Literatur lehren
Erst lesen, dann schreiben
Literatur lehren bedeutet heute mehr, als angehende Schriftsteller und Schriftstellerinnen auszubilden. Das Spektrum und die Arbeitsfelder sind vielfältiger geworden. Wer virtuos mit Sprache umgehen kann, hat nicht nur Chancen als Schriftsteller, sondern in zahlreichen Berufen an der Schnittstelle von Literatur und Öffentlichkeit: beispielsweise bei Verlagen oder in Redaktionen, als PR-Mitarbeiter oder Programmverantwortlicher von Kulturinstitutionen, als Schreibdozent oder in den Literatur- und Kulturwissenschaften der Universitäten.
Lehre und Produktion von Literatur finden in verschiedenen Kontexten statt. Dabei bestellen Dozenten und Dozentinnen von Schreibstudiengängen dasselbe Feld wie Anleiter und Anleiterinnen privater Literaturgruppen, wenn auch mit unterschiedlichem Ziel und unterschiedlichen Verfahren. Von der Schreibanimation als Freizeitvergnügen bis zum literarischen Feinschliff am Romandebüt, von Angeboten für Kinder, Erwachsene sowie Senioren und Seniorinnen erstreckt sich die weite Landschaft des Schreibens und Schreibenlehrens. In der Breite hat dafür in Deutschland die Schreibbewegung der 1980er Jahre Voraussetzungen und Perspektiven für weitere Entwicklungen geschaffen. Wenn auch manch immergrüne Grundsatzdebatte noch nicht abgeschlossen ist, scheint das Spekulieren vorüber, wie talentiert jemand sein müsse, um sich überhaupt mit literarischem oder kreativem Schreiben befassen zu dürfen. Aktuell geht es nicht darum, ob Schreiben gelernt, sondern wie Schreiben gelehrt werden kann (vgl. Porombka 2009:167). Einigkeit besteht darin, dass sich literarisches Handwerk – analog zu Musik und bildender Kunst – vermitteln lässt. Ziel der Ausbildung sind die 90 % handwerklicher Fertigkeiten, die (fast) jeder lernen kann, und nicht die Geburt des genialen Überfliegers als Ausnahme von der Regel. „Die einzige Begabung, die man haben kann,“ ist laut Christoph Niemann ein „stoischer Enthusiasmus, der einem hilft, den ständigen Frust zu ignorieren, der ein unumgänglicher Teil kreativer Arbeit ist“ (Niemann 2012:17).
Versierte Schreibtechnik und Textkritik bringen freilich nicht zwingend ein gutes Buch hervor, jedoch schärfen solche Arbeitsprozesse den Blick auf die Grundlagen der Schreibproduktion und Literaturvermittlung (siehe Lino Wirag „Zeitgenössische Formen informeller Literaturvermittlung“). Handwerklich-professionelles Schreiben darf zudem nicht mit markttauglichem Schreiben verwechselt werden, zumal eine entsprechende Ausbildung nicht immer auf den Literaturmarkt zielt – man denke beispielsweise an die Lehrer und Lehrerinnen der verschiedenen Schulformen, die Schreiben und Literatur in unterschiedlichsten Fächern vermitteln.
Die Möglichkeiten, das Handwerk zu lernen, sind vielfältig. Und wer auf Patentrezepte hofft, wird enttäuscht. Strenge Regeln verfolgen nicht einmal einschlägige Ratgeber, die den wissbegierigen Leser in die Geheimnisse einweihen möchten, „wie man einen verdammt guten Roman schreibt“, so der Titel von James N. Freys 1987 erstmals erschienenem Praxisleitfaden für Autorinnen und Autor.
Aber wie lässt sich das Schreiben lernen und lehren, wenn solche Regeln und Rezepte fehlen? Die Antwort von Daniel Kehlmann fällt schlicht aus: „Schreiben lehrt man, indem man lesen lehrt“ (Wood 2011:13). Genaues Lesen setzt – als Schlüsselkompetenz – Standards fürs Schreiben. Diese Standards gibt keine DIN-Poetik vor, sondern der jeweilige Text eines Autors. Das gilt gleichermaßen für Fremdtexte, von denen man lernt, wie für die eigenen, die im Werkstattgespräch überprüft werden. Vorbildliche Literatur im weitesten Sinne unterstützt daher den Schreibprozess in allen Phasen: von der Planung bis zur Vollendung eines Projekts, ja darüber hinaus. Und sie befördert gleichsam die Kunst zu leben. „Durch die Literatur werden wir zu besseren Beobachtern, wir wenden das Gelernte auf das Leben selbst an“, schreibt James Wood. „Dadurch werden wir umgekehrt detailgenauere Leser der Literatur; dies wiederum lässt uns das Leben besser lesen und immer so weiter“ (Wood 2011:69). Durch die Lektüre beispielhafter Autoren entsteht zudem ein Bewusstsein für die Geschichtlichkeit und Gegenwärtigkeit von Themen. Um den eigenen Ort in der literarischen Welt zu bestimmen und um Dopplungen und falsche Originalität zu vermeiden, sind solche vorbildlichen Lektüren unerlässlich.
Literarisches Schreiben ist nicht ausschließlich etwas für Schriftsteller. An Ausbildungsstätten wie der 1979 gegründeten Henri-Nannen-Schule (Hamburg) oder der Deutschen Journalistenschule (München, seit 1949) trainiert der journalistische Nachwuchs Schreiben für die Öffentlichkeit. Die Grenzen zur Literatur verlaufen dabei fließend. Vor allem erzählende Formen des Journalismus bedienen sich literarischer Verfahren, um Spannung zu erzeugen, den Leser mit Leitfiguren durch den Text gehen zu lassen oder ihn dramaturgisch und stilistisch von der ersten bis zur letzten Zeile ans Thema zu fesseln. Ein guter Journalist muss heutzutage auch ein guter Erzähler sein, und umgekehrt muss ein guter Erzähler ein guter Journalist sein, was Recherche, Sachkunde und Glaubwürdigkeit der literarischen Welt angeht.
Von den Werkstätten in Iowa zu den Studiengängen für literarisches Schreiben
Schreiben lehren hieß in Deutschland zunächst, von anderswo zu lernen. International modellbildend für viele Nachfolger wurden die Creative-writing-Angebote der Universität Iowa. Obwohl Iowa schon 1897 erste Kurse für kreatives Schreiben im Programm hatte, ließ sich das Fach erst ab 1936 systematisch studieren; heute ist der Master of Fine Arts Ziel des Studiums. Zum Konzept gehört seit jeher, dass namhafte Autorinnen und Autoren die Arbeiten der Studenten besprechen und Ratschläge fürs Überarbeiten geben. Schreiben könne nicht gelehrt werden, heißt es bescheiden auf der Website des Writers’ Workshop von Iowa, Schreibende könnten jedoch durch die Werkstätten zumindest „ermutigt“ werden. Aus solchen „Ermutigungen“ sind jede Menge Schriftstellerinnen und Schriftsteller und Bücher sowie zahlreiche Schreiblehrer und Vermittler von Literatur hervorgegangen.
Deutschland bekam Mitte des letzten Jahrhunderts eine annähernd vergleichbare Einrichtung. Das 1955 gegründete Leipziger Institut für Literatur, seit 1959 Institut für Literatur Johannes R. Becher, orientierte sich jedoch nicht an den amerikanischen Modellen, sondern blickte nach Osten. Vorbild für Leipzig wurde das 1933 gegründete Maxim-Gorki-Institut für Literatur in Moskau. Die Ausbildung in Leipzig setzte auf die traditionellen Sparten Lyrik, Prosa und Dramatik und wurde kultur- und parteipolitisch überhöht durch das allgemeine Ziel, Schriftsteller für den sozialistischen Realismus zu begeistern. Das hinderte die Autoren und Autorinnen aber keineswegs, ihre Freiheiten für Buchprojekte zu nutzen, die jenseits der parteipolitischen Doktrin angesiedelt waren und über die Grenzen der DDR hinaus beachtet wurden. Das Ende der DDR bedeutete 1990 auch das Ende dieses Literaturinstituts. Öffentliche Proteste bewahrten die Einrichtung vor dem endgültigen Aus, und so wurde es 1995 unter dem Namen Deutsches Literaturinstitut Leipzig als Teil der Universität Leipzig neu gegründet.
Nur vier Jahre später hob die Universität Hildesheim ein vergleichbares Angebot für heranreifende Autoren aus der Taufe: den Studiengang „Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus“.
Leitinstitutionen und Basisarbeit
Im neuen Jahrtausend sind die Einrichtungen in Leipzig und Hildesheim zu Leitinstitutionen für die Lehre literarischen Schreibens herangereift. So bietet das Hildesheimer Institut für Literarisches Schreiben und Literaturwissenschaft einen Bachelor-Studiengang zu „Kreativem Schreiben und Kulturjournalismus“ an, darüber hinaus einen Master-Studiengang „Literarisches Schreiben“. Am Deutschen Literaturinstitut Leipzig können Studenten „Literarisches Schreiben“ mit einem Bachelor und Master abschließen.
Die Orte, an denen Literatur gelehrt wird, sind nicht auf die Universitäten beschränkt. Orte fürs Schreibenlehren und Schreibenlernen schaffen auch Literaturhäuser, Volkshochschulen oder Stiftungen und literarische Gesellschaften, die die Produktion von und das Gespräch über Literatur unterstützen. Neben den (über-)regional sichtbaren Orten gibt es viele weitere teils private, teils an Institutionen angedockte Literaturgruppen und Schreibwerkstätten, die auf unterschiedlichem Niveau ähnliche Ziele verfolgen: genaues Lesen und professionelles Schreiben zu vermitteln.
Die Modelle, Literatur zu lehren und zu lernen, sind vielfältig. Wer sich nicht auf ein Studium einlassen kann, findet bundesweit diverse Möglichkeiten, das literarische Schreiben sowie den Blick auf eigene und fremde Texte auf eine solidere Basis zu stellen. Ein Beispiel dafür ist die Bundesakademie für kulturelle Bildung Wolfenbüttel, die sich in den letzten Jahren als Ort für Schreibvermittler und Schreibvermittlerinnen sowie Autoren aus ganz Deutschland etabliert hat. Im Literaturprogramm der Bundesakademie lehren in den Werkstattseminaren meist Gastdozentinnen und Gastdozenten (Autoren/Journalisten/Übersetzer), die ihren Bereich in beispielhafter Weise vertreten. Der Akzent der Literaturlehre liegt auf der Gegenwartsliteratur, die nach dem Grundsatz „Erst lesen. Dann schreiben“ vermittelt wird (vgl. Kutzmutz/Porombka 2007:9-13). Was sich zu einem Standard vieler Seminare und Studiengänge entwickelt hat, gilt auch hier: Die Texte der Schreiberinnen und Schreiber stehen im Mittelpunkt, sind idealerweise vorab von der Gruppe vorbereitet und werden dann nach den Gesetzen, die der jeweilige Text schafft, besprochen und bewertet. Als weiteres Beispiel sei die Alice-Salomon-Hochschule Berlin erwähnt. Dort ist seit 2006 der postgraduale Masterstudiengang „Biografisches und Kreatives Schreiben“ angesiedelt, der einen ersten akademischen Studienabschluss im Bereich der Human- und Gesundheitswissenschaften voraussetzt. Bei diesem Modell steht das Selbststudium im Vordergrund, das im Laufe von fünf Semestern durch überschaubare Präsenzzeiten an der Hochschule ergänzt wird.
In die Breite gehen – ein Blick nach vorn
Was das literarische und kreative Schreiben durch die einschlägigen Studiengänge und vergleichbare Spitzenangebote an Strahlkraft gewonnen hat, bedarf auf lange Sicht noch der Verankerung in der Breite. Bis zu 600 Bewerbungen jährlich allein am Deutschen Literaturinstitut Leipzig, von denen 20 Bewerberinnen und Bewerber zum Studium zugelassen werden, zeigen das Interesse am Gegenstand und die Richtung, in die sich Angebote an Hochschulen und anderen Lernorten entwickeln müssten. Auf solche Konjunktur reagieren erste Pläne, neben die Institute von Leipzig und Hildesheim ein „Literaturzentrum NRW“ zu setzen, das die bestehenden Schreiblehrorte ergänzen und erweitern würde. Insgesamt sieht der Trend wie folgt aus: Die Angebote an Hochschulen für kreatives oder literarisches Schreiben nehmen fortwährend zu, auch wenn eigene Studiengänge noch immer die Ausnahme sind; vielfach wurde Creative writing einfach „als zusätzliches Angebot in literaturwissenschaftliche, journalistische oder künstlerische Fachrichtungen integriert” (Haslinger/Treichel 2005:184).
Wer literarisches und kreatives Schreiben lehrt, sollte nicht nur die spärlich besiedelten Höhen im Blick haben, sondern auch die vielen Interessierten an der Basis, die Schreiben (und Lesen) professioneller lernen möchten. Literarisches und kreatives Schreiben müsste deswegen zur Grundausbildung an Schulen und Hochschulen gehören. Das Erfinden, Erzählen und Besprechen von Geschichten vermittelt eine Universalkompetenz, die lebenslanges Training fordert – am besten von Kindesbeinen an. Es geht dabei darum, dass alle, die es möchten, ihre eigene Sprache sowie Wege zur Produktion und Vermittlung von Literatur finden sollten. Neben den ästetischen Selbstzweck von Literatur träte – als unvermeidliches Plus – eine Kulturelle Bildung im umfassenden Sinne; das bedeutet, dass sich der Erfolg von Programmen für literarisches und kreatives Schreiben mitunter über Bande herstellt. Ablesbar ist das nicht vor allem an den literarischen Spitzenerzeugnissen, sondern generell an geschärften Standardkompetenzen bei jenen, die sich intensiv mit Schreiben und Literatur beschäftigen. So sind Vortragende aus den USA, wo Creative writing zu den Standards gehört, meist in der Lage, „sich auf ihre Zuhörer einzustellen, sich verständlich auszudrücken und auch noch Interesse für ihr Thema zu wecken“ (Haslinger/Treichel 2005:190). Theorie und Praxis in dieser Hinsicht zu verbinden, erweitert die beruflichen Perspektiven einer Ausbildung, die auf den ersten Blick auf eine Schriftstellerbiografie hinausläuft. Schreiben müsste in Deutschland ganz selbstverständlich fachübergreifend studiert werden können, um diese Wirkungen auch bei uns zu befördern. Literatur wäre – neben ihrem Eigenwert als künstlerische Form – eine Kernkraft fürs Auftreten, ja fürs Leben.
Der Blick nach Übersee gibt eine Richtung für die Zukunft vor: Die Website der Association of Writers & Writing Programs verzeichnet allein für Nordamerika mehr als 500 Creative Writing Programs an Universitäten und Colleges. Das beschreibt eine Entwicklung, die für Deutschland und Europa durch eine stärkere Institutionalisierung des Schreibenlehrens noch zu leisten ist – um das Besondere zum Normalfall zu machen, zum Besten der Sprache und ihrer Autorinnen und Autoren.