ist in den erwähnten Naturbewusstseinstudien des BfN deutlich geworden. Es hat sich gezeigt, dass ,Natur' neben der wichtigen Funktion als Erfahrungsraum – zum Beispiel Erlebnisse in Natur und Landschaft zur Erholung, Freude und Gesundheit – als eine Art ,Sinninstanz‘ fungiert. Nach den Befunden der Naturbewusstsein-Studien ist ,Natur' im Bewusstsein der Menschen ebenso als eine Metapher für ein ,gutes Leben', Gerechtigkeit und Glück zu verstehen. Dabei wird ,Natur' mit angenehmen Gefühlen verbunden und die dadurch evozierten inneren Naturbilder sind ,angenehm', ,ruhig', ,ausgleichend' und ,fröhlich'. Diese Bilder, Gefühle und Atmosphären, die sich im Bewusstsein der Menschen mit ,Natur' verbinden, können dazu beitragen, das eigene Leben als ein sinnvolles zu interpretieren. Diese Sinndimension macht die Naturerfahrung zu einem Gegenstand Kultureller Bildung.

Damit wird übrigens nicht behauptet, dass die Natur im Stile des naturalistischen Fehlschlusses Werte und Sinn vorgeben könnte. Diese normative Verwendung von ,Natur' hat sich stets als ideologisch einseitig und gefährlich erwiesen. Doch kann ,Natur' gewissermaßen ein realer und phantasierter Resonanzraum sein, in dem und angesichts dessen Sinnkonstituierungsprozesse möglich werden können.

Diese Unterscheidung ist für die (kultur-)pädagogische Praxis grundlegend, sollen nicht unreflektiert vermeintlich natürliche Ordnungen zum Orientierungspunkt für ethische Positionierungen werden. Während in der Ethik Natürlichkeit als Norm inzwischen obsolet geworden ist, hat sie im Alltagsbewusstsein einen nicht zu vernachlässigenden ‚Bonus‘ (vgl. Birnbacher 2006). Dieser entspringt der Sehnsucht nach einem gleichsam naturgegebenen Leitbild, wobei Natur meist positiv konnotiert wird. Dabei wird die besagte Sein-Sollen-Unterscheidung übersehen und es bleibt unthematisiert, dass der jeweils präsupponierte Naturbegriff eine menschliche Konstruktion ist, der nicht ‚objektive‘ Grundlage für Werturteile sein kann (Gebhard/Langlet 1997). Eine derartige Grundlage gibt es generell nicht – auch z.B. Menschenrechte sind menschengemacht. Jedoch suggeriert der Rückbezug auf Natur, diese prinzipielle Ungewissheit ließe sich umgehen. Das ist das Verführerische und auch Gefährliche an naturalistischen Argumentationen.

Doch darf mit der Keule des ,naturalistischen Fehlschlusses' das Kind nicht mit dem Bade ausgeschüttet werden. Denn Natur kann jenseits ontologisierender Festschreibungen in einem symbolischen Sinne verstanden werden, weil – wie Hartmut Rosa konstatiert – „die Welt den handelnden Subjekten als ein antwortendes, atmendes, tragendes, in manchen Momenten sogar wohlwollendes, entgegenkommendes oder ‚gütiges‘ Resonanzsystem erscheint“ (Rosa 2012:9). Vor dem Hintergrund dieser möglichen Resonanz wird im Verhältnis des Menschen zur äußeren Natur stets auch sein Verhältnis zu sich selbst sichtbar. Die Erfahrungen, die wir in und mit der Natur machen, sind auch Erfahrungen mit uns selbst – nicht nur, weil wir es sind, die diese Erfahrungen machen, sondern weil Naturphänomene Anlässe sind, uns auf uns selbst zu beziehen (Gebhard 2005). Natur wird auf diese Weise – wie Caspar D. Friedrich es sagte – zur „Membran subjektiver Erfahrungen und Leiden“ (zit.n. Altner 1991:9). Insofern können Naturerfahrungen die Identitätsentwicklung zumindest begleiten und – damit im Zusammenhang – naturethische Einstellungen emotional unterfüttern, allerdings nicht begründen.

Damit Natur eine günstige Lern- und Entwicklungsumgebung sein kann (vgl.  Gebhard 2014), muss die spontane Geste in kindlichen Naturkontakten geachtet, geradezu geschützt werden. Dafür ist das ‚Atmosphärische‘ beim Spielen in der Natur weitaus wichtiger als alle möglichen biologischen, umweltpädagogischen oder sonstigen Lernprozesse, die selbstverständlich auch in der Natur möglich sind. Bildungsprozesse, gerade in der frühen Kindheit, legen eher die Grundlage für spätere (auch inhaltliche) Lernprozesse; sie setzen auf Persönlichkeitsbildung und -stärkung, indem sie die besagte spontane Geste des Kindes und damit sein Autonomiebedürfnis nicht ins Leere laufen lassen. So besteht ein wesentlicher Wert von Naturerfahrungen in der Freiheit, die sie vermitteln können.

Bedeutung von Naturerfahrungen für die psychische Entwicklung

Alexander Mitscherlich äußerte in den 1960er Jahren die Vermutung, dass eine besondere Entfremdung von der Natur – wie in den „unwirtlichen Städten“ – soziale und psychische Defizite hervorrufe, was besonders bei der Entwicklung von Kindern sichtbar werde. Danach ‚braucht‘ das Kind seinesgleichen –„nämlich Tiere, überhaupt Elementares, Wasser, Dreck, Gebüsche, Spielraum“ (Mitscherlich 1965:24). Hier ist relativierend anzumerken, dass sich die Persönlichkeit des Menschen gemäß den meisten (entwicklungs-)psychologischen Schulen v.a. als das Ergebnis der Beziehung zu sich selbst und der Beziehung zu anderen Menschen ausbildet. In der Persönlichkeitsstruktur verdichten sich danach die Erfahrungen mit sich selbst und anderen Menschen; die nicht-menschliche Umwelt, die Natur, spielt in einem solchen, gleichsam zweidimensionalen Persönlichkeitsmodell nur eine untergeordnete Rolle. Die Erfahrungen z.B., die Kinder mit Bezugspersonen machen, bestimmen wesentlich die Persönlichkeit und auch, mit welcher Tönung und Qualität die Welt wahrgenommen wird. Erik H. Erikson hat für diesen Zusammenhang den Begriff ‚Urvertrauen' eingeführt (vgl. Erikson 1950).

Im hier gegebenen Zusammenhang geht es um die Bedeutung von Naturerfahrungen für die Konstituierung besagten Urvertrauens. Es geht dabei – im Rahmen eines dreidimensionalen Persönlichkeitsmodells – um den Gedanken, dass die Vertrautheit, die wir mit der Welt entwickeln können, sich auch als das Ergebnis einer gelungenen Beziehung zur Welt der Natur bzw. überhaupt der Dinge verstehen lässt, dass unser Leben also im Sinne des Wortes be‑dingt ist, wobei die Beziehungen zu Menschen aber fraglos ihre wesentliche Bedeutung behalten (vgl. Searles 1960). In einem solchen dreidimensionalen Persönlichkeitsmodell ist Natur für die Subjekte nicht nur eine objektive Gegebenheit, sondern in gewisser Weise auch Interaktionspartner; die Dinge werden zu Elementen eines persönlich gedeuteten Lebens und erhalten psychische Valenzen. Die auf diese Weise entstehenden inneren Bilder enthalten nicht lediglich das getreue Spiegelbild der äußeren Welt, sondern sind mit symbolischer Bedeutung, in der der besagte Beziehungsaspekt zu den Objekten verdichtet ist, gleichsam aufgeladen (vgl. Gebhard 2018). Es verwirklicht sich also in jeder Aneignung von Dingen auch eine Möglichkeit des Subjekts.

Ausgewählte empirische Hinweise für einen positiven Einfluss von Naturerfahrungen seien im Folgenden genannt: So wird in der Kleinkindforschung z.B. hervorgehoben, wie wichtig eine vielfältige Reizumgebung ist (vgl. Schneider/Lindenberger 2012). Neben dem Einfluss auf die Gehirnentwicklung trägt eine reizvielfältige Umwelt dazu bei, psychische Entwicklungsschritte anzuregen und zu fördern. Eine reizarme bzw. reizhomogene Umwelt wirkt sich in mehrfacher Weise negativ aus. Das Optimum liegt zwischen homogenen, immer gleichen, vertrauten Reizen einerseits und sehr neuen, fremdartigen Reizen andererseits. Eine naturnahe Umgebung, in der sowohl relative Kontinuität als auch ständiger Wandel besteht, ist ein sehr gutes Beispiel für eine Reizumwelt, die eine Mittelstellung zwischen neu und vertraut einnimmt. Eine solche ‚reizvolle‘ Umgebung lädt ein zur Exploration, zur Erkundung, weil sie neu und interessant ist – aber eben zugleich vertraut. Dem Bedürfnis nach aktiver Orientierung kann man am besten nachgehen in einem Zustand relativer Sicherheit und Geborgenheit. Naturerfahrungen nehmen die Neuigkeit der Umgebung zum Anlass für explorative Aktivität, wodurch zugleich Sicherheit und Vertrautheit herstellt werden kann. 

Yarrow et al. (1975) untersuchten, mit welchen Dingen aus der physischen Welt Kleinkinder umgehen. Danach bevorzugen Kinder Dinge, die erkennbar reagieren, komplex sind und zudem eine hohe Varietät haben. Diese Kriterien werden, auch wenn das nicht ausdrücklich betont wird, insbesondere von Naturphänomenen erfüllt. Blinkert (1996) konnte zeigen, dass „‚Aktionsräume' in relativ unmittelbarer Wohnumgebung – und das waren in seinen Untersuchungen ganz wesentlich naturnahe Freiräume – den ansonsten zu konstatierenden Tendenzen zu Medienkonsum, Verhäuslichung und organisierter Kindheit zumindest entgegenwirken (vgl. Blinkert et al. 2015).

In einer vergleichenden ethnographischen Studie beschreibt Tuan (1978), dass Kinder aller Kulturen im vorpubertären Alter ein ausgeprägt emotionales Verhältnis zu ihrer natürlichen Umwelt entwickeln. Insgesamt (weitere empirische Hinweise in Gebhard 2020) lässt sich sagen, dass Natur in der Tat für die psychische Entwicklung günstig ist. Die Natur verändert sich ständig und bietet zugleich Kontinuität. Die Vielfalt der Formen, Materialien und Farben regt die Phantasie an, sich mit der Welt und auch mit sich selbst zu befassen. Das Herumstreunen in Wiesen und Wäldern, in sonst ungenutzten Freiräumen kann Sehnsüchte nach Wildnis und Abenteuer befriedigen. Der psychische Wert von Natur besteht zumindest auch in ihrem eigentümlichen, ambivalenten Doppelcharakter: Sie vermittelt die Erfahrung von Kontinuität und damit Sicherheit und zugleich ist sie immer wieder neu. Auch in der Anthropologie geht man davon aus, dass es beim Menschen einerseits einen grundlegenden Wunsch nach Vertrautheit und anderseits ein ebenso grundlegendes Neugierverhalten gibt. Auch wenn man ein Naturbedürfnis nicht gleichsam als anthropologische Konstante formulieren kann, lässt sich insgesamt sagen, dass die Natur diesen eigentlich widersprüchlichen Bedürfnissen sehr gut entspricht.

Es gibt auch Hinweise zur gesundheitsfördernden Wirkung von Natur (Gebhard 2010). Naturräume mit Wiesen, Feldern, Bäumen und Wäldern haben eine belebende Wirkung bzw. bewirken eine Erholung von geistiger Müdigkeit und Stress. Der Zusammenhang von Naturerfahrungen und Gesundheit wird häufig mit evolutionären Annahmen in Verbindung gebracht, wonach eine Präferenz für naturnahe Umwelten auf biologisch fundierten Dispositionen beruhe („Biophilie“). Nach der „Attention Restoration Theory“ von Rachel und Stephen Kaplan (1989) wirken Naturräume deshalb günstig auf die Gesundheit, weil sie eine Erholung verbrauchter Aufmerksamkeitskapazität bewirken. Mit Blick auf die gesundheitlichen Konsequenzen fehlender Naturerfahrungen wird bisweilen (allzu) fatalistisch von einem „Naturdefizitsyndrom“ (Louv 2005) gesprochen.

Natur als Ort für Freizügigkeit und Unkontrolliertheit

Die beliebtesten Naturflächen bei Kindern sind solche Orte, die von den erwachsenen Planer*innen vergessen wurden. Ein wesentlicher Wert von Naturerfahrungen besteht nämlich in der Freiheit, die sie vermitteln (können). Naturnahe Spielorte bieten Situationen, in denen viele kindliche Anliegen nebenbei und ohne pädagogisches Arrangement ausgelebt werden können. „Wir sind so gern in der freien Natur, weil diese keine Meinung über uns hat“, sagte Nietzsche ([1878] 2013:§ 508).

In einer vergleichenden Studie in mehreren süddeutschen Städten (Reidl et al. 2005) konnte der Erlebnis- und Spielwert von Brachflächen bestätigt werden: In Naturerfahrungsräumen spielen Kinder länger, lieber und auch weniger allein. Ein Bewusstsein für Lieblingsorte ist ausgeprägter. Wesentliche Motive sind die Unkontrolliertheit und Freizügigkeit, für Jungen noch mehr als für Mädchen. Eine qualitative Analyse der Aktionen zeigte zudem, dass das Kinderspiel komplexer, kreativer und selbstbestimmter ist. Diese positive Bedeutung konnte in Elternbefragungen bestätigt werden.

Erst relative Freizügigkeit ermöglicht es, sich die Natur wahrhaft anzueignen. Die Wirkung von Natur ereignet sich nämlich nebenbei. Natur wird als bedeutsamer Raum erlebt, in dem man eigene Bedürfnisse erfüllen, eigene Phantasien und Träume schweifen lassen kann – und der auf diese Weise eine persönliche Bedeutung bekommt. Positive Wirkungen von Naturerfahrungen entfalten sich nicht in selbstverständlicher Weise, wenn Natur verordnet wird, z.B. indem allzu umstandslos Naturorte zu Lernorten gemacht werden. Naturnähe ist oft schon da, sie braucht mehr das Interesse der Erwachsenen und die großzügige Gewährung als die allzu pädagogische und didaktische Geste.

Animistisch-anthropomorphe Interpretationen als Bestandteil bedeutsamer Naturerfahrungen

Das Atmosphärische bei Naturerfahrungen öffnet die Chance, die Beziehung zur Natur und die Beziehung zum eigenen Selbst zusammenzubringen. Das macht die wohltuende, befreiende und auch kontemplative Wirkung von Naturerfahrungen aus (Gebhard 2010). Dass in Naturerfahrungen Selbst- und Naturbezug zusammengehen, macht auch verständlich, dass dabei die Natur häufig eine physiognomische Gestalt annimmt. Auf symbolische Weise fühlt man sich bei Naturerlebnissen ‚gemeint‘ und angesprochen. So ist die symbolische Bedeutung von Natur ein wichtiger Aspekt von Naturerfahrungen. In diesem Kontext ist auch bedeutsam, dass Kinder die Natur bzw. einzelne Elemente in ihr beseelen. Mit solchen Anthropomorphisierungen ist zum einen eine moralische Bewertung von Natur und zum anderen eine identitätsstiftende Funktion verbunden (Gebhard et al. 2003).

Besonders verbreitet sind anthropomorphe Vorstellungen im Hinblick auf Tiere. Wenn sich eine Beziehung zu einem Tier vertieft, wird es z.T. so gesehen und behandelt wie ein Mensch. Viele Kinder (und auch Erwachsene) sprechen mit dem Tier, nehmen es mit ins Bett, feiern seinen Geburtstag oder stellen ein Bild von ihm auf. Das anthropomorphe Denken gehört zu dem Komplex, den Piaget (1926) animistisches Denken genannt hat. Jean Piaget meint damit eine kindliche Haltung gegenüber der Welt, die davon ausgeht, dass die äußeren Objekte so ähnlich oder sogar genauso sind wie das Kind selbst. Die Erfahrung der eigenen Gefühlshaftigkeit und Intentionalität wird auf andere Objekte projiziert. Es ist das Weltbild des egozentrischen Kindes, das so auf eine ihm gemäße Weise die Welt systematisiert und deutet. Piaget nimmt an, dass dieses Denken etwa bis zur Zeit der Pubertät von einer rationalen Weltsicht abgelöst werde. In wesentlichen Punkten muss die Animismustheorie von Piaget inzwischen modifiziert werden (Pauen 1997). Das betrifft die Unterscheidungsfähigkeit von lebendig und nicht-lebendig, die Bedeutung der autonomen Bewegung und den Altersverlauf. Es geht nicht mehr v.a. darum, wie ähnlich die kindlichen Konzepte denen der Erwachsenen sind bzw. wie die kindlichen Konzepte immer ‚richtiger‘ werden. Susan Carey versteht das animistische Denken nicht als Ausdruck des egozentrischen Weltbildes, sondern als Form eines „Wissensdefizits” (Carey 1985). Beide Hypothesen – die unreifer Denkstrukturen (Piaget) und die eines Wissensdefizits (Carey) – orientieren sich an den animistischen ‚Fehlern‘ der Kinder. Damit gerät nicht in den Blick, dass animistische Denkhaltungen auch einen symbolischen Bezug zu Tieren und Pflanzen herstellen, der auf einer anderen Ebene als das rationale Verständnis liegt und nicht als bloße Realitätsverkennung gedeutet werden darf. So konnte Claudia Mähler zeigen, dass bereits Vorschulkinder mühelos zwischen animistischen und rationalen Deutungen hin- und herpendeln können (Mähler 1995). Die Interpretation des Animismus als Ausdruck von Phantasietätigkeit und Kreativität ist vor diesem Hintergrund ausgesprochen plausibel. Die Koexistenz von rationaler und magisch-animistischer Denkweise im Hinblick auf die Natur erlaubt es, sowohl in naturwissenschaftlichen Begriffen als auch in animistischen Geschichten zu denken, ohne dabei durcheinander zu kommen. Dazu braucht es die Fähigkeit der „Zweisprachigkeit“ (Combe/Gebhard 2012), die nicht unterhöhlt werden darf. So wird sich unter der dezentrierten, objektivierenden Perspektive auch immer ein sozusagen animistischer, affektiver Unterbau in der Beziehung zur Natur befinden, den es nicht abzubauen, sondern zu kultivieren gilt. Denn die Tendenz des kindlichen Weltbildes, die Welt im Lichte des eigenen Selbst zu interpretieren und demzufolge auch zu anthropomorphisieren, wird nicht abgelöst durch das objektivierende Denken, sondern durch dieses sekundäre Denken ergänzt und komplettiert.

Naturerfahrungen und Umweltbewusstsein

Neben den günstigen Wirkungen auf die seelische Entwicklung und auch davon unabhängig wird häufig in umweltpädagogischen Konzepten betont, dass Naturerfahrungen eine Bedingung dafür sind, sich für die Erhaltung der Natur und Umwelt einzusetzen. Naturerfahrungen wird in diesem Zusammenhang die Funktion zugeschrieben, Menschen in ihren Einstellungen zur Natur und auch zu anderen Menschen zu beeinflussen. Bereits Henry D. Thoreau hat dies in seinem Essay Walking (1862) sehr zugespitzt behauptet, nämlich dass in Wildnis bzw. in der Erfahrung von Wildnis der Schutz der Welt angelegt sei. Kurt Hahn, einer der Begründer der Erlebnispädagogik, hat von der pädagogischen Inszenierung von Erlebnissen dezidiert eine „Werteerziehung“, geradezu eine „Charaktererziehung“ gefordert. In der sogenannten Naturerfahrungspädagogik (z.B. Cornell 1979; Unterbruner/FORUM Umweltbildung 2005) ist diese moralische oder bisweilen geradezu moralisierende Dimension besonders ausgeprägt. Zu bedenken ist allerdings, dass diese moralisierende Funktion durchaus auch Widerstand hervorrufen kann und dass eine mit den Naturerlebnissen verbundene „Werteerziehung“ in ausgesprochener Weise der Reflexion bedarf.

Eine Reihe von empirischen Studien belegt einen Zusammenhang von positiven Naturerlebnissen – in der Kindheit – und umweltpfleglichen Einstellungen, wobei allerdings anzumerken ist, dass das für pädagogisch initiierte Naturerfahrungen nicht so eindeutig zutrifft (z.B. Kals et al. 1998; Lude 2001). So muss bei entsprechenden Bildungsbemühungen bedacht werden, dass es v.a. die selbst gewählten, freizügigen Naturerfahrungen sind, die gleichsam beiläufig in Richtung umweltpfleglicher Einstellungen und Handlungsbereitschaften wirken können. Auch Befunde im Umkreis der sogenannten „significant life experiences“ aus den USA, Australien, Großbritannien weisen darauf hin, dass Naturerfahrungen in der Kindheit einer der wichtigsten Anregungsfaktoren für späteres Engagement für Umwelt- und Naturschutz sind. Auch persönliche Vermittlungen  – Vorbilder – und Medien sind nicht unbedeutend, aber der unmittelbaren Naturerfahrung nachgeordnet.

Bisherige eher rationalistische Ansätze in der Moralpsychologie gehen mit Jean Piaget und Lawrence Kohlberg davon aus, dass der Mensch zu moralischem Wissen und moralischem Urteilen primär durch einen Prozess des rationalen Denkens gelangt. In neueren intuitionistischen Ansätzen der Moralpsychologie wird dagegen angenommen, dass zunächst eine moralische Intuition vorhanden ist und diese direkt das moralische Urteil verursacht. Das rationale Denken findet überwiegend nach dem intuitiven Urteil, also als post hoc-Rechtfertigung statt, d.h., dabei wird in der Regel überwiegend nach Pro-Argumenten für das intuitiv bereits gefällte Urteil gesucht. In seinem Ansatz legt Jonathan Haidt plausibel dar, dass bereits während der Wahrnehmung Schlussfolgerungen gleichsam automatisch generiert werden, die aber erst post hoc legitimiert und rational begründet werden; die moralische Argumentation gleiche eher dem Plädoyer eines Rechtsanwalts, bei dem die zu vertretende Position durch den Auftrag bereits feststeht, als der Argumentation eines wahrheitssuchenden Wissenschaftlers, bei dem die Lösung offen ist (Haidt 2001). Selbstverständlich sind Intuitionen nicht die besseren Urteile, aber weil sie maßgeblich auf Denken und Handeln Einfluss nehmen, müssen sie in Reflexionsprozessen berücksichtigt werden.

Die zentrale Bedeutung von Reflexion wird auch in dem Erfahrungskonzept von John Dewey hervorgehoben. Dewey (1916) beschreibt den Beginn eines Erfahrungsprozesses als ein krisenhaftes Geschehen, das aus der Zeit und Kontinuität herausrückt. Eine solche Situation enthält eine Fremdheitszumutung. Die Öffnung eines Vorstellungs- und Phantasieraumes ist der entscheidende Schritt für die Produktivität der Erfahrung. Dieser Schritt führt über die Irritation hinaus und macht verstehbar, warum man den Anspruch von Erfahrungen und den damit verbundenen Irritationen auf sich nimmt. Entscheidend ist nun die Ebene der Reflexion und Versprachlichung: Ein durchlebtes Ereignis kann erst durch Reflexion zu einer die Person berührenden Erfahrung werden (Combe/Gebhard 2007).

Im Kontext der Reflexionsnotwendigkeit sei auch auf den Ansatz des ,Philosophierens mit Kindern' verwiesen, wobei es bereits Anregungen zum ,Philosophieren über Natur' gibt. Der pädagogisch-didaktische Ansatz der „Alltagsphantasien“ (Gebhard 2015) akzentuiert in diesem Kontext die Bedeutung der Reflexion von intuitiven Vorstellungen, die bei Naturerfahrungen eine wichtige Rolle spielen. Dabei geht es um die bereits benannte Fähigkeit der „Zweisprachigkeit“, nämlich zwischen rationalen und intuitiven Vorstellunge – über Natur – hin und her pendeln zu können, beide Seiten kultivieren zu können, ohne sich auf eine Seite schlagen zu müssen. Im Ansatz der Alltagsphantasien wird versucht, das Spannungsverhältnis von Reflexion und Intuition fruchtbar zu machen – auch wegen der eklatanten Diskrepanz zwischen Naturbewusstsein und tatsächlichem Verhalten. Im Hinblick auf Bildungsprozesse lautet dabei die zentrale These, dass ein Wandel des Naturbewusstseins dann eine Chance hat, wenn die intuitiven Bilder und Phantasien zu Natur einerseits und die ökologischen, politischen, kulturellen usw. Argumente im Hinblick auf Natur andererseits miteinander in Beziehung gebracht werden. Die Argumentation folgt dabei keinem antirationalen, naturschwärmerischen Duktus, sondern der Überzeugung, dass es rational ist, auch irrationale Anteile zum Gegenstand der Reflexion zu machen.

Naturerfahrungen haben also, betrachtet man sie vor dem Hintergrund des sozial-intuitionistischen Modells, eine Funktion im Hinblick auf das Naturverhältnis und auf das Naturbewusstsein. Allerdings ist es fraglich, ob diese moralisierende Funktion zielgerichtet angesteuert werden darf. Es spricht viel dafür, dass die Wertschätzung von Natur eher das Ergebnis von beiläufigen, gelungenen Erfahrungen in der Natur ist. Es scheint gerade der Freiraum zu sein, der die Natur so attraktiv macht. Deshalb ist im Blick zu behalten, dass und inwiefern Naturerlebnisse einfach nur gute Erlebnisse sind, die freilich eine Wirkung auf unsere Naturbeziehungen und den Umgang mit der Natur haben können.

Natur als Symbol und als salutogener Faktor

Naturerfahrungen sind ein Element eines Lebens, das etwas mit Wohlbefinden und Lebensqualität, mit einem guten Leben zu tun hat. Aus salutogenetischer Sicht (Antonovsky 1997) könnte man Natur und Landschaft als einen wirksamen Faktor betrachten, der uns in der Polarität zwischen Gesundheit und Krankheit in Richtung des Gesundheitspols orientiert. Durch diese salutogenetische Perspektive auf das Naturerleben gewinnen die bereits mehrfach angesprochenen symbolischen Bedeutungen von Natur ein besonderes Gewicht.

Natur ist auch als ein Symbolvorrat zu interpretieren, der dem Menschen für Selbst- und Weltdeutungen zur Verfügung steht. Diese symbolische Dimension unserer Naturbeziehungen ist für den Menschen als ,animal symbolicum' nicht unbedeutend, ist es doch gerade der symbolische Weltzugang, der es uns gestattet, unser Leben als ein sinnvolles zu interpretieren. Dies wird für die heilsame Wirkung von Naturerfahrungen ein zentraler ,Wirkfaktor' sein. Sowohl in der philosophischen Symboltheorie als auch in der empirischen Psychotherapieforschung wird angenommen, dass Symbole die Funktion haben Sinnstrukturen zu konstituieren. Danach gibt es einen Zusammenhang von psychischer Gesundheit und dem Reichtum an symbolischen Bildern. Natursymbolisierungen wie Wald, Wasser, Tiere etc. scheinen hier eine besondere Bedeutung zu haben (Gebhard 2016).

Vor allem ambivalente Bedeutungen von Natursymbolen machen sie für eine psychodynamische Verwendung gut geeignet, weil widersprüchliche psychische Zustände einen symbolischen Anker finden können. Möglicherweise ist es gerade die Ambivalenz, die Naturerlebnisse für Menschen so anziehend macht. Die Natur in ihren widersprüchlichen Eigenschaften ist für die, nie von Ambivalenzen freie menschliche Seele, ein Ort, an dem die inneren Ambivalenzen ihr bedrohliches Potential verlieren können. Indem die Natur sozusagen mit größter Selbstverständlichkeit Widersprüchliches, Ambivalentes, Spannungsreiches sowohl ist, als auch symbolisch repräsentiert, kann sie zum symbolischen Hoffnungsträger dafür werden, dass sich innerseelische Widersprüche ,aufheben' lassen. 

Viktor von Weizsäcker, ein bedeutender Vordenker der Psychosomatik, hat bereits im Jahre 1930 Gesundheit folgendermaßen definiert: „Die Gesundheit eines Menschen ist eben nicht ein Kapital, das man aufzehren kann, sondern sie ist überhaupt nur dort vorhanden, wo sie in jedem Augenblick des Lebens erzeugt wird. Wird sie nicht erzeugt, dann ist der Mensch bereits krank“ (vgl. Weizsäcker 1930). Die Frage in unserem Zusammenhang wäre dann, ob Naturerfahrung ein Faktor sein könnte, der bei der Erzeugung von Gesundheit wirksam ist. Antonovsky geht davon aus, dass Gesundheit und Krankheit keine puren Entgegensetzungen sind. Menschen bewegen sich danach stets in einem Kontinuum zwischen den Polen Gesundheit und Krankheit. Wo wir uns hier befinden, wird wesentlich durch das sogenannte Kohärenzgefühl gesteuert. Es drückt die subjektive Überzeugung aus, dass das Leben verständlich, beeinflussbar und bedeutungsvoll ist. 

Je stärker das Kohärenzgefühl ausgeprägt ist, desto besser sind die Chancen für das Subjekt, sich in Richtung des Gesundheitspols zu bewegen. Es wird so sein, dass das Kohärenzgefühl durch Naturerfahrungen, durch Aufenthalte in der freien Natur, beim Wandern, im Garten, im Kontakt mit Tieren zu unterstützen ist und damit die Möglichkeiten stärkt, die uns in Richtung des Gesundheitspols wandern lassen.

Natur eignet sich offenbar dazu, innere Seelenzustände in äußeren Gegenständen zu symbolisieren. Das gilt z. T. auch umgekehrt: Das Erleben von äußerer heiler Natur kann eben heilsam auch für die innere Natur sein. So kann eine naturnahe und zugleich symbolisch bedeutungsvolle Umwelt dazu beitragen, das besagte Kohärenzgefühl zu stärken. Eine solche naturnahe Umwelt hat zudem den Vorteil, dass sie relativ unerschöpflich ist und damit immer wieder zum Symbol eines geglückten, eines guten Lebens werden kann.

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Ulrich Gebhard (2020): Naturerfahrung und Kulturelle Bildung . In: KULTURELLE BILDUNG ONLINE: https://www.kubi-online.de/index.php/artikel/naturerfahrung-kulturelle-bildung (letzter Zugriff am 16.07.2024).

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