ZU_MUTUNGEN: ästhetische Zugänge in einem interdisziplinären universitären Seminar als Chance

Artikel-Metadaten

von Mechthild Bereswill, Verena Freytag

Erscheinungsjahr: 2019

Peer Reviewed

Abstract

Was tun, wenn man in einem Seminar als Lehrende das Gefühl hat, vor Wände zu laufen? Wie reagieren, wenn Bilder, Tanz oder Literatur so sehr irritieren, dass das Sprechen darüber bei Studierenden Schweigen hervorruft? Wie in der universitären Lehre ein Einlassen auf rezeptive wie produktive ästhetische Erfahrungen anregen? Der vorliegende Beitrag basiert auf Beobachtungen und Erfahrungen, die wir im Rahmen zweier interdisziplinärer Projektseminare gemacht haben. Im Rahmen unserer Zusammenarbeit verbinden wir ästhetische Zugänge mit soziologischen Ansätzen und laden Studierende aus Studiengängen der Sozialen Arbeit und des Lehramts dazu ein, erfahrungsbezogenes, ästhetisches und theoretisches Lernen zu verknüpfen. Dafür nutzen wir unsere jeweiligen Expertisen als Hochschullehrerinnen für Soziologie sozialer Differenzierung und Soziokultur sowie für Ästhetische Bildung und Bewegungserziehung mit dem Schwerpunkt Tanz.
In dem vorliegenden Beitrag beschreiben wir die sich im Seminar zeigenden irritierenden Prozesse und diskutieren sie auf der Folie bildungstheoretischer und psychoanalytischer Ansätze. Das Moment der Krise und der negativen Erfahrung in Bildungsprozessen spielt hier eine besondere Rolle. Wir stellen dar, welche Aspekte in den Seminaren aus unserer Sicht dazu geführt haben, dass die Studierenden eine mutigere Haltung in Bezug auf rezeptive und gestalterische ästhetische Erfahrungen entwickeln konnten. Wir gehen den Fragen nach, was im Verlauf unseres gemeinsamen Lernprozesses dazu geführt hat, dass Studierende ihre vermeidende und ablehnende Haltung aufgeben konnten, an welchen Stellen ‚Öffnungen’ stattfanden und wodurch diese Öffnungen zustande kamen. Wir beschreiben damit einhergehend ein beobachtungs- und erfahrungsgesättigtes Modell, dessen Prozess wir analog zu einer Märchenerzählung charakterisieren: Aufbruch ins Elend (Krise); Überlebensstrategien (Abwehr); Neues erfahren und Neues entwickeln (Überwindung der Krise); verändert Heimkehren (Rückmeldungen = Transformation).
Im Kontext von Kultureller Bildung geht es in dem Text zusammengefasst um Fragen der Vermittlung in künstlerischen Lehr- und Lernprozessen. Wir fragen am Beispiel eines interdisziplinären Seminars nach der besonderen (Mikro-)Verlaufsstruktur von Bildungs- und Lernprozessen in den Künsten.

Beobachtungen aus den Seminaren

Ziel unserer Seminare war es, den Studierenden möglichst unterschiedliche Zugänge zu einem Thema zu eröffnen. Im Rahmen eines Seminars mit dem Titel „Körper_Bilder“ waren beispielsweise neben Texten von Judith Butler (2016), Gunter Gebauer (2004) oder Robert Gugutzer (2004) auch Performances von Marina Abramovic und Trisha Brown sowie Bilder von Cindy Sherman und Valie Export Ausgangspunkt des gemeinsamen Nachdenkens über Körper, tänzerische Improvisationen sowie eigene Performances in den öffentlichen Räumen des Universitätscampus.

Sowohl in dem Seminar „Körper_Bilder“ als auch in einer Veranstaltung mit dem Schwerpunkt „Verstehen“ zeigten sich für uns als Lehrende ähnliche Erfahrungen, genauer gesagt Irritationen, was die Resonanz der Studierenden betraf. Diese Erfahrungen brachten uns an unsere Grenzen Während wir selbst davon ausgingen, dass die von uns mitgebrachten sozialwissenschaftlichen Texte und ästhetischen Produkte – Film, Performance, Bilder, Texte – starke Impulse für einen lebendigen Diskurs in der Gruppe setzen würden, erlebten wir die Studierenden als sehr zurückhaltend und vorsichtig. Dies galt weniger für die Arbeit mit den soziologischen Texten als vielmehr für die Auseinandersetzung mit den ästhetischen Positionen. So zeigte sich eine Diskrepanz zwischen einer beredten Wiedergabe von komplexen theoretischen Positionen, beispielsweise von Judith Butler oder Alfred Schütz, und einer großen Zurückhaltung, eigene Eindrücke beim Anschauen einer Performance von Marina Abramovic oder eines Ausschnittes aus Café Müller von Pina Bausch mitzuteilen.

Zudem provozierte die Konfrontation mit verstörenden, auf den ersten Blick unzugänglichen Arbeiten, beispielsweise im Rahmen einer gemeinsam besuchten Tanztheatervorstellung, manifeste Abwehr und im Nachgespräch ließen die Studierenden keinen Zweifel daran, dass sie sich das Stück nur aufgrund unserer Erwartungen und im Rahmen einer Lehrveranstaltung angeschaut und auch nur deshalb nicht vorzeitig verlassen hätten. Für uns umso bemerkenswerter war, wie viel alle trotz dieser Abwehrhaltung gesehen hatten und wie differenziert sie im Gruppengespräch ihre Erinnerungen über die Aufführung formulierten. Neben der Kritik an einer fehlenden Handlung gerieten immer wieder die Körper der Tänzer*innen selbst in den Fokus, insbesondere deren zeitweise entblößte Oberkörper, die im Nachgespräch als Ganzkörper-Nacktheit thematisiert wurden. Die Verstörung, die damit für einzelne Studierende verbunden war, kam allerdings erst im Zuge eines anschließenden Arbeitsschrittes ausführlicher zur Sprache – im Kontext von Alfred Schütz’ Ausführungen zum „Fraglos-Gegebenen“, das in eine Krise gerät (Schütz/Luckmann 2003). Dabei wurde für uns als Dozentinnen deutlich, dass die meisten Studierenden Nacktheit mit Privatheit gleichsetzten und Nacktheit auf der Bühne – als einem als öffentlich wahrgenommenen Raum – als bedrohlich und schambesetzt erlebt wurde. Vor dem Hintergrund dieser Zumutung verurteilten eine ganze Reihe Studierende die Nacktheit als eine unangemessene Konfrontation und Provokation, über deren emotionale Qualität sie sich aber nur zögernd oder gar nicht äußerten.

Für uns entwickelte sich im Laufe des Arbeitsprozesses das Gefühl, mit unserem experimentellen und offenen Ansatz vor Wände zu laufen. Das Gefühl verstärkte sich in Sequenzen, in deren Verlauf die Studierenden Bewegungs- und Improvisationsaufgaben umsetzten. Statt in ihren kleinen Gruppen draufloszuspielen und etwas auszuprobieren, berieten sie sich ausführlich über die Aufgabe und suchten nach der ‚richtigen’ Form. Beispielsweise löste die Aufgabe, über kurze Textsequenzen aus dem Stück „Die Schutzbefohlenen“ von Elfriede Jelinek zu sprechen und gleichzeitig Körperbewegungen auszuführen, die scheinbar in keinem erkennbaren Zusammenhang zum Text standen („über Stühle klettern“), Hemmungen aus und die kognitive Suche nach der für den Text ‚passenden’ Umsetzung der Bewegung blockierte das Ausprobieren von Bewegungen und Sprache. Oder die Bitte, einen zuvor in Einzelarbeit entwickelten kleinen tänzerischen Bewegungsablauf auf der Bühne zu zeigen, stieß auf heftige Widerstände, die in der Abschlussrunde dieser Einheit thematisiert wurden – als Rückmeldung, dass der Schritt auf die Bühne als eine schambesetzte Zumutung erlebt wurde. Während eine von uns beiden sich für diese Aufgabe entschuldigte, schluckte die andere ihren Ärger über die aus ihrer Sicht irritierende Empfindlichkeit im Umgang mit unangenehmen Situationen herunter.

In unserem fortlaufenden Austausch über die Zusammenarbeit mit den Studierenden und über deren verhaltene, empfindliche und teilweise rigide Resonanz auf die von uns mitgebrachten kreativen Impulse kreisten wir immer wieder um die gleichen Fragen: Warum haben wir das Gefühl, dass unsere Einladung, ungewohnte Arbeitsformen zu erleben, höflich aber bestimmt zurückgewiesen wird? Warum verwandelt sich jeder Arbeitsschritt, den wir mitbringen, hinter unserem Rücken in eine mehr oder weniger lästige Schulaufgabe? In der Veranstaltung mit dem Schwerpunkt „Verstehen“ wurde dieses Gefühl des Scheiterns dadurch verstärkt, dass wir bis zum Schluss nicht sicher waren, wie die Studierenden ihre Projekte, die sie in der letzten Einheit vorstellen sollten, bewerkstelligten, weil sie uns trotz wiederholter Einladung, uns zu Rate zu ziehen, kaum Einblicke in ihre Arbeitsprozesse gewährten.

Entsprechend unsicher starteten wir die letzte Einheit. So waren wir nicht sicher, ob wir die übliche Abschlussrunde der Veranstaltung, die Raum für Rückmeldungen jeder Art bietet, überhaupt durchführen sollten oder ob es nicht besser wäre, den Abschluss stärker zu strukturieren und kurz zu halten. Nachdem die Studierenden ihre sehr unterschiedlichen Projekte vorgestellt hatten und diese von der Gruppe auch entsprechend gewürdigt worden waren – auch unter Rückbezug auf die im Lauf des Semesters untersuchten künstlerischen Positionen und soziologischen Texte sowie eigene Erfahrungen in verschiedenen Übungen – leiteten wir die Abschlussrunde ein. Was dann geschah, kam uns wie ein Wunder vor. Alle Studierenden äußerten sich fast durchgängig positiv und sehr persönlich über die Zusammenarbeit im Seminar und über unser Konzept. Plötzlich war das, was wir im Verlauf der Seminarsitzungen vermisst hatten, möglich. Die Studierenden sprachen von sich, ihren Gefühlen, Gedanken und Erfahrungen der letzten Wochen. Das Seminar habe ihnen – zusammengefasst – viel gebracht und sie bereichert:

  • „Das Tanztheater war verstörend, aber es war gut, dass ich dorthin gehen musste, ich hätte das ohne die Lehrveranstaltung nie gemacht.“
  • „Ich werde sonst nie von anderen Studierenden körperlich berührt, das hat mir zunächst nicht gepasst, war dann aber eine wichtige Erfahrung.“
  • „Das hat überhaupt nicht zu dem gepasst, was ich mir unter Tanz vorstelle. Für mich ist Tanz harmonisch. Irgendwie hat es mich dann aber doch fasziniert.“
  • „Diese Form des offenen Arbeitens kenne ich sonst nicht aus der Uni.“
  • „Die Erwartung, dass wir auf die Bühne gehen und etwas vorstellen, war krass. Sie sollten diese Aufgabe aber nicht weglassen.“

Die bis hierher skizzierten Erfahrungen und unsere fortlaufenden Gespräche über die für uns irritierende, zeitweise frustrierende und verblüffende Wahrnehmung, dass unsere Ansätze ausgebremst und freundlich auf Abstand gehalten wurden, sich schließlich aber doch ein intensiver Lernprozess entfaltete, setzte starke Impulse dafür, diesen Prozess systematisch zu reflektieren. So stellten wir fest, dass wir mit unseren Irritationen in Bezug auf den Seminarverlauf nicht alleine dastehen. Gerade in tanzpädagogischen Veröffentlichungen wird immer wieder auf die Widerstände hingewiesen, die in pädagogischen Zusammenhängen durch Tanz ausgelöst werden (z.B. Freytag 2012; Klinge 2015; Lohfeld 2016). Klinge (2015) verweist beispielsweise darauf, dass Tanzen immer mit Emotionen und Empfindungen verbunden sei, die zum einen als beglückend, zum anderen aber als verunsichernd und beschämend erlebt werden können. Ähnlich hebt Abraham (2017) die besonderen Bildungschancen im und durch Tanz hervor und spricht vom Tanz als einem „subjektsensiblen Explorationsraum“ (19), in dem Biographie und Leiblichkeit eng miteinander verbunden sind. Lohfeld (2016) stellt dar, wie das Tanzen in einem Seminar innerhalb der Lehrer*innenausbildung die Studierenden zur „Erstarrung“ (59) führt. Sie erklärt den offensichtlichen Moment der Verunsicherung der Studierenden damit, dass „die sprichwörtliche Starre aus dem Beispiel eine körperliche Ausdrucksform für die brüchige und offene Verlaufsform ästhetischer Erfahrung darstellt“ (Lohfeld 2016:63).

Der vorliegende Text ist das Resultat eines gemeinsamen Denkprozesses. Vor dem Hintergrund der theoretischen Denkfiguren, dass Krisen Lernprozesse befördern und gleichzeitig Abwehrreaktionen hervorrufen, gehen wir folgenden Fragen nach:

Was führt dazu, dass Studierende ihre Abwehr schließlich doch vorsichtig thematisieren und ihre eigenen Reaktionen zu reflektieren beginnen, womit es möglich wird, konventionelle Sicherheitsbedürfnisse und damit verbundene festgefügte Sichtweisen und Wahrnehmungsmuster zu hinterfragen? Warum dauert es ein ganzes Semester, bis das Erleben ambivalenter Positionen in der Gruppe formuliert werden kann? Welche Bedeutung hat der heftige Widerstand, den wir in unserem persönlichen Gegenübertragungserleben (Nadig 1986; Bereswill 2003) als Ratlosigkeit und Rigidität gespürt haben, für den erfolgreichen Verlauf eines Lernprozesses, in dessen Fokus die Überwindung von eingeschliffenen Gewohnheiten und Konventionen steht?

Theoretische Bezugsfolien

Unsere thesenförmige Antwort auf diese Fragen lautet: Krisen, Blockaden und Stagnationen sind ein notwendiger Bestandteil von Lernprozessen, in deren Mittelpunkt die hartnäckige und befremdliche Irritation des „Fraglos-Gegebenen“ (Schütz) steht. Krisen fördern die Stabilität dieses Fraglos-Gegebenen umso deutlicher zu Tage, je mehr diese gefährdet erscheint. Sowohl psychoanalytische Erklärungsansätze (Nadig 1986) wie auch bildungstheoretische Denkfiguren (Benner 2005; Koller 2005) stützen unsere Thesen.

Fremdheitserfahrungen aus psychoanalytischer Perspektive

Aus einer psychoanalytisch inspirierten Perspektive betrachtet, werden Abwehrhaltungen mobilisiert, wenn vertraute Rollenmuster nicht mehr greifen und neue Rollenmuster (noch) nicht zur Verfügung stehen. Maya Nadig (1986) bezeichnet diesen Prozess aus der Perspektive ihrer Fremdheitserfahrungen im Kontext von ethnologischer Forschung als einen „sozialen Tod“ (Bereswill/Ehlert 1996:40). Sie bezieht sich dabei auf Ansätze der Ethnopsychoanalyse und beschreibt den sozialen Tod als einen dynamischen Prozess, „... in dessen Verlauf klassen-, kultur- und zum Teil geschlechtsspezifische Rollenidentifikationen zerfallen, so daß unbewußte Identifikationen und die dazugehörigen Werte bewußt werden“ (1986:43). Auf diese Erschütterung angestammter Identitätsstützen reagiert das Subjekt mit Abwehrstrategien.

Nadigs Überlegungen passen gut zu unseren eigenen Erfahrungen im Umgang mit der Zurückhaltung und der von uns als Starrheit erlebten Haltung der Studierenden: Unsere Identifikation mit der Rolle von kreativen und experimentierfreudigen Dozentinnen wurde heftig erschüttert und wir reagierten mal mit Fluchtimpulsen, mal mit dem Wunsch, unsere Vorstellungen rigide durchzusetzen. Ebenso lässt sich Nadigs Bild des „sozialen Todes“ auf die Studierenden übersetzen, beispielsweise mit Bezug zur konsequenten Abwertung und Abwehr von Unverständlichem. Hier drängt sich die These auf, dass auch die Identifikation mit der Rolle der*des Studierenden nicht mehr greift, wenn die Lernmodi radikal umgestellt werden.

Negativität in (ästhetischen) Bildungsprozessen

Wie dargestellt, scheinen die in dem Seminar ausgelösten Krisenerfahrungen sowohl von Seiten der Studierenden als auch seitens der Dozentinnen eine besondere Rolle zu spielen. Als theoretische Folie eignen sich neben Nadigs psychoanalytischen Überlegungen daher bildungstheoretische Ansätze, die davon ausgehen, dass gerade Krisen, Ungewissheit und Negativität Anlässe für Lern- und Bildungsprozesse bereitstellen. Wir orientieren uns daher an einem transformatorischen Bildungsbegriff, wie er von Hans-Christoph Koller (2012) und anderen in Fortführung von Winfried Marotzki (1990) formuliert wurde und mit dem Bildung als eine „Veränderung der grundlegenden Figuren der Selbst- und Weltverhältnisse des Menschen“ (Koller 2012:71) verstanden wird. Solche grundlegenden Veränderungen können durch krisenhafte Anlässe ausgelöst werden, in denen Subjekte mit Problemen konfrontiert werden, für die ihre bisherigen Bewältigungsstrategien und Perspektiven nicht mehr ausreichen. Dabei geht Koller davon aus, dass Selbst- und Weltverhältnisse grundsätzlich eher stabil sind und verweist beispielsweise auf Pierre Bourdieu (1987:117) und die von ihm formulierte „Tendenz zum Verharren im Sosein“. Für die Destabilisierung von entsprechenden Perspektiven sind daher krisenhafte Erlebnisse, die nicht zwingend katastrophischen Charakter haben, grundlegend. Koller schließt sich damit pädagogischen Ansätzen an, die Negativität oder negativen Erfahrungen eine entscheidende Rolle im Lern- oder Bildungsprozess zusprechen (Benner 2005) und bezieht sich konkret auf die Überlegungen von Günther Buck (Koller 2005). In Anlehnung an die Konzeption einer Horizontstruktur von Husserl geht Buck davon aus, dass Erfahrungen mit einer „Horizontalität“ (Buck 1981:59) verflochten sind. Erfahrungen lassen sich demnach nur auf der Folie eines bestimmten Vorverständnisses machen, das in einer konkreten Situation bestätigt oder aber auch enttäuscht werden kann. Bildungsprozesse können nach Buck auf zweierlei Weise angeregt werden. Einmal, indem auf der Grundlage des Erwartungshorizonts Erwartungen erfüllt und damit angereichert bzw. weiter ausdifferenziert werden, oder aber in Form einer Enttäuschung des Vorverständnisses. Durch Enttäuschung kann sich eine bisherige Horizontstruktur weiterentwickeln. „Die negative Erfahrung der Erwartungsenttäuschung wird so integriert in einen neuen, weiteren Horizont“ (Koller 2005:138). Trotz diverser Unterschiede stellt Koller (2005) Übereinstimmungen zwischen der Denkfigur des transformatorischen Bildungsbegriffs und dem Bildungsverständnis von Buck (1981) heraus: „Was Buck mit Husserl ‚Horizont‘ nennt, heißt dort ‘Welt- und Selbstverhältnis‘. Und der negativen Erfahrung der Erwartungsenttäuschung entspricht dort der Umstand, dass Bildungsprozesse jener Auffassung zufolge dann auftreten, wenn Menschen mit neuen Problemlagen konfrontiert werden, für deren Bearbeitung oder Bewältigung ihr bisheriges Welt- und Selbstverhältnis nicht ausreicht (...). Und was bei Buck als Horizontwandel bzw. als zweite, absolute Negation erscheint, ist dort jener Transformationsprozess, aus dem neue, zur Problembearbeitung besser geeignete Figuren des Welt- und Selbstverhältnisses hervorgehen“ (Koller 2005:138).

Ob nun Horizontwandel oder Transformationsprozess, in jedem Fall verändert das Subjekt in einem Lern- oder Bildungsprozess seine Sicht auf die Dinge (und auf sich). Dabei wird eine alte Sicht, Erkenntnis etc. nicht einfach von einer neuen Perspektive abgelöst, sondern transformiert sich auf der Basis von Bekanntem. Hierfür bedarf es Irritationen, Störungen. Die Irritationen „werden in negativen Erfahrungen angezeigt, in denen an bekannten Weltinhalten neue aufbrechen oder neue Welterfahrungen Bekanntheitsmomente freisetzen“ (Benner 2005:9).

„Horizontalität“ weist aus der Perspektive der psychoanalytisch orientierten Überlegungen von Nadig Anschlüsse an die Grundannahme auf, dass Menschen idiosynkratisch auf Fremdheits- und Konflikterfahrungen reagieren und dies sowohl zum Festhalten an, aber auch zur Transformation von angestammten Rollenmustern führen kann. Krisen sind demnach produktive Konflikterfahrungen, die einen Möglichkeitsraum öffnen – zur Überwindung starrer Rollenmuster und zur Neustrukturierung von kulturell abgesicherten Identifikationen.

Wie lassen sich nun die vorab beschriebenen Beobachtungen aus unseren Seminaren auf der Folie der Idee der Produktivität von negativen Erfahrungen oder Krisen in Bildungsprozessen interpretieren? Ähnlich wie von Ingrid Bähr, Arnold Bechthold und Claus Krieger (2016) in Bezug auf Ungewissheiten von Schüler*innen im Sportunterricht exemplarisch aufgezeigt, versuchen wir im Folgenden zu rekonstruieren, ob und wo sich innerhalb der Seminare Irritationen, Unsicherheiten oder Krisen zeigten, wodurch sie ausgelöst wurden und wie im Rahmen des Seminars damit umgegangen wurde. Wenn Bildungsprozesse einen Ausgangspunkt in Schwellensituationen haben, die Raum für Brüche, Erwartungsenttäuschung und Horizontverschiebungen eröffnen, müssten entsprechende liminale Differenzsituationen im Rahmen des Seminars zu rekonstruieren sein. Auch wenn wir kein spezielles methodisches Vorgehen präferiert haben, sind damit trotzdem Fragen der Methodik, genauer der Methodologie von gestalteten Lernprozessen angesprochen: es gilt, das besondere Moment der Krise an den Beispielen des Seminars zu identifizieren und theoretisch zu fundieren.

Irritationen als produktives Element in der universitären Lehre

Irritation 1: Tanz ist nicht Tanz.

Eingangs hatten wir dargestellt, dass ein Schwerpunkt der Seminare auf der Rezeption von Tanz, Performance, Bildern oder Literatur lag. Wie ebenfalls dargestellt, erlebten wir die Studierenden in den Gesprächen über die verschiedenen künstlerischen Positionen als sehr zurückhaltend. Um über die Aufführung ins Gespräch zu kommen, war es hilfreich, an die Gefühle und Assoziationen zu erinnern, die während des Tanztheaterbesuchs aufgekommen waren, und auch nach den spezifischen gestalterischen Mitteln zu fragen. Also, wie wurde die Bühne gestaltet, wie wurden Musik, Sprache oder Geräusche eingesetzt, welche Kostüme wurden verwendet, wie lässt sich die Bewegungsqualität in dem Stück beschreiben? Dadurch, dass die Studierenden an konkrete Beobachtungen anknüpfen konnten, fiel ihnen – so unsere Vermutung – ein Sprechen über ein zunächst unbeschreibliches Rezeptionserlebnis leichter.

Besonders auffällig für uns waren aber nicht nur die geäußerten Ablehnungen und Widerstände, sondern vor allem das Schweigen. Dies konnten wir direkt im Anschluss an die Tanztheateraufführung beobachten, aber auch bei dem Sprechen (bzw. Nicht-Sprechen) über ein Werk von Joseph Beuys oder über eine Arbeit von Marina Abramovic. Wir hatten häufig das Gefühl, dass die Studierenden eine Art Schutzwall um sich bauten, hinter den sie sich in den Reflexionen verschanzten. Wir empfanden eine ‚Kommunikationsblockade‘ in Sprache und Körpersprache.

Wie ist dieses Schweigen zu erklären? Zum einen kann es sein, dass die von uns gezeigten künstlerischen Positionen die Studierenden in ihrer Intensität und Radikalität schlicht überfordert haben. Beuys, Abramovic, auch modernes Tanztheater sind keine ‚leichte Kost‘ und auch für eingeübte Rezipient*innen zeitgenössischer Kunst nicht immer leicht zu verdauen. Es ist aber ebenfalls denkbar, dass im Sinne der vorab dargestellten negativen Erfahrungen in Lern- und Bildungsprozessen, die Erwartungen der Gruppe enttäuscht wurden und – um am Beispiel des Tanztheaters zu bleiben – das Vorverständnis der Studierenden im Hinblick auf Tanz gestört wurde. Eine Studentin formulierte beispielsweise in einer anschließenden Reflexion ihren Eindruck so: „Das hat überhaupt nicht zu dem gepasst, was ich mir unter Tanz vorstelle. Für mich ist Tanz harmonisch. Irgendwie hat es mich dann aber doch fasziniert.“ Die Beschreibung der Studentin deutet darauf hin, dass sie in ihrer Rezeption des Stückes mit der Störung ihrer Erwartungen und ihrer Vorstellung von Tanz konfrontiert wurde. Das, was sie unter Tanz versteht – Harmonie –, wurde nicht erfüllt. Trotzdem hat das Stück anscheinend eine gewisse Faszination auf sie ausgeübt. Es könnte sein, dass sich hier im Sinne von Buck (1981) zwar noch kein Horizontwandel, aber eine Horizontverschiebung andeutet. Das Vorverständnis von Tanz scheint durch den Besuch der Aufführung überschrieben zu werden. Das dies nicht einfach ‚en passant‘ von statten geht, sondern Zeit benötigt, ist nicht verwunderlich. Dietrich Benner (2005) weist dementsprechend darauf hin, dass den „Zwischenräumen“ (2005:12) in Lehr-Lern-Prozessen eine besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden müsse. Zu fragen ist mit ihm: „Wie vollzieht sich Lernen im Raum zwischen der Erfahrung der Negativität und ihrer bestimmten Negation, in jenem Niemandsland also, in dem die Enttäuschung eines Vorwissens manifest, die Umstrukturierung des Wissens und seines Gegenstandes aber noch nicht gelungen, die Negativität einer Irritation erlitten, die Not, welche diese auslöst, aber noch nicht gewendet, das Alte zwar als problematisch erkannt, die Lösung aber noch nicht gefunden ist“ (Benner 2005:12). Hinzuzufügen ist dem, dass es auch eines Zwischenraums bedarf, um zu verarbeiten, dass die Rolle Student*in – verbunden mit kognitiv abfragbaren und zurechenbaren Leistungen – im Umgang mit Fremdem, Unverständlichem und mit konkreten Verhaltenszumutungen im Hinblick auf die Selbstdarstellung nicht mehr reibungslos greift.

Ein solcher Möglichkeitsraum könnte der beschriebene Rückzug der Studierenden sein. Wenn das Schweigen im Sinne von Benner als der Raum zwischen der Erfahrung von Negativität und der Umstrukturierung des Wissens interpretiert wird, ist genau dieses Schweigen notwendiger Bestandteil des Bildungsprozesses. In dem Fall wäre es nicht als ein Affront, sondern als positiver Hinweis darauf zu deuten, dass gerade ‚etwas‘ stattfindet.

Irritation 2: Lernende reagieren auf Irritationen nicht mit Freude und Aktivität.

Nicht nur Lernende machen innerhalb von pädagogischen Prozessen irritierende negative Erfahrungen, sondern auch „pädagogische Akteure“ (Benner 2005:9). Und so war es auch für uns Dozentinnen in dem Seminar immer wieder aufs Neue befremdlich, wenn unsere praktischen wie theoretischen Impulse nicht mit der von uns erwarteten Begeisterung oder zumindest mit Interesse aufgenommen wurden. Wir reagierten gekränkt und haben uns in langen Reflexionen im Anschluss an die Seminarsitzungen gefragt, worin die Gründe für die Widerstände der Studierenden liegen könnten. Nicht zuletzt durch die Suche nach Erklärungen ist der vorliegende Beitrag entstanden. Benner (2005) verweist darauf, dass Lehrende manchmal dazu neigen, den eigenen Enttäuschungen und Befindlichkeiten eine größere Aufmerksamkeit zu schenken als denen der Lernenden: „Das mag damit zusammenhängen, dass den pädagogischen Akteuren die von den Heranwachsenden anzueignenden oder zu erlernenden Sachverhalte und Verhaltensweisen in der Regel schon bekannt und vertraut sind. Sie bemerken daher Fremdheitserfahrungen und Enttäuschungen stärker bei sich selbst und an ihren eigenen Handlungen und weniger bei den Heranwachsenden, deren Lernprozesse sie zu unterstützen und zu fördern suchen“ (Benner 2005:9). Wir könnten uns also in Anlehnung an Benner fragen, ob uns unsere eigenen Fremdheitserfahrungen abhanden gekommen sind und wir die Irritationen, die die Studierenden bei der Konfrontation mit den ästhetischen Positionen oder auch in der eigenen ästhetisch-kreativen Arbeit erlebt haben, unterschätzt haben. Mit Bezug zu Nadigs Ansatz bedeutet dies auch, dass die Bedrohung, die der mögliche „soziale Tod“ bei uns auslöste, sich vor die Frage nach den Fremdheitserfahrungen der Studierenden zu schieben drohte. Dass dies nicht vollends die Dynamik bestimmte, sondern wir unser Gespür für die notwendigen Zwischenräume immer wieder aktivieren konnten, zeigte sich aus unserer Sicht manifest erst in den Schlussveranstaltungen unserer Werkstätten.

Es ließen sich an dieser Stelle noch viele weitere Irritationen und Enttäuschungen beschreiben, denen die Studierenden und auch wir Dozentinnen im Rahmen des Seminars ausgesetzt waren und die letztlich mit der inhaltlichen und methodischen Gestaltung des Seminars zusammenhängen. Trotz der zahlreichen Erschütterungen, die die Studierenden im Laufe des Seminars erfuhren und die mit den künstlerischen Positionen, der offenen Arbeitsweise, den eigenen tänzerischen Experimenten zusammenhängen, hat sich am Ende alles ‚zum Guten‘ gewendet. Auch dies hatte uns zunächst ‚irritiert‘. Wie kam es dazu?

Seminarmodell: Aufbruch – Krise – Transformation

Komplexe Dynamiken prägen den Seminarablauf, den wir im Folgenden zunächst im Ablauf beschreiben und als „erfahrungsgesättigtes Modell“ zusammenfassen. Indem wir den Verlauf des Prozesses aus unserer Sicht rekonstruieren, rücken wir die spezifische Temporalität des Geschehens in den Fokus. Das bedeutet, dass wir davon ausgehen, dass die Zeitlichkeit der bereits diskutierten Krisenbewältigung für den Lernprozess von Bedeutung ist. Der „Zwischenraum“ für die Verarbeitung von Fremdheitserfahrungen erfordert aus unserer Sicht auch einen zeitlichen Rahmen, der es erlaubt, sich aus dem unmittelbaren Gruppenprozess zurückzuziehen, Abstand zu gewinnen und gleichzeitig eigene Ideen zu entwickeln. Grundsätzlich charakterisieren wir den Prozess analog zu einer Märchenerzählung: Aufbruch ins Elend (Krise); Überlebensstrategien (Abwehr); Neues erfahren und Neues entwickeln (Überwindung der Krise); verändert heimkehren (Rückmeldungen = Transformation).

Betrachten wir den Prozess nun in einzelnen Schritten:

  1. Zu Beginn steht unsere gemeinsame Idee: Wir sind überzeugt, dass wir ein ‚schönes’ Seminar anbieten, das alle inspirieren wird.
  2. Rasch gerät unsere Überzeugung ins Wanken: Wir erleben Irritationen, Krisen, Ängste, Widerstände – auf Seiten der Studierenden und auf unserer Seite. Hinter dem Rücken der Studierenden fangen wir an zu klagen, sind ratlos und entwickeln ein gemeinsames Deutungsmuster – es muss der Generationenunterschied sein: „Was ist bloß mit den jungen Leuten los ...?“ „Wir verlangen doch wirklich nicht zu viel ...“ Die Studierenden üben sich in Zurückhaltung und teilen ihre Eindrücke nur sparsam mit uns und der Gruppe.
  3. Wir haben den Eindruck, dass die Studierenden unsere Arbeitsangebote umsetzen und dabei versuchen, keine Fehler zu machen. Unsere subjektiven Theorien verführen uns und stützen die Abwehr unserer eigenen Fremdheitserfahrung: „Wir“ sind die Kreativen, „sie“ sind die Angepassten. Wir verbünden uns und fixieren uns auf das Gefühl, etwas durchhalten zu müssen.
  4. Unser Rollenverständnis als Lehrende und unsere Identifikation mit dem experimentellen Arbeiten beginnt gefährlich zu wanken. Wir fühlen uns zurückgewiesen und exotisch. Wir beginnen zunehmend zu phantasieren, dass die Studierenden uns sicher ,schräg‘ finden, uns dies nur nicht so stark spüren lassen. Wir werden verhaltener in unseren Interaktionsangeboten. Die Studierenden reagieren verbindlich und vermitteln uns immer wieder, dass sie ihre Aufgaben erfüllen, uns aber wenig mit einbeziehen.
  5. Die Projekte werden präsentiert und unsere unsicheren, tendenziell negativen Erwartungen werden positiv enttäuscht. Wir erwarten etwas Eigenes und sehen nun, dass der Eigensinn der Einzelnen mit unterschiedlichen Ausprägungen von Experimentierfreude einhergeht.
  6. Die positiven Rückmeldungen: Wir sind verblüfft und fragen uns, wann es welche Öffnungen und Wendepunkte gegeben hat.

Welche Elemente unserer Zusammenarbeit haben diesen Verlauf begünstigt? Im Folgenden bündeln wir, was aus unserer Sicht dazu beigetragen hat, dass – zunächst hinter unserem Rücken – ein Zwischenraum entstanden ist, in dem die Fremdheitserfahrungen sich setzen und verarbeitet werden konnten. Wir arbeiten mit dem Bild der Zu-Mutung, als spannungsreiche Dynamik von gleichzeitiger Belastung und Ermutigung.

Zu_Mutungen als didaktisches Prinzip

Ästhetische Objekte zu_muten

Die Bilder, Performances, Installationen, Texte, Choreografien, mit denen wir uns in dem Seminar auseinandergesetzt haben, sind allesamt sperrig, irritierend, vieldeutig und schwer zugänglich. Abramovic (Performance), Beuys (Kunst) oder Wieland (Tanztheater) bedienen nicht die Rezeptionsgewohnheiten der Seminarteilnehmer*innen, sondern irritieren – so zumindest unsere Beobachtung – das vorherrschende Kunstverständnis (vgl. oben: Tanz ist nicht Tanz). Aufgrund der beschriebenen Reaktionen der Studierenden vermuten wir, dass die Sehgewohnheiten nicht nur irritiert, sondern grundlegend erschüttert wurden. Im Gegensatz zu harmloseren Irritationen scheinen Erschütterungen auf den ersten Blick weh zu tun, und sie stören die Einstellungen zu Kunst so massiv, dass es nicht möglich ist, darüber hinwegzugehen. Dieses Vorgehen könnte sich im Verlauf des Seminars ausgezahlt haben. Den bekannten pädagogischen Grundsatz, Lernende da abzuholen, wo sie stehen, haben wir damit nicht beachtet, im Gegenteil: wir haben die Studierenden überfordert und ihnen etwas zu-ge-mutet. Wir hatten den Mut, diese Kunstwerke in das Seminar einzubinden, die Studierenden hatten nach einem ‚Zwischenraum‘ den Mut, sich darauf einzulassen.

Offenheit zu_muten

In ähnlicher Weise haben wir die Seminarteilnehmer*innen mit Offenheit konfrontiert. Wir haben uns beispielsweise nicht dazu hinreißen lassen, Deutungen zu den Bildern, Texten oder dem Tanztheater zu liefern. Wir haben zwar Hintergrundinformationen gegeben (zum Beispiel die Entwicklung des Tanztheaters im 20. Jahrhundert), haben ein Gespräch über das Gesehene angeregt und haben aufgezeigt, unter welcher Perspektive man sich ein Stück anschauen kann (z.B. Musik, Bühne, Kostüme). Dabei ging es uns aber zu keinem Zeitpunkt um einen bestimmten Zugriff auf das Gesehene. Wir meinen, dass diese Offenheit für die Studierenden nur schwer auszuhalten war und gleichzeitig einen wichtigen Lernprozess in Bezug auf den Umgang mit ästhetischen Objekten darstellte. Die Begegnung mit ästhetischen Objekten (unabhängig davon, ob sie eher leicht oder schwer zugänglich sind) ist immer vieldeutig und es gibt immer mehr als ein Gefühl, einen Gedanken, eine Assoziation, die ein Bild, eine Musik, ein Gedicht in uns auslöst. Dabei ist es wichtig, dass Sinnbildungsprozesse Zeit bekommen und nachwirken können. Dass wir also nicht unmittelbar nach dem Besuch des Tanztheaters heraussprudeln müssen, was wir wie gefühlt, gesehen und gedacht haben, sondern dass Zeit gegeben wird, um ein Nachwirken und ein Nachspüren zu ermöglichen.

Kontinuierliche Reflexion

Wir laden die Studierenden fortwährend dazu ein, ihre Wahrnehmungen und ihre Erfahrung zu reflektieren. Dies geschieht über sparsame Impulse aus dem Kreativen Schreiben, in Zweier- und Gruppengesprächen und in Form von Einladungen zu einer forschenden Perspektive auf wissenschaftliche und künstlerische Positionen. Hierbei arbeiten wir mit einigen Textausschnitten und ausführlichen Gesprächen, ausgewählten Körperübungen, oder wir zeigen kurze Sequenzen aus einer Performance (z.B. Marina trifft Ulay während der Performance „The Artist is present“ von Marina Abramovic 2010 im New Yorker Museum of Modern Art).

Wir gehen davon aus, dass Studierende lernen können, ihre „durchlässigen Körper“ als Beobachtungsmittel einzusetzen und diese Erkenntnisprozesse in intersubjektive Validierungen einzubringen. Dies umfasst auch den Einbezug von affektiven Dimensionen des Erlebens und die Suche nach Ausdrucksmöglichkeiten für diese.

Da wir unsere Veranstaltungen teilweise als Blockveranstaltungen konzipieren, entstehen zeitliche Zwischenräume, in denen die Studierenden ihre Einzel- oder Gruppenarbeiten fortsetzen können. Zugleich erwarten wir keine Gruppenarbeit für die Umsetzung der eigenen Projekte, und es entstehen immer auch Einzelprojekte, die in der ganzen Gruppe reflektiert werden.

Unsere interdisziplinäre Zusammenarbeit öffnet einen weiteren Reflexionsraum, in dem wir die unterschiedlichen Zugänge, die wir mitbringen, nicht als wechselseitige Erklärungen aufeinander beziehen, sondern eine lose Koppelung von soziologischen, ästhetischen und pädagogischen Perspektiven entstehen lassen. Diesen Prozess reflektieren wir ausführlich und entwickeln dabei unsere eigenen Zugänge weiter.  

Nicht-bewertende Beobachtungen, Wertschätzung und Schutz

Ein wesentlicher Aspekt scheint uns, dass wir es während des gesamten Seminars vermieden haben zu ‚zensieren‘ bzw. zu bewerten. Dies betrifft sowohl die Diskussionen über theoretische Texte wie auch die Improvisationen oder die künstlerischen Projekte. Das heißt nicht, dass wir keine Rückmeldungen gegeben hätten oder nicht in die Diskussion über (Wort-)Beiträge gegangen wären, aber die Studierenden mussten in keiner Phase des Seminars befürchten, dass das, was sie äußern, bewertet wird. Sie konnten sich also in einer Art Schon-Raum bewegen. Dies scheint in der universitären Lehre eine Seltenheit zu sein. Wie im Schulbesuch bereits eingeübt, geht es wahrscheinlich weniger um den ergebnisoffenen Austausch von Gedanken und Eindrücken als um die Suche nach der einen, richtigen Antwort. Der zensurfreie Raum war aus unserer Sicht notwendig, um den Seminarteilnehmer*innen das Erleben von Sicherheit zu ermöglichen, das im Kontext von offenen gestalterischen Prozessen eine wichtige Rolle spielt (Freytag/Mutschall/Voss 2019).

Wir haben versucht, alle Beiträge wertzuschätzen, auch wenn sie unseren eigenen subjektiven Theorien, Vorstellungen etc. widersprachen. Das fiel uns nicht sonderlich schwer, da wir davon ausgehen, dass jede verbale oder nonverbale Äußerung den Diskurs in dem Seminar bereichert. Wir vermuten, dass diese Wertschätzung eine Art ‚Kredit‘ war, der sich im Laufe des Seminars ausgezahlt hat.

Mit der beschriebenen Wertschätzung ist der unerschütterliche Glaube der Dozentinnen verbunden, dass alle Studierenden für das Seminar wertvolle Fähigkeiten mitbringen, was sowohl den Umgang mit theoretischen Texten wie auch die Rezeption von Kunst oder eigene gestalterische Experimente betrifft. Also: Alle können denken, alle können tanzen etc. Wir gehen davon aus, dass dieser Glaube an die den Seminarteilnehmer*innen innewohnenden Fähigkeiten eben diese hervorlockt. Zugleich nehmen wir die Unsicherheiten und Schamkonflikte von Studierenden ernst und achten darauf, dass experimentelle Übungen nicht zu Bloßstellungen führen.

Begeisterung, Kollegialität und wechselseitige Anerkennung

Wir nutzen unsere unterschiedlichen Kompetenzen und geben uns wechselseitig ,Kredit‘ für unsere unterschiedlichen Zugänge. Zugleich bestärken wir uns gegenseitig in unseren leidenschaftlichen Identifikationen mit soziologischen Theorien, Performance-Ansätzen und der Lust, das Einlassen auf schwierige Aufgaben zu vermitteln. Solche Zu-Mutungen als Erkenntnisprozesse zu wenden, gelingt aus unserer Sicht im Zusammenhang eines kollegialen Arbeitsmodells, bei dem die Studierenden die gemeinsame Leidenschaft für Schwieriges, Undurchsichtiges und Faszinierendes und zugleich sehr unterschiedliche Fachlichkeiten im Lehr- und Lernprozess erleben.

Gestalten

Die Studierenden hatten am Ende des Seminars die Aufgabe, ein eigenes ästhetisches Produkt zu entwickeln. Dabei waren sie inhaltlich wie formal frei, ebenso in der Auswahl der gestalterischen Mittel. Sie konnten also einen literarischen Text schreiben, ein Bild malen, eine Collage entwerfen, eine Performance oder eine tänzerische Szene gestalten etc. Ihr Produkt sollte nur in irgendeiner Form mit den im Seminar zur Sprache gekommenen Inhalten zusammenhängen. Die Studierenden hatten für die Erarbeitung ihres Produkts mehrere Wochen Zeit. Die Präsentation fand in der letzten Veranstaltungswoche vor allen Seminarteilnehmer*innen statt. Ähnlich wie auch die Abschlussreflexion war die Präsentation der studentischen Arbeiten ein Aha-Erlebnis für uns. Die Produkte verblüfften uns in ihrer Vielfältigkeit, Individualität und auch in ihrer Intensität. Im Rahmen des Seminars „Körper_Bilder“ hat beispielsweise eine Studentin ihre Erfahrungen mit einer schmerzhaften medizinischen Behandlung dokumentarisch ausgearbeitet und mit Röntgenbildern und Fotos offen gelegt, wie ihr Körper sich durch diese Behandlung zeitweise verändert hatte. Eine andere Gruppe hat sich mit Tabus, u.a. mit dem Thema „Menstruationsblut“, fotografisch, zeichnerisch und literarisch auseinandergesetzt. 

In dieser gestalterischen Auseinandersetzung mit einer aus dem Kontext des Seminars entstehenden Frage oder Idee scheint für uns ein wesentlicher Baustein für die positive Wendung des Seminars bzw. den ‚Weg aus der Krise‘ zu liegen. Die Studierenden hatten über den offenen gestalterischen Prozess die Möglichkeit, ihre Erschütterungen zu bändigen und in eine Form zu bringen. Sie haben in der gestalterischen Tätigkeit Handlungsfähigkeit und in gewisser Weise ‚Oberhand‘ über zunächst negative und aufrüttelnde Erfahrungen erhalten. Die gestalterische Tätigkeit verschaffte ihnen – so unsere Vermutung – Klärung, Sicherheit und neue Horizonte. Dabei war es ein wesentlicher Punkt, dass die Studierenden auch hier sehr frei entscheiden konnten und sich Thema, Material etc. selbst wählten. Sie konnten sich so mit dem, was sie entwickelt haben, identifizieren. Dies war im Gegensatz zu den vorangegangenen befremdlichen Erfahrungen neu, sie erlebten sich hier nicht mehr als fremd-, sondern als selbstbestimmt und erhielten wieder Kontrolle über ein zuvor unkontrollierbares Feld.

Ursula Fritsch bezeichnet ästhetisch-künstlerisches Verhalten als „das Ringen um eine gültige Form“ (Fritsch 1990:102). Dieses „Ringen“ wird im Kontext des von uns beschriebenen Lehrveranstaltungsformats in mehrfacher Hinsicht konkret. Zum einen werden ästhetisch-künstlerische Positionen vorgestellt und reflektiert, die sehr unterschiedliche Formen repräsentieren und deren Ausdrucksgestalten mal mehr oder mal weniger Zugang zum Prozess ihrer Entstehung gewähren. Zum anderen ringen die Studierenden mit diesen Positionen, die sie befremdlich, unzugänglich und abstoßend finden. Zudem suchen sie selbst nach eigenen ,gültigen Formen‘ ästhetischen Arbeitens und arbeiten sich dabei an bereits existierenden Positionen und an Konventionen universitären Lernens ab – schließlich handelt es sich auch um prüfungsrelevante Prozesse.

Ausblick

Wir gehen davon aus, dass jeder Lehr- und Lernprozess krisenhaft verläuft und Abwehr ein notwendiger und unvermeidbarer Bestandteil solcher Prozesse ist. Unsere Analyse der gemeinsamen Seminarerfahrungen sollte nachvollziehbar werden lassen, wie Abwehr umgewandelt wird: in Ambivalenz gegenüber Fremdem und Befremdlichem; in Reflexion der eigenen Grenzen und Möglichkeiten; in Bildungsprozesse jenseits von normiertem Wissen und Können; in soziales Lernen im intersubjektiven Prozess.Diese Umwandlung von Abwehr braucht Zeit. Sie erfordert es, Spannungen auszuhalten und nicht in eine Richtung aufzulösen. Diese Anforderung gilt nicht nur für Studierende, die ihre gewohnte Komfortzone universitärer Bildung verlassen müssen, um neue Erfahrungen mit sich und anderen und mit neuen Formen der Wissensaneignung zu machen. Sie gilt auch für uns – als Hochschullehrerinnen, die lernen müssen, ihren „kreativen Überschuss“ zurückzunehmen und die lernende Gruppe ebenso wir die einzelne Person zu respektieren und gleichzeitig zu provozieren.

Verwendete Literatur

  • Abraham, Anke (2017): Leiblichkeit als Ort der Bildung im Tanz. Biographie- und bildungstheoretische Überlegungen zur Bedeutung des Leibes im Tanz. In: Hessische Blätter für Volksbildung. Zeitschrift für Erwachsenenbildung in Deutschland 67 (1), 11-21.
  • Bähr, Ingrid/ Bechthold, Arnold/ Krieger, Claus (2016): Ungewissheit im bewegungsbezogenen Bildungsprozess. In: Zeitschrift für sportpädagogische Forschung, 4 (1), 25-40.
  • Benner, Dietrich (2005): Einleitung. Über pädagogisch relevante und erziehungswissenschaftlich fruchtbare Aspekte der Negativität menschlicher Erfahrung. In: Benner, Dietrich (Hrsg.): Erziehung – Bildung - Negativität. Zeitschrift für Pädagogik, 49. Beiheft, 7-23.
  • Bereswill, Mechthild (2003): Die Subjektivität von Forscherinnen und Forschern als methodologische Herausforderung. Ein Vergleich zwischen interaktionstheoretischen und psychoanalytischen Zugängen. In: sozialer Sinn. Zeitschrift für hermeneutische Sozialforschung, 3/2003, 515-536.
  • Bereswill, Mechthild/Ehlert, Gudrun (1996): Alleinreisende Frauen zwischen Selbst- und Welterfahrung. Königstein/Taunus: Ulrike Helmer.
  • Bourdieu, Pierre (1987): Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
  • Buck, Günther (1981): Hermeneutik und Bildung. Elemente einer verstehenden Bildungslehre. München: Fink.
  • Butler, Judith (2016): Das Unbehagen der Geschlechter, 18. Auflage. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
  • Freytag, Verena (2012): Das Tagebuch als Methode zur Rekonstruktion gestalterischer Prozesse im Tanz. In: Fink, Tobias/ Hill, Burkhard/ Reinwand, Vanessa/ Wenzlik, Alexander (Hrsg.): Die Kunst über Wirkungen Kultureller Bildung zu forschen. Theorie- und Forschungsansätze (133-146). München: kopaed.
  • Freytag, Verena/ Mutschall, Frauke/Voss, Christiana (2019): Förderung einer experimentierenden Lernhaltung – Lehrer(innen)handeln in offenen gestalterischen Prozessen. In: Hartmann, Meike/Laging, Ralf/Scheinert, Christian (Hrsg.): Professionalisierung in der Sportlehrerbildung – Konzepte und Forschungen im Rahmen der Qualitätsoffensive Lehrerbildung. Baltmannsweiler: Schneider.
  • Fritsch, Ursula (1990): Tanz „stellt nicht dar, sondern macht wirklich“. Ästhetische Erziehung als Ausbildung tänzerischer Sprachfähigkeit. In: Bannmüller, Eva/Röthig, Peter (Hrsg.): Grundlagen und Perspektiven ästhetischer und rhythmischer Bewegungserziehung (99-117). Stuttgart: Klett.
  • Gebauer, Gunter (2004): Ordnung und Erinnerung. In: Klein, Gabriele (Hrsg.): Bewegung. Sozial- und kulturwissenschaftliche Konzepte (23-42). Bielefeld: transcript.
  • Gugutzer, Robert (2004): Trendsport im Schnittfeld von Körper, Selbst und Gesellschaft. Leib- und körpersoziologische Überlegungen. In: Sport und Gesellschaft 1 (3), 219-243.
  • Klinge, Antje (2015): Was Tanz kann. In: Rat für Kulturelle Bildung (Hrsg.): Zur Sache. Kulturelle Bildung: Gegenstände, Praktiken, Felder (31-33). Essen: Eigenverlag.
  • Koller, Hans-Christoph (2005): Negativität und Bildung. Eine bildungstheoretisch inspirierte Lektüre von Kafkas „Brief an den Vater“. In: Benner, Dietrich (Hrsg.): Erziehung – Bildung -Negativität. Zeitschrift für Pädagogik, 49. Beiheft, 136-149.
  • Koller, Hans-Christoph (2012): Bildung anders denken. Einführung in die Theorie transformatorischer Bildungsprozesse. Stuttgart: Kohlhammer.
  • Lohfeld, Wiebke (2016): Kulturelle Bildung und Tanzpädagogik. Die Differenz zu alltäglichen Bewegungsmustern ist Programm. In: Sozialmagazin 41 (1-2), 58-65.
  • Marotzki, Winfried (1988): Bildung als Herstellung von Bestimmtheit und Ermöglichung von Unbestimmtheit. Psychoanalytisch-lerntheoretisch geleitete Untersuchungen zum Bildungsbegriff in hochkomplexen Gesellschaften. In: Hansmann, Otto/Marotzki, Winfried (Hrsg.): Diskurs Bildungstheorie I: Systematische Markierungen (311-333). Weinheim: Deutscher Studien Verlag.
  • Nadig, Maya (1986): Die verborgene Kultur der Frau. Frankfurt am Main: Fischer.
  • Schütz, Alfred/Luckmann, Thomas (2003): Strukturen der Lebenswelt. Konstanz.

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Mechthild Bereswill, Verena Freytag (2019): ZU_MUTUNGEN: ästhetische Zugänge in einem interdisziplinären universitären Seminar als Chance. In: KULTURELLE BILDUNG ONLINE: https://www.kubi-online.de/index.php/artikel/mutungen-aesthetische-zugaenge-einem-interdisziplinaeren-universitaeren-seminar-chance (letzter Zugriff am 16.07.2024).

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