Nachwuchsförderung in den darstellenden Künsten. Plädoyer zu Profilschulen für Schauspiel und Musiktheater

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von Lars Göhmann

Erscheinungsjahr: 2015/2014

Einleitung

Seit der Mitte der 1970er Jahre hat sich eine umfangreiche Struktur herausgebildet, die Kindern und Jugendlichen überall in der Bundesrepublik die Möglichkeit gibt, Theater als Lehr- und Erfahrungsräume zu nutzen. Bundesweit bieten über dreißig Theaterpädagogische Zentren, unzählige Angebote im Bereich Spiel und Theater durch Kunst- und Musikschulen, Volkshochschulen oder Kinder- und Jugendbildungseinrichtungen ein mittlerweile unüber­schau­bares Netz einer Theaterarbeit mit Kindern und Jugendlichen an.

In allgemeinbildenden Schulen findet sich - trotz schulpolitischer Ignoranz gegenüber den künstlerischen Fächern - ein kontinuierliches Angebot im Bereich der Kulturellen Bildung und eine steigende Nachfrage für ein Unterrichtsfach Theater (ehemals Darstellendes Spiel).

Und nicht zuletzt setzen auch die professionellen Theater auf gezielte Angebote, insbesondere für jüngere und jugendliche Zuschauer, um diesen über den eigentlichen Theaterbesuch hinaus eine Arbeit mit/am Theater zu vermitteln.

Bildungspolitiker und -experten werden nicht müde zu erklären, dass Kulturelle Bildung - also die Wahrnehmung von Gesellschaft über die aktive Auseinandersetzung mit den verschiedenen Künsten - fester Bestandteil von Bildungsprogrammen und -konzeptionen sein muss. So hat auch die Theaterarbeit mit Kindern und Jugendlichen im Laufe der Jahre unter dem Signet der Kulturellen Bildung eine explosionsartige Entwicklung erfahren. Gesellschaftliches Leben ohne die bildnerische Auseinandersetzung mit Kunst und Kultur scheint nicht mehr vorstellbar; Kultureller Bildung, so wird unermüdlich festgestellt, gelingt es, die Aspekte von Kunst, Kultur, Gesellschaft, aber auch die des einzelnen Individuums sowie seiner bildnerischen Notwendigkeit zu einer kulturanthropologischen Gesamt­konzeption zusammen­zufügen.

Allerdings zeigt sich zunehmend auch, dass unter dem Begriff der Kulturellen Bildung zwar eine unüberschaubare Auswahl von Kursen, Projekten und Institutionen entwickelt wurde, deren Quantität auf der einen Seite wünschenswert ist, deren Qualität jedoch oftmals künstlerischen Bildungsansprüchen nicht genügen. In diesem Kontext stellt sich dann die Frage, warum jene in ihren vermeintlich künstlerischen Prozessen entstandenen Ergebnisse - wie es Stefanie Marr be­nennt - nicht selten trivial sind, warum sie so wenig mit Kunst zu tun haben (Marr 2007: Klappen­text). Eine parallel zum Ausbau der Angebote kultureller Bildung stattfindende Entwicklung von gezielten Programmen der Künstlerischen Bildung - insbesondere im Kontext einer curricularen Nachwuchs- und Begabtenförderung in Schauspiel, Gesang und Tanz - besteht nicht; im Gegenteil lässt sich sogar beobachten, dass bereits vorhandene Nachwuchsprogramme in bestimmten Segmenten zugunsten der auf Breiten­bildung ausgerichteten kulturellen Bildung bewusst zurückgefahren wurden.

Handlungsnotwendigkeit in der künstlerischen Nachwuchsförderung

Es ist daher nachvollziehbar, dass spartenübergreifend Anbieter künstlerischer Bildung einen spürbaren Rückgang im Bereich der Qualität des künstlerischen Nachwuchses beklagen. Deutschland verkommt im Mittelmaß. Gerade in der klassischen Musik, aber auch im Musiktheater (Musical) oder im Tanz werden im internationalen Vergleich die Handlungs­notwendigkeiten im Bereich der künstlerischen Nachwuchsförderung in Deutschland zunehmend offensichtlicher.

Im Schauspiel lassen sich entsprechende Defizite zwar gleichwohl benennen, jedoch lässt sich an den Schauspielschulen bisher kein Entgegenwirken beobachten. Ein wesent­licher Grund für diese Ausnahmesituation mag in der Sprachengebundenheit der Schau­spiel­kunst liegen. Anders als in den sprachen­unabhängigen Künsten Musical, Tanz und Musik unterliegt das Schauspiel nur in sehr geringem Ausmaß einer internationalen Konkurrenz - dieses gilt sowohl für Studien­be­werber als auch für die Situation auf dem Arbeitsmarkt.

Daraus mag sich in der Schauspielkunst im Unterschied zu den anderen darstellenden Künsten sowie der Musik auch ein grundlegend anderer Umgang mit ihrem Nachwuchs ergeben. Während es im Musiktheater und im Tanz sowie in der Instrumentalausbildung ein Muss ist, in möglichst jungen Jahren mit der (Vor-)Ausbildung zu beginnen, scheint das Bestehen einer Aufnahmeprüfung an einer Schauspielschule viel mit den Faktoren Zufall und Glück zusammenzuhängen. Fast möchte man vermuten, dass Schauspiel die einzige Kunst ist, in der Übung nicht den Meister macht.

Dass eine solche Vermutung einer wissenschaftlichen Untersuchung nicht standhält, soll das For­schungsprojekt der proskenion Stiftung zeigen. Grundlegend wurde auf dem Feld der darstellen­den Künsten nach signifikanten Zusammenhängen gesucht zwischen dem Einfluss von konzentriertem und zielorientiertem Üben, der individuellen Persönlichkeit, den sozialen Umweltbedingungen und einem Talent, das von einem Jugendlichen im Hinblick auf seine schauspielerischen Fähigkeiten entwickelt wird. Im Rahmen des Forschungsprojekts der proskenion Stiftung hat man sich, die Sichtweise bisheriger Begabungsforschung deutlich erweiternd, sehr bewusst für einen Expertiseansatz entschieden, der den Zusammenhang von Begabung, Talent und (zielgerichteten) Üben darlegen soll. Welche Funktionen nimmt das soziale Umfeld oder zum Beispiel die persönliche Motivation ein, damit ein Kind sich für Theater, Musik oder Tanz interessiert und auch begeistern lässt? Wann wird also über eine künstlerische Begabung gesprochen und wie entwickelt sich diese zu einem künstlerischen Talent? Was sind Voraussetzungen, die ein Jugendlicher mit dem Berufsziel ’Schauspieler’ mitbringen muss?

Forschung zum künstlerischen Nachwuchs in den Darstellenden Künsten

Generell sind Faktoren und Bedingungen künstlerischer Begabungen sowie Indikatoren ihrer Voraus­setzungen in der Wissenschaft nur sehr unzureichend erforscht. Als Talent wird eine überdurchschnittliche Begabung auf einem bestimmten Gebiet bezeichnet. In der Wissenschaft wird dabei differenziert zwischen Begabung als Anlagepotenzial und Talent als realisierte Anlage. Erklärungsansätze für herausragende Leistungen lassen sich entsprechend in Bega­bungs­ansätze und Lernansätze unterteilen:

  • Begabung als eine unveränderbare, statische Fähigkeit (Begabungsansatz)
  • Begabung als eine dynamische, entwicklungsorientierte Fähigkeit (Lernansatz, Expertise).

Begabungsansätze postulieren angeborene Unterschiede. Hingegen können Lernansätze nachweisen, dass Leistungseminenz in einem langwierigen Lernprozess erworben werden muss. Inwieweit letzterer Zusammenhang auch für künstlerische Begabungen besteht, soll im Folgenden näher betrachtet werden.

In den Vorüberlegungen zum aktuellen Forschungsprojekt der proskenion Stiftung waren die Forschungen des schwedischen Psychologen K. Anders Ericsson von der Florida State University Grundlage des wissenschaftlichen Settings. Ericsson widerspricht auf an­schauliche Art und Weise der Annahme von angeborenen Talenten. Seine Behauptung, „Bisher existiert kein überzeugender Beweis, dass besondere Fähigkeiten angeboren sind“ (Thielicke 2009), hat die Begabungsforschung einen Perspektivwechsel einnehmen lassen.  In seiner Studie mit Violinstudenten an der Berliner Universität der Künste wurden die  Professoren gebeten, ihre Studenten in drei Leistungsstufen einzuteilen. Die erste Gruppe umfasste heraus­ragende Studierende, von denen man annahm, dass eine Weltkarriere als Solisten vor ihnen lag. Sie galten unter vielen Lehrenden als typische Naturtalente, die das Glück gehabt hatten, mit besonderen Genen für Musikalität geboren zu sein. Die Studenten der zweiten Gruppe waren sehr gut, aber nicht so herausragend wie die Studenten der ersten Gruppe. Aus ihnen würden vermutlich keine Solisten, sondern Orchestermusiker für die besten Orchester der Welt werden. Die letzte Gruppe umfasste durchschnittlich befähigte Studenten, die zum Beispiel als Musiklehrer arbeiten werden. (Syed 2010:17f.) Die Zuweisung der Studenten zu einer der drei Gruppen basierte auf der subjektiven Beurteilung durch die Professoren, untermauert durch objektivere Maßstäbe wie etwa Erfolge bei öffentlichen Wettbewerben.

Über Interviews suchten Ericsson und seine Mitarbeiter nach Gründen, woher die Unterschiede kamen. In allen drei Gruppen waren die Lebensläufe bemerkenswert ähnlich und wiesen keine syste­matischen Unterschiede auf. Alle Studenten hatten im Alter von etwa acht Jahren mit dem Geigen­spiel begonnen und ungefähr zur selben Zeit auch den ersten formalen Unterricht erhalten; die Entscheidung Musiker zu werden, hatten die meisten kurz vor ihrem fünfzehnten Geburtstag getroffen. (Syed 2010:18)

Ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal, was jedoch gefunden wurde, war die Zahl der Stunden, die die Studenten bisher an ihrem Instrument geübt hatten. Während die besten Geigenspieler im Alter von 20 Jahren durchschnittlich 10.000 Übungsstunden absolviert hatten, waren es in der zweiten Gruppe 8.000 Stunden und in der letzten Gruppe 6.000 Stunden. Von diesem Muster gab es keine Ausnahme: „Niemand hatte die Spitzengruppe ohne zeitlich intensivstes Üben erreicht, und niemand hatte im Kontext der Stundenquantität hart gearbeitet, ohne herausragende Leistungen zu erzielen. Gezieltes Üben war der einzige Faktor, der die Besten von den anderen Gruppen unterschied.“ (Syed 2010:19)

Daraus ergab sich für Ericsson eine Art Faustregel: 10.000 Stunden und rund 10 Jahre benötigen Menschen, um Außergewöhnliches zu leisten. Der Zusammenhang hat sich bisher in vielen Berei­chen gezeigt, im Sport, im Schach und sogar im Dartwerfen, aber eben auch in Kunst und Kultur.

Wichtig ist dabei jedoch nicht nur die reine Anzahl der Stunden (Quantität), sondern auch die Intensität (Qualität), mit der sich einer Tätigkeit gewidmet wird. Es zeigte sich, dass sich alle untersuchten Studenten derzeit zwischen 50 und 60 Stunden pro Woche mit Musik beschäftigten. Die Forscher um Ericsson sahen jedoch genauer hin. Sie entdeckten, dass die Intensität der Übungsstunden schwankte: Während einige Studenten lediglich ein Sechstel ihrer Zeit in konzentriertes Einzeltraining investierten, war es bei an­deren fast die Hälfte. Sie machten etwas, das zum Beispiel Hobbymusiker nur selten tun würden: Für sich alleine immer wieder die Routinen üben, die sie noch nicht beherrschten. Das Ergebnis zeigt, dass jene Violinstudenten, die am härtesten trainierten, sich in der Gruppe der als besonders begabt geltenden Musiker befanden. Der Untersuchung fol­gend haben sie jedoch auch mehr dafür gearbeitet, die Grenzen ihres Könnens auszuweiten. Wer lediglich jene Musikwerke wiederholt, die bereits gut geübt sind, musiziert nicht besser, sondern nur mechanischer.

Begabungspotential, Persönlichkeitseigenschaften und Umweltbedingungen sind die zentralen Bezugsgrößen des Deliberate Practice, also dem gezielten, konzentrierten und intensiven Üben. Hierzu gehören:

  • optimale Lernbedingungen → individuelle Motivation, Ausgangsniveau, informatives Feedback, Wiederholung
  • gute Lernmethodik → Voraussetzung für das Erreichen einer hohen Endleistung
  • Individuelle Ausrichtung auf eine maximale Leistungssteigerung
  • Hochstrukturierte Aktivität, mit dem Ziel, Leistungsfähigkeit zu verbessern.

Die Erkenntnisse aus den Studien von Ericsson für den Bereich der Musik lassen sich sicherlich auch auf den Bereich Tanz sehr schnell übertragen: 10.000 Stunden in rund zehn Jahre beschreibt den zeitlichen Ausbildungsumfang, den ein professioneller Tänzer zu Beginn seiner beruflichen Laufbahn nachweisen kann.

Vorausgesetzt der Ansatz von Ericsson stimmt, dann muss zunächst davon ausgegangen werden, dass einem Kind seine künstlerische Begabung nicht in die Wiege gelegt wurde. Tänzer und Musi­ker benötigen eine langjährige (Vor-)Ausbildung als Voraussetzung zur Aufnahme eines Studiums. Spitzenleistungen stehen in einem korrelativen Bezug zur quantitativen und qualitativen Ausricht­ung von Übungsstunden. Wenngleich selbstverständlich das soziale Umfeld eine wesent­liche Funk­tion einnimmt, damit ein Kind sich für Theater, Musik oder Tanz interessiert und auch begeistern lässt.

Gelten diese Erkenntnisse aber auch für angehende Schauspieler?

Zu beobachten ist, dass Theaterhochschulen die Kriterien für das Bestehen einer Aufnahmeprüfung nur schwer und wenn, nur sehr unverbindlich benennen können. Selbst ein gut ausgebildeter Schauspieler kann nicht davon ausgehen, eine erneute Aufnahmeprüfung sicher zu bestehen. Eine vergleichbare Situation ist für Musiker oder Tänzer eher unwahrscheinlich.

Jugendliche, die an Schauspielschulen vorsprechen, können jedoch oftmals nur auf Erfahrungen im Schul- und Amateurtheater verweisen. Diese Erfahrungsfelder können im Regelfall einer zielge­rich­teten Nachwuchsförderung nicht nachkommen, da wesentliche Voraussetzungen, wie z.B. eine fach­­liche Lehrkompetenz und eine professionelle, curriculare Schulung nur selten vorzuweisen sind.

Über Ansätze der Expertiseforschung, wie sie durch die Studie der proskenion Stiftung (Göhmann 2014) vorge­nommen wurde, zeigt sich jedoch, dass auch für den Nachwuchs in den darstellenden Künsten unter anderem professionelle Schulung im Bereich Schauspiel durch ausgebildete und berufserfahrende Regisseure oder Schauspieler ein wesentlicher Aspekt künstlerischer Entwicklung ist. Es lassen sich zentrale Bedingungen benennen, die zur Entwicklung künstlerischer Begabungen führen:

  • langjährige Arbeit im Amateur- oder Schultheater unter professioneller Regie,
  • Theatererfahrungen im Kontext professioneller Produktionen,
  • Curriculare Schulung in Schauspiel, Tanz und/oder Musik,
  • regelmäßige Theaterbesuche (Stadt- und Staatstheater),
  • Unterricht an einem Musikinstrument,
  • familiärer Rückhalt.

Die Erfahrungen innerhalb der von der proskenion Stiftung getragenen ’Jugendakademie für Darstellende Künste’, einem curricularem Nachwuchsförderprogramm für Jugendliche zwischen 16 und 21 Jahren, bestätigen signifikant, dass Leistungseminenz in einem lang­wierigen Lernprozess erworben werden muss. Unterstützt wird dieses von der Erkenntnis, dass die menschliche Entwicklung ein dynamischer und lebenslanger Prozess ist. Sie ist das Resultat von unzählbaren Interaktionen zwischen individuellen Interessen und sozialer Umgebung.

Aus den Ergebnissen des Forschungsprojektes der proskenion Stiftung ergeben sich für eine professionelle Theaterarbeit mit Kindern und Jugendlichen nachfolgende fachdidaktischen Forderungen:

  • Das Unterrichten in den darstellenden Künsten muss einem curricularen Konzept folgen.
  • Darstellende Kunst entwickelt sich aus einem gelernten Theaterhandwerk.
  • Theaterlehrer müssen ausgebildete Künstler sein.
  • Künstlerische Bildung begründet ihre Absichten, Inhalte und Methoden aus der Kunst heraus.

Dazu gehört es dann auch, eine Begabung zu erkennen und diese umzusetzen. Für die Umsetzung bedarf es jedoch einer geeigneten Umgebung. Ein musikalisch begabtes Kind, welches in eine amusische oder gar musikfeindliche Umgebung hineingeboren wurde, kann sein Talente nicht oder lediglich unvollständig entwickeln.

Rahmenbedingungen künstlerischer Bildung

Leider müssen die derzeitigen bildungspolitischen Entwicklungen in Deutschland als im hohen Maße kontraproduktiv für eine qualifizierte Nachwuchs­för­derung in den Künsten angesehen werden. Die Auswirkungen einer zunehmend um­fang­reicheren Ganztagsbeschulung sowie auch die zeitliche Verkürzung des Abiturs auf zwölf Jahre sind bereits heute im Bereich der künstlerischen Bildung massiv spürbar.

Immer weniger Jugendlichen gelingt es aufgrund der erhöhten schulischen Anforderungen und den damit stetig schmaler werdenden Zeitfenstern, sich mit Konsequenz einer qualifi­zierten Schulung in Schauspiel, Tanz oder Musik zu widmen. Institutionen außerschulischer Kinder- und Jugendbildung erleben einen massiven Wegfall ihrer Teilnehmer. Das betrifft den Fußballverein genauso wie die Kunst- oder Musik­schulen. Die Musikschulen stellen fest, dass sich der Unterrichtsbeginn von ehemals 13:00 Uhr auf heute frühestens 16:00 Uhr verschoben hat, da Schule heutzutage Kinder und Jugendliche bis in den späten Nachmittag hinein bindet. „Klassen musizieren“ oder „Jedem Kind ein Instrument (JeKi)“ führen zwar temporär zu explosionsartigen Teilnehmerzahlen in den Musikschulstatistiken, ansonsten bleiben diese Angebote - gerade unter Qualitätsaspekten - eine bildungspolitische Augenwischerei.

Erste Untersuchungen - wie z.B. jene von Wilhelm Albert Makus - zeigen, dass Schüler aller Begabungsgrade nach einem Jahr systematischen musika­lischen Einzelunterrichts sehr viel mehr können als nach drei Jahren JeKi-Gruppen­unterricht. Unter diesen Vergleichsparametern ist der Einzel­unter­richt zudem die kostengünstigere Variante, da ja auch JeKi für Eltern nicht kostenfrei angeboten wird.

Die Zahlen von 2010 beim Wettbewerb „Jugend musiziert“, Regionalebene Hannover, lassen zudem aufschrecken: Während die ältesten Teilnehmer 1998 mit mehr als 20 Prozent noch fast die größte Gruppe repräsentierten, ist ihr Anteil in diesem Jahr mit 1,32 Prozent nahezu bedeutungslos. (o.A.:2011) Klaus Bredl vom Landesverband niedersächsischer Musikschulen: „Die Leistungs­bereit­schaft der Jugendlichen ist nach wie vor da - nur ihre Zeitfenster werden immer schmaler“ (o.A.:2011). Während die älteren Schüler an den Musikschulen früher wie selbstverständlich neben dem Instrumental­unter­richt noch in Kammer­musik­gruppen oder im Musikschulorchester gespielt hätten, müssten sie heute oft darauf verzichten, um für die Schule zu arbeiten.

Eine positive Entwicklung künstlerischer Begabungen setzt neben didaktischen und methodischen Bedingungen aber auch strukturelle  Konditionen voraus, dazu gehören:

►Künstlerische Nachwuchs benötigt Zeit, geeignete Orte und qualifizierte Dozenten, um Begabungen entwickeln zu können.
►Umfangreicher Ausbau von Schulen mit künstlerischem Profil.
►Aufbau von Landesgymnasien für Musik und Theater.
►Weiterentwicklung bundesweiter Qualifizierungsangebote (Stütz­punkt­zentren) zur Nach­wuchs­förderung in den Künsten.
►Bildungs- und Kulturpolitik muss sich vom derzeitigen Trend „Masse statt Klasse“ abwenden!

Wie soll ein Schüler seine Persönlichkeit herausbilden und eine - auch künstlerische - Identität entwickeln, wenn Schule - wie wir sie gegenwärtig kennen - zum Mittelpunkt seines Lebens wird? Bildung ist ein Prozess, der als Aneignung einer Kultur durch den einzelnen im Prozess der Selbstwerdung der Person beschrieben werden kann. Dieses weit über die schulische Bildung hinausgehende und etablierte humboldtsche Bildungsideal darf in Deutschland durch die Ganz­tags­­beschulung nicht beschädigt werden! Sonst wird Kurt Masur für die Musik Recht behalten und es werden eines Tages nur noch chinesische Orchester sein, die uns in Deutschland die Sinfonien von Ludwig van Beethoven vorspielen! (Masur 2005)

Profilschulen für Darstellende Künste - Konzeption

Profilschulen bieten die Möglichkeit, Unterrichtsverpflichtungen für künstle­rische Bildungsanteile in den regulären Schulstundenplan zu integrieren. Die allgemeine schulische Bildung wird mit einer professionellen beruflichen (Vor-)Qualifi­ka­tion oder gar (Vor-)Ausbildung verbunden. Der Unterricht wechselt täglich zwischen den künstlerisch-praktischen und den allgemein­bildenden Fächern; für bestimmte Fächer kann es dabei zu Synergieeffekten kommen. Dadurch kann die zeitliche Belastung der Schüler reduziert werden, gleichzeitig zieht sich ihr Interessensschwerpunkt wie ein roter Faden durch das schulische Curriculum.

Profilschulen - auch in Form von Landesgymnasien - existieren in Deutschland für Natur­wissen­schaften, Sport, allgemeine Hochbegabungen sowie vereinzelt auch für Musik und Tanz.

Neben dem Tanz wäre für die weiteren Bereiche der darstellenden Künste - explizit Schauspiel und Musiktheater - der Aufbau entsprechender Profilschulen ein Novum. Profilschulen mit Angeboten beruflicher Vorqualifikation werden in der Regel als Spezialgymnasium geführt oder genießen den Status einer „Schule besonderer pädagogischer Prägung". Der besondere pädagogische Status sichert Profilschulen einige Privilegien zu, die den Schülern den notwendigen zeitlichen Rahmen bieten, um ihrer künstlerischen Begabung nachzukommen. So besteht in der Regel eine dreijährige gymnasiale Oberstufe (mit zeitlich gestaffelten Abiturprüfungen); zudem lassen sich insbesondere Theorieanteile der künstlerischen Fächer in das allgemeinbildende Curriculum integrieren. Für eine Profil­schule mit dem Schwerpunkt Schauspiel / Musiktheater können theoretische Fächer wie Dramenlehre, Dramaturgie, Theater- und Musikgeschichte von Schulfächern wie bei­spiels­­weise Deutsch oder Geschichte abgedeckt werden. Unterrichtsinhalte im Fachbereich Tanz können in das Fach Sport übernommen werden.

Die unmittelbare Kombination von schulischem Unterricht und künstlerischer Qualifikation gewährleistet, dass die Schüler sowohl eine fundierte Allgemeinbildung erhalten und sich gleichzeitig gezielt auf ihre berufliche Ausbildung vorbereiten können. Wichtig bei der Entwicklung von Profilschulen ist es, dass allgemeinbildende wie künstlerische Anteile in ihrer Gewichtung gleichwertig sind. Gerade auch für künstlerische Berufe sollte eine gute allgemeinbildende Schulausbildung eine grundlegende Voraus­setzung sein. Das Erlangen der allgemeinen Hochschulreife ist dabei in der Regel nicht nur eine Notwendigkeit, um nach Beendigung der Schulzeit ein künstlerisches Hochschulstudium aufzunehmen, son­dern bietet zudem immer auch die Sicherheit für alternative berufliche Wege. Letzteres sollte bei aller Fokussierung auf das künstlerische Interesse aufgrund der starken Konkurrenz in den künstlerischen Fächern nicht komplett ausgeblendet werden.

Voraussetzung für die Aufnahme an einer Profilschule im Verständnis eines Spezial­gymnasiums ist das Bestehen einer künstlerischen Eignungsprüfung sowie eine allge­mein­bildende Qualifikation für den Besuch eines Gymnasiums oder einer Oberschule ab Klasse 5. Da zu erwarten ist, dass ein Großteil der Schülerschaft nicht in unmittelbarer Nähe einer Profilschule wohnt, muss die Angliederung eines Internats fester Bestandteil der Planung sein.

Das nachfolgende Beispiel eines Curriculums einer Profilschule für darstellende Künste ist so aufgebaut, dass jeder Schüler anteilig Unterricht in Schauspiel, Gesang und Tanz erhält. Dabei dienen die Jahrgänge 5 und 6 zur Entwicklung künstlerischer Grundlagen und gleichzeitig als Orientierungsjahrgänge, um die spezifischen Bedingungen der Schule kennenzu­lernen. Am Ende von Jahrgang 6 erfolgt eine künstlerische Zwischenprüfung. In einem Beratungsgespräch zwischen Dozenten, Schüler und Eltern wird die bisherige künstlerische Entwicklung reflektiert. Wichtiger Bestandteil der Reflexion bildet die (künst­lerische) Motivation und Arbeitshaltung des Schülers. An das Gespräch anschlie­ßend wird über den weiteren Verbleib an der Schule entschieden.

Die Jahrgänge 7 bis 10 beinhalten die Entwicklung und Vertiefung darstellerischer, ge­sang­licher und tänzerischer Fähigkeiten, bei weiterhin gleichem Unterricht in den künst­le­rischen Fächern für alle Schüler. Eine Schwer­punkt­bildung für Schauspiel oder Musik­theater kann dadurch zu einem späteren Zeitpunkt erfolgen und ist oftmals vor Eintritt in die gymnasiale Oberstufe nicht erforderlich. Die Oberstufe umfasst dabei die Jahrgänge 11 bis 13, um Anforderungen an schulischer und künstlerischer Ausbildung zeitlich zu gewähren. Auch in den letzen drei Jahren erhalten die Schüler weiterhin gleichen Unterricht in den künstlerischen Fächern, können jedoch durch die zeitumfangreichen Inszenierungsprojekte persönliche Schwerpunkte setzen.

Am Ende der Jahrgänge 7 bis 13 erhalten die Schüler einen umfangreichen Bericht über ihre künstlerische Entwicklung; hier werden Stärken und Entwicklungspotentiale festge­halten, die als Basis für die weitere individuelle Arbeit dienen.

Stundenumfang für das künstlerische Profil

► Klasse 5 und 6:

2 U.-Std. Schauspiel
2 U.-Std. Chor
2 U.-Std. Tanz

► Klasse 7-10:

2 U.-Std. Schauspiel
2 U.-Std. Chor
1 U.-Std. Gesang Solo
2 U.-Std. Tanz
3 U.-Std. Inszenierungsprojekt
2 U.-Std. Theatertheorie / Dramaturgie (Theatertheorie / Dramaturgie anteilig in den Deutschunterricht integriert; Tanz anteilig in den Sportunterricht integriert)

► Klasse 11-13:

3 U.-Std. Schauspiel
2 U.-Std. Chor
1 U.-Std. Gesang Solo
3 U.-Std. Tanz
3 U.-Std. Inszenierungsprojekt
2 U.-Std. Theatertheorie / Dramaturgie (Theatertheorie / Dramentheorie anteilig in den Deutschunterricht integriert; Tanz anteilig in den Sportunterricht integriert)

Der Unterricht der schulischen und künstlerischen Fächer findet ganztägig zwischen 8:00 und 16:30 Uhr statt, für die Probenarbeiten an den Inszenierungsprojekte sowie eventuelle Aufführungs­termine müssen darüber hinaus zusätzliche Zeitfenster eingeplant werden. Alternativ kann der Samstag als regulärer Unterrichtstag eingeführt werden.

Für alle Jahrgänge wird zudem ein Wahlpflichtfach „Instrumentalunterricht“ angeboten, in dem die Schüler Unterricht in einem Orchesterinstrument oder Klavier erhalten. Dieser Unterricht wird in Zusammenarbeit mit einer städtischen Musikschule umgesetzt.

Die Dozenten der künstlerischen Fächer sind ausgebildete Schauspieler, Regisseure, Sänger, Tänzer, Choreografen, Theaterwissenschaftler. Zu empfehlen ist eine enge Kooperation mit einer Theaterhochschule oder mit Theatern. Neben der Bereitstellung von Dozenten bieten diese Einrichtungen eine umfangreiche Reflexion des künstlerischen Alltags.

Curriculum einer Profilschule für Darstellende Künste

Im Anhang zu diesem Beitrag findet sich das Curriculum für die einzelnen Jahrgänge mit den detaillierten Auflistungen von Lernzielen und Inhalten für die Jahrgänge 5 - 13, differenziert nach den Fachbereichen Schauspiel, Gesang und Tanz.

Zusammenfassung und Ausblick

Die Umsetzung von Programmen künstlerischer Bildung insbesondere in den Darstellenden Künsten ist in Deutschland noch sehr am Anfang der Entwicklung. So sind qualifizierte Bildungsangebote für Kinder und Jugendliche in den Bereichen Schau­spiel, Gesang und Tanz in Deutschland noch zu oft abhängig von engagierten Initiativen einzelner Personen sowie auch von den unterschiedlichen Bedingungen in Stadt und Land.

Theater und Opernhäuser mit ihren Jugendclubs finden sich nur in Deutschlands großen Städten; und auch Orchester und Musikhochschulen mit ihren angegliederten Förder­programmen für junge Nachwuchsmusiker sind bis auf wenige Ausnahmen ausschließlich in Großstädten und Ballungszentren zu finden.

Eine künstlerische Nachwuchsförderung im Schauspiel wird in Deutschland derzeit am ehesten durch die Jugendclubs an den Stadttheatern angeboten. Ein nächstes Stadt­theater ist jedoch für den Großteil von Kindern und Jugendlichen aufgrund der Entfernung (oftmals liegen in Deutschland auch von mittelgroßen Städten mehr als 100 km bis zum nächsten Stadttheater) nur schwer erreichbar, um regelmäßige an den dortigen Angebo­ten der Jugendclubs mitzuwirken.

In den darstellenden Künsten mangelt es in Deutschland jedoch nicht nur bezogen auf die regionalen Bildungsstrukturen an einem qualifizierten Angebot zur Nachwuchsförderung, sondern generell an der Einsetzung qualifizierter und gut ausgebildeter Theater- und Musik­theater­­lehrer, die auch dem Anspruch einer individuellen Förderung von Begabten gerecht werden könnten.

Ein alternativer Weg ist die Integration künstlerischer (Vor-)Ausbildung in die curricularen Strukturen allgemeinbildender Schulen. Oftmals wird jedoch, wie in keinem anderen schulischen Bildungsbereich, der Fokus bei der Ver­mitt­lung der Künste - und hier insbesondere bei den allgegenwärtigen Theater-Arbeitsgemein­schaften - primär im Kontext sozialer Kompetenzvermittlung gesehen. Der Bildungsbegriff steht hier für den lebensbegleitenden Entwicklungs­prozess des Menschen, bei dem er seine kulturellen,  personalen und sozialen Kompetenzen erweitert. Kunst agiert „nur“ als Mittel zum Zweck!

Ausbildung im Verständnis eines gezielten planvollen Vorgehens zur Erlangung vorher definierter Fähigkeiten und Fertigkeiten, findet im Kontext der Vermittlung innerhalb der Künste an allgemeinbildenden Schulen - anders als beispielsweise in den USA - in einem nur unbefriedigendem Umfang statt.

Leistungs­eminenz erfordert auch in den Künsten ein umfassendes Angebot in der Nachwuchs- und Begabtenförderung. Die Anforderungen, um Schauspiel und Musiktheater auf höchstem Niveau umzusetzen, setzen - wie im Tanz oder der Instrumentalausbildung - eine gezielte, rechtzeitige und regelmäßige Förderung voraus. Eine positive Entwicklung künstlerischer Begabungen erfordert einige grundlegende Bedingungen: Der künstlerische Nachwuchs benötigt Zeit, geeignete Orte, einen curricularen Unterrichtsverlauf und qualifizierte Dozenten, um Begabungen entwickeln zu können.

Verwendete Literatur

  • Göhmann, Lars (2014): Dem Nachwuchs eine Bühne geben… Nachwuchs- und Begabtenförderung in den darstellenden Künsten. München:kopaed.
  • Makus, Wilhelm Albert (2012): Die Kommunale Musikschule - Am Scheideweg zwischen Pädagogik und Kommerz. Bochum:o.A.
  • Marr, Stefanie (Hg.) (2009): Tischgesellschaften. Künstlerische Praxis in Lehr- und Lernprozessen. Oberhausen:Athena.
  • Masur, Kurt (2005): Dann spielen Chinesen die Neunte. In: Rheinischer Merkur vom 24.02.2005.
  • O.A. (2011): Jugend musiziert gehen ältere Teilnehmer aus. In: Hannoversche Allgemeine Zeitung vom 27.01.2011.
  • Syed, Matthew (2010): Was heißt schon Talent. München:Riemann.
  • Thielicke, Robert (2009): Begabung - Reine Übungssache. http://www.focus.de/wissen/bildung/ begabung-reine-uebungssache_aid_387887.html (letzter Zugriff am: 19.12.2014).

Anmerkungen

Dieser Beitrag mit seinen Erläuterungen zu einer verbesserten Nachwuchsförderung im Bereich Darstellende Künste ist eine Kurzfassung der 2014 erschienenen Publikation von Lars Göhmann „Dem Nachwuchs eine Bühne geben…  Nachwuchs- und Begabtenförderung in den darstellenden Künsten." München: kopaed. ISBN 978-3-86736-446-1.

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Gerne dürfen Sie aus diesem Artikel zitieren. Folgende Angaben sind zusammenhängend mit dem Zitat zu nennen:

Lars Göhmann (2015/2014): Nachwuchsförderung in den darstellenden Künsten. Plädoyer zu Profilschulen für Schauspiel und Musiktheater. In: KULTURELLE BILDUNG ONLINE: https://www.kubi-online.de/index.php/artikel/nachwuchsfoerderung-den-darstellenden-kuensten-plaedoyer-profilschulen-schauspiel (letzter Zugriff am 14.09.2021).

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