Musiklernen im familiären Alltag — Ethnografie in der Anwendung
Abstract
Familie wird in der frühkindlichen kulturellen Bildung als wichtiger Ort des informellen musikalischen Lernens für Heranwachsende betrachtet. Gerade daher erstaunt es, dass die Familie als Forschungsfeld mit großem Potenzial für qualitative musikpädagogische Untersuchungen noch in vielerlei Hinsicht unentdeckt ist, selbst wenn man berücksichtigt, dass informelle Lernfelder naturgemäß schwerer zu beobachten sind. Eltern werden in der pädagogischen Literatur und Forschung häufig in einer Rolle der Helfenden bzw. Organisator*innen der häuslichen Übepraxis für ihre Kinder gesehen. Die Heranwachsenden selbst und deren (aktive) Rolle werden sehr selten betrachtet.
In diesem Beitrag wird ein Einblick in die unter Pandemiebedingungen laufende ethnografische Untersuchung einer Familie mit drei Jungen gegeben, bei der das gesamte musikalische Umfeld, in dem sie aufwachsen, erkundet wird. Das Vorgehen stützt sich auf selbst angefertigte Beobachtungsprotokolle sowie die Analyse von durch Eltern und Kinder gedrehten Videotagebüchern. Es werden Interaktionsformen zwischen Kindern und Eltern, aber auch den Geschwistern untereinander illustriert, bei denen Musik im weiteren Sinne eine Rolle spielt.
„Das, was wir und andere wahrnehmen, zu verstehen und in Worte zu fassen,
scheint geradezu ein Ding der Unmöglichkeit.“ (Arantes/Rieger 2014:13)
Die Familie wird in der frühkindlichen kulturellen Bildung als wichtiger Lernort für Heranwachsende betrachtet. Meist wird das häusliche Umfeld hierbei als Unterstützung des institutionellen Lernens angesehen. Jenseits dieser Funktion ist davon auszugehen, dass es in der Familie noch zahlreiche informelle Lern- und Bildungsanlässe für Kinder gibt, bei denen ihnen davon unabhängiges Wissen und Fertigkeiten übermittelt werden (vgl. Schmidt-Wenzel 2016:294).
Auch der pädagogische Diskurs charakterisiert Familie als einen „einzigartigen Ort für Lernen und Bildung […], der, bezogen auf die Tragweite der dort stattfindenden oder eben auch nicht stattfindenden Vermittlungsprozesse hochbedeutsam für die (Bildungs-)Biographien von Heranwachsenden ist“ (Schmidt- Wenzel 2016:286). Ein Blick auf die musikpädagogische Literatur zeigt zudem, dass es viele methodische Ansätze und didaktische Hinweise gibt, die sich mit musiklernenden Kindern und deren Familienumfeld beschäftigen (vgl. z.B. Varró 1929; Petrat 2007; Mahlert 2011).
Eltern als reine Unterstützer*innen des Musikunterrichts?
Häufig werden Eltern hier in einer unterstützenden Rolle für den Musikunterricht und Instrumentallehrer*innen gesehen. Bei Ulrich Mahlert werden beispielsweise zahlreiche Ratschläge für Lehrende gegeben, wie der Umgang und die Kommunikation mit Eltern gestaltbar ist. Er zeigt u.a. auf, wie die Lehrperson ihre Rolle im Verhältnis zu den Eltern ausgestalten und wie sie diese in unterschiedlichen Situationen unterstützen kann, beispielsweise bei der Instrumentenwahl (Mahlert 2011:146 ff.). Margit Varró hat 1929 ein bis heute viel besprochenes Buch im Bereich der Klavierpädagogik vorgelegt. Sie konzentriert sich darin auf die Beziehung zwischen Lehrperson und Eltern und kategorisiert, je nach deren Verhalten, unterschiedliche Elterntypen. Für jeden Typ werden kurze Ratschläge zum Umgang gegeben, die einen guten Klavierunterricht gewährleisten sollen (Varró 1929:272 ff.).
Bei beiden Autor*innen stehen also überwiegend die Lehrenden und deren Interaktion mit den Eltern im Zentrum. Mit einer Ausgabe der Zeitschrift üben & musizieren zum Thema „Familie“ (3/2018) verdeutlicht sich die Relevanz dieser Interaktion für das Musiklernen von Schüler*innen. Der Schwerpunkt liegt hier auch auf der Elternarbeit aus Sicht von Musiklehrenden. Die bis dahin selten beschriebene Perspektive von Kindern beim Musiklernen im familiären Umfeld wird von Anne Fritzen (ebd.) illustriert.
Forschungsstand: Die quantitative und die qualitative Sicht der Dinge
Neben den eben angerissenen Zugängen zur Familie als Raum für musikalisches Lernen wird in diesem Bereich zumeist quantitativ geforscht (s.a. Bertelsmann Stiftung 2018). Auch in Fachpublikationen im Bereich Kulturelle Bildung zeigt sich, dass der Blick auf Eltern, wenn überhaupt, eher aus quantitativer Sicht erfolgt (s.a. Czerwonka/Bilstein 2022). Qualitative Studien im deutschsprachigen Bereich des kulturellen und musikpädagogischen Diskurses, die Familie als Lernort thematisieren, sind selten zu finden.
Ein etwas anderes Bild zeigt sich in der internationalen musikpädagogischen Fachliteratur. Zahlreiche Untersuchungen beschäftigen sich mit der elterlichen Unterstützung in den frühen Stadien der musikalischen Entwicklung von Kindern (Asmus/Hodges 2006; McPherson 2009; McPherson/Davidson 2002). Auch die musiklernenden Kinder selbst stehen in der englischsprachigen Literatur häufig im Zentrum von Studien. McPherson, Davidson und Faulkner (2012) dokumentierten beispielsweise den musikalischen Lernweg von über 150 Kindern zwischen dem 7. und 22. Lebensjahr. Sie wollten mittels Fallstudien, die über 14 Jahre fortgeführt wurden, herausfinden, warum beispielsweise der Lernweg bei manchen Kindern erfolgreich verläuft, während andere das Musizieren aufgeben, welche Faktoren Einfluss darauf haben und wie sich der Geschmack für einen bestimmten Musikstil entwickelt.
Der Familie auf der Spur
Die Familie wird also in der musikpädagogischen Fachliteratur als wichtiger Einflussfaktor auf das Musiklernen von Kindern gesehen und beschrieben. Dennoch wird sie als Feld mit großem Potenzial für pädagogische Untersuchungen und das Finden neuer Ansätze bisher nicht als eigenständige „Umgebung“ für das Musiklernen ins Zentrum von musikpädagogischer Forschung gerückt. Dies erstaunt etwas, selbst wenn man berücksichtigt, dass informelle Lernfelder naturgemäß schwerer zu beobachten sind (vgl. McPherson 2009:14f.; Schmidt-Wenzel 2016:285).
Dass die Familie als sensibler Bereich dennoch gut mit ethnografischen Methoden erforscht werden kann, zeigt die amerikanische Soziologin Annette Lareau eindrucksvoll in ihrer Langzeitstudie unequal childhoods (2003). Hierfür hat sie zunächst über drei Wochen Kinder und deren Familien besucht. Einige Jahre später hat sie u.a. den akademischen und beruflichen Weg der damaligen Kinder erhoben. Insgesamt hat sie so 88 Familien begleitet und darüber geforscht, welchen Einfluss Herkunft und soziale Schicht auf die Entwicklung der Kinder haben.
Wenn man die Familie als wichtigen Ort für (früh-)kindliche musikalische Bildung betrachtet, stellen sich auch Fragen danach, welche Formen informeller Musikpraxen es im familiären Kontext gibt und welchen Einfluss diese auf die musikalische Entwicklung der Kinder haben. Welche Interaktionsformen gibt es zwischen Kindern und Eltern, aber auch den Geschwistern untereinander, bei denen Musik im weiteren Sinne eine Rolle spielt? Hierin zeigt sich die Notwendigkeit in diesem Bereich zu forschen und die Grundlagenforschung direkt im Feld durchzuführen.
Forschung im Feld: Besuch bei einer Familie
Dieser Beitrag soll einen Einblick in die unter Pandemiebedingungen laufende ethnografische Untersuchung einer Familie mit drei Jungen (10-jährige Zwillinge und ein 12-jähriger Bruder) geben, bei der ich das gesamte musikalische Umfeld, in dem sie aufwachsen, erkunde. Eine der zentralen Fragestellungen ist die nach der Konstruktion von Bedeutungszuschreibungen zu Musik innerhalb der Familie. Bezugnehmend auf den aktuellen kindheitswissenschaftlichen Diskurs um die soziale Akteurschaft von Kindern („agency“), die Kinder als aktiv (inter-)agierende Personen betrachtet, sollen diese in meiner Untersuchung nicht nur als passive, werdende Wesen („becomings“) betrachtet werden (vgl. Uprichard 2008; Schmidt-Wenzel 2016:295). Vielmehr wird ein dualperspektivischer Zugang genommen, bei dem die Sichtweise der Jungen mindestens gleichrangig mit der ihrer Eltern untersucht werden soll. Auf diese Weise soll erkundet werden, bei welchen Gelegenheiten und wie Kinder selbst zum Entstehen von Lernsituationen beitragen. Ihre Bewertungen und Einordnungen des Lerngeschehens und ihr Blick auf die Erwachsenen in der Situation sollen ebenfalls erforscht werden.
Zudem beschäftigt sich die Studie mit allen Arten von Interaktion mit musikalischem Bezug, die innerhalb der Familie oder im Umfeld der Kinder stattfinden, zum Beispiel in der Musikschule, in der Chorprobe oder beim gemeinsamen Musizieren zu Hause. Hier kann auch an deutlich beiläufigere Situationen wie Musikhören beim Backen oder Radiohören beim Hausaufgabenmachen gedacht werden. Hierzu werden bei Besuchen der Familie Beobachtungsprotokolle angefertigt und von den Eltern und Kindern selbst Videotagebücher gedreht.
In dieser Familie hat das Musizieren einen großen Stellenwert. Sowohl die Mutter als auch die drei Jungen spielen jeweils zwei Instrumente. Zwei der Kinder singen noch dazu im Chor. Von Pop über Klassik bis zu Jazz ist sowohl beim Musizieren als auch beim Musikhören in der Familie alles vertreten. Der Vater spielt kein Instrument, nimmt aber die Rolle eines aktiven Zuhörers ein. Die Mutter und die Kinder musizieren immer wieder gemeinsam in wechselnden Konstellationen. Interessant und bemerkenswert ist, dass die Familie eine Art kleines Kammerensemble ergibt.
Erkunden, Verstehen, Benennen – die Säulen der Ethnografie
Die Ethnografie bietet viele unterschiedliche Methoden, um ein bisher wenig bekanntes Feld mit einer offenen Haltung zu erkunden und systematisch zu beschreiben (vgl. Hammersley/Atkinson 2007:1). Aus wissenschaftlicher Sicht beschreiben Hammersley und Atkinson die Ethnografie folgendermaßen: „Der Ethnograph nimmt offen oder verdeckt für eine längere Zeit am täglichen Leben der Menschen teil, beobachtet dabei, was passiert, hört zu, was gesagt wird, stellt Fragen, eigentlich sammelt er alles, was auch immer an Daten verfügbar ist, um das Thema, mit dem er beschäftigt ist, näher zu beleuchten.“ (ebd. 2007:3) Für ethnografische Forschung ist also ein sensibler und sehr aufmerksamer Blick unabdingbar. Das Beobachten soll möglichst unvoreingenommen und frei sein, damit die Ergebnisse das Untersuchungsfeld in seiner Komplexität darstellen können.
Die Ethnografie bietet verschiedene Typen des Beobachtens. Grundsätzlich wird zwischen offener Beobachtung, bei der alle Beteiligten davon wissen, und verdeckter Beobachtung unterschieden. Die letztere Methode ist ethisch schwierig, da die untersuchten Personen keine Kenntnis davon haben, dass sie für die Forschung beobachtet werden. Bei öffentlichen Veranstaltungen wie zum Beispiel Demonstrationen ist dies allerdings eine absolut legitime Form der Beobachtung und auch nur so praktikabel (vgl. Flick 2016:60–61). Eine weitere zentrale Unterscheidung wird zwischen nicht-teilnehmender und teilnehmender Beobachtung gemacht, die jeweils offen stattfinden. Sie unterscheiden sich dadurch, dass die Beobachtung entweder „von außen“ durchgeführt wird oder die forschende Person an den Handlungen der untersuchten Personen mehr oder weniger gleichwertig teilnimmt (vgl. Lüders 2015:385 ff.; Flick 2016:287).
In der Praxis ist der Unterschied zwischen teilnehmender und nicht-teilnehmender Beobachtung oft gar nicht so klar. Während ich die Familie für meine Studie besuche, bin ich zwar häufig reine Beobachterin, in anderen Situationen interagiere ich aber schon zum Beispiel mit den Kindern, die mir ihre Spielzeuge zeigen. Daher fließen diese beiden Rollen in meinem Fall häufig immer wieder ineinander. Es zeigt sich also, dass es bei ethnografischer Forschung grundsätzlich notwendig ist, die Rolle als forschende Person und das Vorgehen an sich laufend zu reflektieren und zu definieren. Eine zentrale Fragestellung, die im Laufe der Forschungsarbeit immer wieder reflektiert wird, ist die nach dem angemessenen Verhältnis zwischen Nähe und Distanz und welchen Einfluss das Beobachten auf die Anwesenden hat (vgl. Breidenstein et al. 2020:72).
Durch den offenen Ansatz ethnografischer Forschung sind die Methodik und Strategie eher flexibel und nicht von vorneherein festgelegt. Sie werden dem angepasst, was beobachtet oder genauer erforscht wird. Bei den im Rahmen der Studie gemachten Besuchen bei der Familie zeigte sich schnell, dass schriftliche Beobachtungsprotokolle nicht ausreichen, um die Fülle an Handlungen und Eindrücken zu erfassen. Oft zeigte sich erst im Nachgang, was eigentlich relevant war. Während der für die Studie gemachten Beobachtungen der musizierenden Kinder begann die Mutter immer wieder parallel tiefschürfende Gespräche mit mir als Forscherin. Daher wurden die Protokolle frühzeitig um Audio- und Videoaufnahmen ergänzt, um mehr Informationen zeitgleich sammeln zu können. Dies ist für ethnografische Forschungen auch allgemein typisch. Üblicherweise wird mit diversen Methoden parallel im Feld geforscht. Dies bietet den weiteren Vorteil, das Geschehen im Nachgang unter unterschiedlichen Gesichtspunkten mehrfach analysieren zu können (vgl. Friebertshäuser/Panagiotopoulou 2013:309 ff.).
Grundsätzlich stellt sich bei qualitativen Untersuchungen immer die Frage nach ihrer Aussagefähigkeit über den behandelnden Kontext hinaus. „Zwar können Forscher*innen keine empirisch fundierten Aussagen über ein von ihnen beforschtes Feld hinaus treffen. Auch können sie nicht unbegründet annehmen, dass sich rekonstruierte Muster allgemein generalisieren lassen. Allerdings können sie begründete Annahmen darüber treffen, inwieweit bestimmte Muster sich unter ähnlichen Bedingungen in ähnlicher Weise wiederfinden lassen.“ (Jachmann/Welte 2021:26)
Eine musikalische Familienwelt
Für die Datenerhebung in meiner laufenden Studie wurden neben den Beobachtungs- und Videoprotokollen auch Fotos gemacht. Für konkretere Fragen wurden zudem Interviews in einem lockeren Gesprächscharakter mit den einzelnen Familienmitgliedern sowie wichtigen Personen im Leben der Kinder genutzt. Insgesamt besuche ich die Familie zwei Mal über einen Zeitraum von jeweils drei Monaten immer wieder in unterschiedlichen Situationen ihres Alltags zu Hause, aber auch z.B. in der Chorprobe und der Musikschule und halte die jeweiligen Beobachtungen mit den genannten Medien fest. Der erste Beobachtungszyklus wurde Ende 2020 abgeschlossen.
In dieser Familie, die ich durch Vermittlung von Dozent*innen der Musikhochschule in Hannover fand, sind Musik und Musizieren die dominierenden Themen. Sie ziehen sich beinahe durch den gesamten Alltag. Es wird regelmäßig in unterschiedlichen Gruppierungen gemeinsam musiziert und viel Musik gehört (Klassik, aber auch andere Genres). Die Kinder nehmen an Privat- und Musikschulunterricht teil; ihre Nachmittage werden durch die zahlreichen Musikunterrichtsstunden strukturiert.
In den meisten Beobachtungen habe ich die drei Jungen, im Vergleich zu den vielen Kindern, die ich in meiner langjährigen Praxis als Klavierlehrerin erlebt habe, als ungewöhnlich ernsthaft und diszipliniert wahrgenommen. Das betraf insbesondere Situationen während des Instrumentalunterrichts, der Chorproben und des heimischen Musizierens. Die Zwillinge besuchen den Knabenchor gemeinsam und verbringen auch sonst viel Zeit zusammen. Insgesamt fällt bei den beiden eine große Konzentriertheit und Fokussiertheit auf, die sich auch körperlich äußert. Während der Beobachtungen, sei es in der Chorprobe oder im Instrumentalunterricht, saßen bzw. standen die Jungen auffällig stiller als die anderen Kinder und wirkten dadurch sehr kontrolliert. Dieses Verhalten zeigten sie durchgängig über den gesamten Beobachtungszyklus und z.B. ebenso auf Videos, die die Mutter in meiner Abwesenheit aufgenommen hatte, sodass anzunehmen ist, dass es nicht durch meine Beobachtungen ausgelöst wurde. Auf diesen Aspekt möchte ich während meiner weiteren Beobachtungen noch ein genaueres Augenmerk legen. Wann genau wird dieses konzentrierte Verhalten sichtbar, wann wird es durchbrochen und warum?
Insgesamt ist bei allen Beobachtungen eine sehr starke Bindung zwischen den Zwillingsgeschwistern spürbar. Neben der überwiegenden Kooperation und Harmonie gibt es aber auch Situationen, beispielsweise beim gemeinsamen Musizieren zusammen mit der Mutter und dem älteren Bruder, bei der sich ein leichtes Konkurrenzverhalten abzeichnet und es zu Kabbeleien zwischen ihnen kommt.
Die Mutter zeigt sich quasi durchgängig in allen Beobachtungssituationen als die Organisatorin des Alltags der Kinder; sei es in Bezug auf die Schule, Hausaufgaben, aber v.a. auch im Hinblick auf alles, was mit der musikalischen Alltagspraxis zusammenhängt. Auf das häusliche Üben und auch das gemeinsame Musizieren legt sie offensichtlich großen Wert und fordert hier auch durchaus Disziplin von allen Kindern ein. Die Motivation der Mutter, das Musizieren so zentral im Alltag der Familie zu verankern, möchte ich gerne bei weiteren Beobachtungen und v.a. in Interviews herausarbeiten.
Interessant ist auch, dass viele Dinge im Haus per se oder zumindest zeitweise mit Bezug auf die Musik genutzt werden. Zum Beispiel stehen im Wohnzimmer ein Klavier, ein Keyboard, meist das Cello und ein offenes CD-Regal. In den von der Mutter gedrehten Videos wird beispielsweise ein Laptop für das Ansehen von Musikvideos oder für ein Notenprogramm verwendet. Ähnliches gilt für das Handy der Mutter und ein Mikrofon, welches sie für Aufnahmen ihrer Familie beim Musizieren verwendet.
Rückblick
Grundsätzlich stellt sich in der Ethnografie immer die schwierige Frage danach, wie man Zugang zum Feld, also den Personen, die man beobachten möchte, erhält. Durch die aktuell gebotene Vorsicht im Hinblick auf die Pandemie war dieser Zugang noch einmal erschwert und erforderte eine besonders umsichtige und rücksichtsvolle Planung der Umsetzung. Grundsätzlich ist es auch sehr wichtig, aktiv Vertrauen aufzubauen und ganz klar zu kommunizieren, was man gerne wie erforschen und herausfinden möchte (vgl. Breidenstein et al. 2020:60; Wolff 2015:334ff.). Es stellte sich als Herausforderung dar, eine Familie für mein Forschungsvorhaben zu gewinnen, da selbst jene, die nicht zu besorgt aufgrund der Pandemielage waren, sich größtenteils nicht vorstellen konnten, einer Forschungsperson Zugang zu ihrem Zuhause und ihrem Alltag zu gewähren.
Die dynamische Lage hatte auch Einfluss auf meine Untersuchungen. So fand die üblicherweise rein institutionelle Schulbildung auf einmal auch als formell-informelle Mischform am heimischen Computer statt. Analog war es mit dem Musikunterricht der Kinder. Dies war nur einer der Punkte, an dem Flexibilität in der Praxis gefordert war. Es fanden beispielsweise viele der Besuche bei der Familie am Abend statt, wenn die Kinder übten und musizierten. Dadurch, dass das Familienleben in seiner normalen Dynamik begleitet wurde, war es permanent notwendig, die eigene Rolle an das aktuelle Geschehen anzupassen. Es war z.B. als reine Beobachterin beim häuslichen Üben oder aber als Spielgefährtin beim Ballspiel im Garten zudem wichtig, eine gewisse innerliche Professionalität und Objektivität zu bewahren. Ähnlich war es immer wieder notwendig, die gewählte Methodik zu hinterfragen und anzupassen.
Fazit
Diese Studie kann einen Baustein der Grundlagenforschung der lebensweltlichen Alltagspraxen darstellen. Die Wunschvorstellung wäre, die Lebensumstände der Familien sowie Besonderheiten der Kinder als Einflussfaktoren des (informellen) Musiklernens zu erkennen und in künftige musikpädagogische Lehrkonzepte aktiv einzubeziehen. Dies soll helfen, die Relevanz des Fokus auf die „agency“ der Kinder zu verdeutlichen. Darüber hinaus stellen sich noch viele Fragen nach der Bedeutung von Musik in den Lebenswelten von Kindern im Allgemeinen, danach, wie ihr persönlicher Zugang zur Musik aussieht und wie Instrumentalunterricht darauf reagieren könnte. Analog zum kindheitswissenschaftlichen Diskurs sollte die Musikpädagogik Familie als „bildungsbedeutsamen Lernzusammenhang“ (Schmidt-Wenzel 2016:299) bewerten und sich damit auseinandersetzen, was Heranwachsende auch in weniger beachteten Situationen ihres Alltags leisten und lernen. Dies sollte auch unabhängig von einem wertenden Blick auf das Gelernte geschehen, der die Nutzbarkeit für institutionelle Bildungsziele prüfen würde.