Lebenslanges Lernen in Museen
Der Begriff „Museumspädagogik“ führt mitunter in die Irre oder aber zumindest zu einer verengten Wahrnehmung des Faches. Pädagogik (griech. παιδαγωγία, paidagogía: Erziehung, Unterweisung) geht auf παῖς (pais: Knabe, Kind) und ἄγειν (ágein: führen, leiten) zurück. Methoden und Innovationen konzentrieren sich folglich oft auf das schulische Publikum oder auf Zielgruppen, die im Fokus gesellschaftlicher oder kulturpolitischer Diskurse stehen und besonderer Aufmerksamkeit bedürfen: Demenziell veränderte Menschen, MigrantInnen oder bildungsferne Jugendliche sind gängige Beispiele. Ein Großteil der Gäste in Museen ist aber erwachsen. Sie sind ein lohnenswertes Publikum für Vermittlungsprogramme oder -projekte.
Der Nachhaltigkeitsgrad von Vermittlung an Erwachsene ist oft unklar. Um die Tragfähigkeit und Akzeptanz von Angeboten zu bewerten, muss ein Museum seine BesucherInnen und NichtbesucherInnen kennen. Nicht jedes Haus ist jedoch in der Lage oder willens, Besucherforschung oder auch nur einfache Publikumsbefragungen durchzuführen. Aus diesem Dilemma heraus können Grundüberlegungen zu Nachfragestrategien des erwachsenen Publikums führen. Kreuzt man sie mit einer kritischen Bestandsaufnahme äußerer Barrieren (Öffnungszeiten, Erreichbarkeit, Preisstruktur etc.), so kommt man zu Hinweisen über das potentielle Publikum und sein Interesse.
Die folgenden Überlegungen beziehen sich auf nichtmediale Vermittlung für erwachsene IndividualbesucherInnen ab 16 Jahren. Die Frage „Wer lernt?“ wäre damit zunächst beantwortet, wird aber am Ende erneut aufzugreifen sein. Bleiben weitere W-Fragen: Wo lernt das Publikum? Wie lernt es? Was lernt es? Wann lernt es? Und warum lernt es?
Wo
Die „Grundrechte des Besuchers“ – insbesondere die Rechte auf Respekt, Lernen, geistige Erfrischung, Herausforderung und Selbstvertrauen – stecken den Rahmen für Vermittlungsangebote an erwachsene IndividualbesucherInnen ab. Grundlage ist, dass der Ort Museum akzeptiert sein muss. Der Typus des Museums ist zweitrangig, denn die Aufenthaltsqualität bemisst sich nicht nach kunsthistorischen Highlights, auratischen Inszenierungen oder naturkundlichen Superlativen.
Wo lernt das Publikum? An einem Ort, der neugierig macht und die Bedürfnisse bedient. Der Ort Museum ist seit den 1970er-Jahren nicht mehr nur ein Ort des hochkulturellen „Delectare ed prodesse“. Die gesellschaftspolitische Relevanz von Museen (Kirchberg 2005:98-108;) hat sich verändert, Nachbarschafts-, Freilicht-, Erlebnis- und Technikmuseen ziehen andere Publika an. Hier liegt die Basis einer veränderten Anspruchshaltung gegenüber Museen und Lernzielen. Die Wünsche des Publikums sind breiter geworden.
Museen sollten in der Wahrnehmung des Besuchers keine reinen Lernorte mehr sein (Grötsch 2008:107ff.). Sie konkurrieren – ob sie wollen oder nicht – mit freizeitorientierten Erlebnisorten, die allerdings sehr wohl Bildungselemente anbieten. Lernen kann sich erfolgreich mit Emotion und Vergnügen verbinden (Kirchberg 2005:221-238). Dies als Verflachung, McDonaldisierung oder Zugeständnis an die Spaßgesellschaft abzuwerten, ist ein andressierter Beißreflex des bürgerlichen Bildungsauftrags aus dem 19. Jahrhundert. Lebenslanges Lernen gibt dem Ort Museum viele Chancen – wenn er sich nicht als Lernort, sondern als Ort für Lernerlebnisse versteht.
Wie
Erwachsene lernen selten in formalen Zusammenhängen, eher non-formal oder informell. Ihr Wissenserwerb ist selbstbestimmt, dient dem Kennenlernen neuer Ideen und Zusammenhänge, befriedigt Vergnügen, Ehrgeiz, reines Interesse oder den Wunsch nach Selbstfindung. Selten ist es purer Erwerb von Information. Ihre persönliche Bildungsgeschichte hat Erwachsene gelehrt, effizient und anspruchsvoll zu sein. Das verbindet sich mit dem Wunsch nach emotionaler Bereicherung und neuen Einsichten (Eissenhauer/Ritter 2010, S.11-15). Wer sich bewusst macht, wie Erwachsene– insbesondere im Museum– lernen und welche Bedürfnisse sie haben, kann reflektierte und erfolgreiche Programme entwickeln. Als Denkkategorie bietet sich das Begriffspaar außengesteuertes und innengesteuertes Lernen an.
Lernen ist ein sozialer und experimenteller Prozess (Kolb 1984:21-38), daher sind im Museum nicht nur unterschiedliche Wissens-, sondern unterschiedliche Vermittlungsangebote entscheidend, um unterschiedliche Lerntypen zu bedienen. Manche Menschen fühlen sich durch emotionale und persönliche Ebenen angesprochen, andere durch rationale und fokussierte Präsentationen, dritte durch aktive Teilnahme oder Experimente, vierte durch komplexe Fragen, die es im Gespräch zu erörtern gilt. Daraus resultiert ein breit gespanntes Portfolio von möglichen Vermittlungsmethoden, die unten genannt sind.
Erfolgreiche Vermittlung braucht niedrige Schwellen. Dies meint äußere Barrieren wie unzureichende Abendöffnungszeiten, schlechte Verkehrsanbindung oder hohe Eintrittspreise, mehr noch die psychologischen Hindernisse, die sich aus der eigenen Biografie (soziales Umfeld, kulturelle Prägung, Bildungsweg) ergeben. Findet das Museum mit seiner Vermittlung einen Weg durch diese Barrieren, so sind ihm erwachsene BesucherInnen sicher. Vermittlung kann hier von PR und Marketing lernen, genauer gesagt von den Instrumenten und Strategien für Zielgruppenansprache, Zieldefinition, Nachfrageorientierung und Qualitätssicherung.
Was
Was lernen die BesucherInnen? Britischen Studien zufolge lässt sich das, was man im Museum lernen kann, einem von fünf Bereichen zuordnen (zum Gesamtkontext: www.inspiringlearningforall.gov.uk): 1. Wissen und Verständnis, 2. Fähigkeiten, 3. Werte und Normen, 4. Vergnügen, Inspiration, Kreativität und 5. Aktion, Verhalten, Weiterentwicklung. Der Erfolg ist am größten, wenn das Lernen zweckfrei, selbstbezogen und stressfrei geschieht. Wie ein Lernbereich beschaffen ist und was darin Platz findet, hängt also vom Rezipienten ab.
Doch fällt dessen Interesse nicht vom Himmel, sondern ist in größere Themen eingebunden. Über lernbiografische Prägungen hinaus reagiert jeder Besucher auf externe Kommunikationsimpulse und gesellschaftliche Strömungen. Viele davon lassen sich mit dem Begriff der Megatrends fassen (Naisbitt 1990 und 2009:13; Horx 2011). Megatrends sind langfristig und nehmen über Jahrzehnte hinweg Einfluss. Sie beeinflussen das Weltbild einer Gesellschaft, deren Wertesystem und Denkansätze. Ein Megatrend kann das Angebot und die Nachfrage einer Ware oder Dienstleistung beeinflussen, aber auch unterschiedlich und sogar widersprüchlich, sein Einfluss richtet sich nach sozialem Milieu, kultureller Prägung, Alter und Wohnort des Einzelnen.
Für Museen und ihre BesucherInnen sind mindestens drei Megatrends entscheidend: Authentizität, Globalisierung und Individualisierung. Menschen möchten echte Dinge sehen, globale Zusammenhänge verstehen oder diskutieren, museale Themen für das eigene Leben fruchtbar machen. Die Megatrends Downaging und Konnektivität bestimmen Methode und Zugangsweise, denn das Publikum lehnt monokausale Zugänge ab, will sich einen frischen Blick auch im fortschreitenden Alter bewahren und vernetzt denken.
Wann
Unsere Wissensgesellschaft erzeugt neue Lebensmodelle (Steinle 2014:6-19). Die lebenslange Stabilität einer Beziehung ist ebenso selten wie die der Arbeitsstelle. Soziales Umfeld, Arbeit und persönliche Entwicklung sind von aufeinander folgenden oder parallel verlaufenden Phasen bestimmt. Auf die erste Beziehung folgen eine erste und eine zweite Ehe, bevor neue Wohnformen das soziale Umfeld im Alter bestimmen. Auf Ausbildungs- und Jobphase folgen mehrere Berufsabschnitte, bevor zwischen 50 und 60 die Suche nach Berufung eintritt. Auf Kindheit und Jugend folgt eine lang anhaltende Postadoleszenz, die dann von einer zwanzigjährigen Rush Hour abgelöst wird, bevor die Suche nach Selbsterfüllung das Erfolgsstreben in Frage stellt. Best Ager wiederum möchten ihre Erfahrungen weitergeben, aber noch neue machen.
In diesen Abschnitten zeigt jeder Phasen von Offen- und Verschlossenheit. Sie zu identifizieren ist eine Voraussetzung für Erfolg. Auch an den Nahtstellen zwischen einzelnen Phasen ist Platz für Vermittlung, denn neue Lebenszusammenhänge erfordern neue Parameter. Das gilt für Impulse, die ein Museum im Bereich beruflicher Fortbildung setzen kann, ebenso wie für veränderte Formen der Freizeitgestaltung in einer neuen Partnerschaft oder für neue Wertevorstellungen, die aus einem veränderten persönlichen Umfeld entstehen.
Lernen kann das Leben dann begleiten, wenn es diese Phasen der Offenheit sucht und Angebote entwickelt. Versuche, wochentags am Nachmittag eine Veranstaltungsreihe zu Interkulturalität zu etablieren und damit ein jüngeres kritisches Publikum zu erreichen, sind zum Scheitern verurteilt. Zeitzeugengespräche, die per se eine hohe soziale Komponente haben und ein älteres diskussionsfreudiges Publikum anziehen, hingegen nicht. Erfolg versprechend ist eine Sommerakademie für Lehrkräfte zu Beginn der großen Ferien, in denen im Museum Methoden und Soft Skills vermittelt werden. Oder prägnante Veranstaltungen in verständlicher Sprache am Wochenende. Denn warum wohl sind Führungen für Kinder so beliebt bei Erwachsenen?
Warum
Die Motive und Motivationen des Publikumsbesuches sind scheinbar unendlich. Doch die jüngere Forschung schlägt ein tragfähiges Modell vor, das das „Warum“ prägnant zu fassen vermag, und unterscheidet fünf Typen von BesucherInnen. Darauf basierend kann ein Vermittlungsprogramm mit unterschiedlichen Formaten und Zeitschienen arbeiten, um die BesucherInnen zu begeistern.
John H. Falk (Falk 2009, vor allem 157-177) definiert folgende Typen von BesucherInnen. EntdeckerInnen („explorers“) sind neugierige BesucherInnen mit starkem, generellem Interesse an Museumsinhalten. Sie hoffen auf Dinge und Inhalte, die sie fesseln und ihren Lernhunger stillen. Vermittler („facilitators“) sind BesucherInnen mit sozialer Motivation. Mit ihrem Besuch ermöglichen sie anderen, Museen zu besuchen und als Lern- und Erlebnisort zu entdecken. Erfahrungssucher („experience seekers“) verstehen Museen als wichtige Destination und beziehen bereits aus dem Besuch ihre Motivation. Sie sind zufrieden, wenn sie ein Museum „gemacht” haben. Profis („professionals“/„hobbyists“) spüren eine enge Verbindung zwischen einem Museum und dem eigenen Beruf oder dem Hobby. Mit ihrem Besuch eignen sie sich spezifische Inhalte an. AufladerInnen („rechargers“) suchen in Museen Kontemplation, geistige Tiefe oder Erholung. Im Museum entfliehen sie dem Alltag oder finden ihre Weltanschauung bestätigt.
Diese fünf Leitmotive sind eine gute Basis, um Vermittlungsthemen zu etablieren. Entdecker werden sich über variantenreiche Führungen freuen, Vermittler über ein kreatives Familienangebot am Wochenende. Profis gehen zu berufsbezogenen Fortbildungen und Gesprächen mit Kuratoren oder Restauratoren, ErfahrungssucherInnen finden sich in Highlight-Talks, Auflader suchen kreative Angebote oder Diskussionsrunden im Museumsraum.
Wer
Soziologie und Marketing haben seit den 1990er-Jahren unterschiedliche Lebensweltmodelle zur Erfassung von Zielgruppen entwickelt. Die erfolgreichste ist die von Sinus Sociovision aus Heidelberg entwickelte Theorie der Sinus-Milieus. Sie bildet eine praktikable Möglichkeit, um über das vorhandene und das potenzielle Publikum und seine Interessen nachzudenken und Konzepte zu entwickeln.
Nicht jede Museumssparte wird Erwachsene aus allen Milieus ansprechen können. Kunstsammlungen und kulturgeschichtliche Häuser finden ihr Publikum meist in den Lebenswelten der Ober- und Mittelschicht. Mit Methoden des Audience Development kann dies behutsam erweitert werden (Mandel 2013:11-16 und 19-35;). Je individueller das Wertesystem des jeweiligen Besuchers ist, desto geringer ist die Neigung, sich gruppenspezifischen Angeboten (regelmäßige Teilnahme an öffentlichen Führungen, gemeinsame mehrteilige Kurse, Vortragsreihen) anzuschließen. Eher ist ein Zugang über diskursive Ansätze, mediale Formate und Events zu erwarten.
Unabhängig von Milieu, Motiv und Lerntyp teilen erwachsene BesucherInnen die Sorge um ihre Ressourcen. Sie aktivieren soziales Potential und bringen Bekannte oder Familie mit. Sie wenden Geld und Zeit für ihren Besuch auf und werden um gedankliche oder körperliche Leistungen gebeten: die Beteiligung an einer Diskussion, langes Verharren vor schlecht sichtbaren Objekten in Vitrinen, wenig Sitzgelegenheiten… Diese Ressourcen sind wertvoll, und die BesucherInnen erwarten, dass die VermittlerInnen damit behutsam und respektvoll umgehen, indem sie eine Vielfalt von Formaten und Methoden einsetzen. Die Ära, in der der Besucher andächtig an den Lippen eines Wissenschaftlers hing, ist grosso modo Vergangenheit.
Formate und Methoden
Bei allen Überlegungen darf nicht übersehen werden, dass der Museumsbesuch auch Gewohnheiten folgt. Daher wird die klassische Führung („one to many“) nicht verschwinden. Sie richtet sich per se unspezifisch an ein heterogenes Publikum. Die Möglichkeit, hier zu steuern, liegt eher im Zeitpunkt (früher bis mittlerer Nachmittag: 60+; früher Abend: 40+; Sonntagvormittag: Familien) und im Titel der Veranstaltung. „Romantik für Einsteiger“ oder „Die Schiffssymbolik bei C.D. Friedrich“: Beides ist möglich, erzeugt aber unterschiedliche Erwartungshaltungen.
Doch um breiter zu wirken, muss personale Vermittlung für Erwachsene dialogische Elemente haben („many to many“). Dies kann über Gesprächsformate (Diskussionen, Museumsgespräche, Zeitzeugenrunden, experimentelle Einheiten mit ehemaligen Beschäftigten in Industriemuseen) oder über Ciceroni erfolgen, die als Gesprächspartner dienen. Aber: Studierende oder gar Jugendliche als Ciceroni sind oft nur Projektionsfläche: Toll, dass sich junge Menschen für Kultur stark machen! Knappe und intensive Formate wie Lunch Talks oder Kurzführungen zum Feierabend sind beliebt, wenn sie zu nichts verpflichten – keine Mehrteiligkeit, keine Anstrengung. Autobiografische Ansätze, Empowerment-Programme für bildungsferne Gruppen und Partizipationsprojekte bringen selten gesehenes Publikum – wenn die Inhalte dessen Lebenswirklichkeit treffen. Das Gegenteil sind stark wissenschaftsorientierte Veranstaltungen, die ein hochkulturell geschultes Stammpublikum bedienen (Vortragsreihen, Museumsakademie, Sprachkurse) und für den klassischen Bildungsbegriff stehen.
Die handlungsorientierte Vermittlung ist individualistischer und exklusiver. Kurse in Kalligraphie, Mosaiktechnik oder Bronzeguss vertiefen die Kunsterfahrung, kreatives Schreiben oder Theaterspiel im Museum, Gamelankurse in einer ethnologischen Sammlung oder Tanzworkshops verleihen dem Erlebnisort eine neue Facette. Angebote dieser Art brauchen jedoch eine entsprechende Infrastruktur und gute VermittlerInnen. Selten kommt es zu einer Verbindung von verbalen Angeboten und kreativen Methoden. Hier könnte Vermittlung mehr Mut beweisen und die Methoden, die mit Kindern funktionieren, auch bei Erwachsenen einsetzen: Ein Suchspiel mit Farbkarten in einer Impressionismus-Abteilung oder der Einsatz von Hands-on-Elementen in einer historischen Sammlung löst auch bei Erwachsenen positive Lernerlebnisse aus.
Zum Schluss
Es gibt in der deutschen Museumslandschaft kaum ausgearbeitete Konzepte für lebenslange Vermittlungskonzepte. Sie sind auch schwierig umzusetzen: Ein Museum und eine potentielle Zielgruppe brauchen jeweils eine gewisse Mindestgröße, sonst sind Angebot und Nachfrage nie in ein vernünftiges Verhältnis zu bringen. Und die Vermittler brauchen die Kapazität und die Kenntnis, um entsprechende Angebote zu schaffen. Hier allerdings bieten sich Partnerschaften mit anderen Instituten der Erwachsenenbildung an, um Defizite auszugleichen. Eines jedoch ist unverzichtbar: das Talent, Neugier zu wecken und sie zu lenken. Denn ohne Neugier kein Lernen.