Labyratoire, Spiel, Bricolage – für eine eigensinnige Theaterarbeit
Auf den Spuren von Arthus C. Caspari im Projekt Theater – Auf(s) Spiel setzen
Abstract
Der Aufsatz widmet sich in einer Re-Lektüre des 1998 erschienenen Textes von Arthus C. Caspari „Labyratoire – spielen oder töten?“ der Frage, wie das von Caspari entwickelte Konzept des Labyratoires in Bezug auf das Theaterspiel heute produktiv gemacht werden kann. Dabei wird deutlich, dass die Raummetaphern Labyrinth und Labor auf unterschiedliche Perspektiven der Theaterarbeit verweisen: Während das Labor die Produktion von neuen Wissensbeständen und die systematische Erforschung aller Elemente der Theaterpraxis in das Zentrum stellt, betont das Labyrinth die intensive (Selbst)Begegnung und Suchbewegungen, die Umwege, Irrwege und Abwege umfassen. Im Konzept der Bricolage von Levi-Strauss verschränken sich beide Dimensionen, die einer ersten Wissenschaft des magischen Denkens mit der Sprache der disparaten Fundstücke, aus der sich die Elemente der Inszenierung formen.
Wiederaufnahme: Fachtexte zum Spiel neu entdeckt und befragt
Dieser Beitrag entstand vor dem Hintergrund des gemeinsam von der Bundesarbeitsgemeinschaft (BAG) Spiel & Theater und dem Profilstudiengang Theater als Soziale Kunst an der FH Dortmund initiierten Projektes Theater – Auf(s) Spiel setzen. 12 Autor*innen wurden gewonnen, die Diskursfäden des 1998 von Hans-Wolfgang Nickel und Christian Schneegass herausgegebenen Sammelbandes zur Spieltheorie wieder aufzunehmen. Neben Michael Zimmermann gehören Felix Büchner, Isabel Dorn, Stefanie Husel, Norma Köhler, Martina Leeker, Frank Oberhäußer, Dietmar Sachser, Mira Sack, Hanne Seitz, André Studt und Sören Traulsen zu den Autor*innen, die in den kommenden Wochen auf kubi-online zu einer aktuellen Auseinandersetzung und Neupositionierung beitragen und in ihren Fachbeiträgen ausloten werden, welche begrifflichen und anwendungsbezogenen Verschiebungen über die Jahrzehnte zu beobachten sind und welche Potenziale und Entfaltungsmöglichkeiten dem Spiel innewohnen.
Arthus C. (eigentlich Carlheinz) Caspari (1921 – 2009) war Schriftsteller und Regisseur. Als ein Protagonist der rheinländischen Kunstszene seit den beginnenden 1960er Jahren entwickelte er, beeinflusst u.a. von John Cage, Nam June Paik, dem niederländischen Maler Constant (Nieuwenhuys) und Positionen der Situationistischen Internationale, sein Konzept des Labyrs (oder Labyratoires), das er von den Begriffen Labyrinth und Laboratorium ableitete. Grundgedanke des Konzeptes ist die Vorstellung eines Denkraumes, in dem statt der Festlegung auf bestimmte Vorgaben und Ziele die offene, explorierende und experimentelle Aktion im Zentrum steht.
Casparis Text „Labyratoire – spielen oder töten?“ von 1998 stellt sich selbst als ein labyrinthisches Laboratorium dar, in dem sich Thesen, Erfahrungen und Anekdoten mäandernd in verschiedene Richtungen ausbreiten. Im Folgenden soll versucht werden, einige der Spuren, die Caspari gelegt hat, zu entwenden und in ihrer möglichen Bedeutung für das Theaterspiel zu entfalten.
Labyratoire
Der Begriff des Laboratoriums bzw. des Labors spielt in den Diskursen und Praxen der Pädagogik und des Theaters von Hartmut von Hentigs Gründung der Laborschule in Bielefeld 1974 bis zum Kunstlabore-Programm der Stiftung Mercator 2015 – 2019 (vgl. Heisig u.a.:2020) und von Jerzy Grotowskis Theaterlaboratorium, dem Theater der 13 Reihen, im polnischen Opole 1959 bis zu den heutigen Freien Theatergruppen, die den Begriff im Namen führen, eine wichtige Rolle. Für den Labyrinth-Begriff fehlt eine vergleichbare Karriere.
Der Labor-Begriff bezeichnet den Anspruch, dass alle Axiome, Materialien, Beziehungen und Funktionsweisen des jeweiligen Arbeitsbereiches grundsätzlich in Frage gestellt und untersucht werden. Es geht also um die erforschende und experimentelle Produktion von Wissen und veränderten Verfahren, die in die Konstruktion veränderter Praxen münden soll, die wiederum einer kritischen Revision und Weiterentwicklung unterzogen werden.
Das Labyrinth spielt hingegen eine bedeutsame Rolle in der Geschichte der bildenden Künste, der Musik und der Literatur (vgl. Henning 2016). Der Labyrinth-Begriff akzentuiert die Möglichkeit des Irrens, der (vergeblichen) Suche und der intensiven Begegnung mit sich selbst und unter Umständen mit den Gefährt*innen, wenn der Weg im Labyrinth von mehreren begangen wird. Es handelt sich mehr noch als im Fall des Laboratoriums beim Labyrinth um eine hermetisch abgeschlossene Welt:
„Und doch führen gerade diese Vereinsamung und dieses Verschwinden zu einer hochgradig gesteigerten und enorm fragilen Existenzform, die den Delirien und Exaltationen mystischen Erlebens offen steht, weil das labyrinthische Gefängnis zum einzig verbliebenen Gesichtskreis und somit auch zum Horizont der ganzen erfahrbaren Welt werden kann. Das Ich wird sich auf diese Weise monumental, es entfaltet losgelöste Visionen, weil jenseits sozialer Sphären das eigene Bewusstsein der einzige Fix- und Referenzpunkt bleiben muss, weil jede sinnliche Erfahrung und damit jeder Kontakt von Ich und Welt das Subjekt auf sich selbst und die Kraft seines Denkens, die Formen seiner Phantasie zurückwirft“ (Henning 2016:22f.).
Die Abgeschlossenheit im Probenraum, das Hinter-Sich-Lassen der Alltagswelt bildet in der Regel eine unabdingbare Voraussetzung für das theatrale Spiel. Mehr oder weniger ritualisierte Formen des Übergangs der spielenden Gruppe von der Alltagssphäre der Einzelnen in die Spielsphäre des Theaters gehören zu den Routinen der theaterpädagogischen Arbeit.
Stärker noch als der Labor-Begriff konnotiert der Begriff des Labyrinths Gefährdung und Risiko, weil der Ausgang im Wortsinn ungewiss bleibt und möglicherweise ein Ungeheuer, der Minotaurus, im Verborgenen lauert. Gleichzeitig ist das Labyrinth ein uneinsehbarer, geheimnisvoller und autarker Raum mit eigenen Regeln:
„Diese Exterritorialität labyrinthischer Räume begründet zugleich ihre paradigmatische Nähe zum Phantastischen. Das Labyrinth ist als Gegen-Ort in der Regel dem normalen Raum-Zeit-Kontinuum entzogen. Es entwirft ein eigenes physikalisches Bezugssystem mit schwer durchschaubaren Regeln und stellt damit einen nicht verzeichneten, oftmals atopischen Nullpunkt dar, der jenseits aller Orte und Dimensionen existiert“ (ebd:23).
Nach Umberto Eco weist die Morphologie des Labyrinths drei Grundtypen auf: Das klassisch-kretische Modell, das zentriert ist und nur einen Weg ermöglicht, der barock-manieristische Irrgarten, in dem es Sackgassen, Abwege und Irrwege gibt, und das Labyrinth vom Rhizom-Typ, in dem jeder Punkt eines wurzelartigen Geflechts miteinander verbunden werden kann (vgl. Eco 1999:104f.).
Marcel Cremer hat in seiner Arbeit mit dem Theater der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens AGORA diese labyrinthisch-rhizomatische Struktur des Theaters abgeschritten und in seinen Texten evoziert (vgl. Hoffmann 2020). In seinem Buch „Der unsichtbare Zuschauer“ beschreibt er die Genese seiner Theaterauffassung und die der Inszenierungen von AGORA aus einem Geflecht von Kindheitserinnerungen, den Erzählungen der Alten, Reiseerfahrungen und den gemeinsamen Theaterarbeiten der Gruppe. Eine Rolle spielt immer auch die poetische Eigenbewegung des Schreibens, die Biographisches auf eigentümliche Weise verdichtet und entfremdet. In Bezug auf den autobiographischen Ansatz entwirft er das Bild eines inneren Labyrinths:
„Wenn wir trainieren oder probieren, steigen wir mit der Taschenlampe auf Entdeckungsreise in unsere innere Höhle. Der unsichtbare Zuschauer begleitet uns auf diesem Weg. Wir versuchen Geschichten in uns zu finden. Wir kratzen die Wände dieser Höhle ab und entdecken Wandmalereien. Manchmal sind sie mehrschichtig, hinter der ersten Farbschicht gibt es eine zweite oder dritte. Vieles ist verstaubt. Wenn ich eine Kammer ausgeleuchtet habe, stelle ich fest, dass eine Tür in die nächste führt, und so geht es immer weiter. Der Raum, den ich in mir habe, ist unermesslich und letztendlich unergründlich“ (Cremer 2006:14f.).
Wenngleich die beiden Raummetaphern Laboratorium und Labyrinth durchaus unterschiedliche und zum Teil sogar widersprüchliche Bedeutungen aufweisen, so wird doch deutlich, wo unter Umständen der Gewinn der von Caspari vorgenommenen Engführung der beiden Begriffe im Begriff Labyratoire liegen könnte. Verweist der Laborbegriff auf die auf Experimente gestützte Generierung von Wissen, Gegenständen und Praktiken, ein Verfahren, das mit wissenschaftlicher Genauigkeit durchgeführt werden kann und dessen Ergebnisse dokumentiert werden, so umreißt der Labyrinth-Begriff die prinzipiell unendliche Suchbewegung, das auf Permanenz gestellte Spiel der Einbildungskraft. Im Labyratoire verbinden sich also die Orientierung auf vermittelbare Ergebnisse, etwa im Rahmen einer Aufführung, mit der Betonung der Vorläufigkeit und Fragilität der gefundenen Lösungen.
Spiel
Caspari entwickelte die Idee des Labyratoires zunächst Anfang der 1960er Jahre im Zusammenhang seiner Mitarbeit an dem von seinem Freund Constant entwickelten urbanistischen Modell „New Babylon“. Im Kern dieser utopischen Konzeption stand die Idee einer neu entfesselten, kreativen und spielerischen Kultur, die auf der durch Mechanisierung und Digitalisierung möglich gewordenen Befreiung von der Erwerbsarbeit beruhen sollte. Es ging Constant und Caspari um
„eine Gesellschaft, die sich von der Fron der Arbeit freigemacht hat. Sie der Maschine, dem Roboter, dem Computer überantworten kann. Die sich ein neues, ein ludisches Niveau erschließen wird. (…) Es geht vor allem erst einmal darum, eine Metaphysik des Spiels oder vielmehr des Spielens neu zu erschließen“ (Caspari 1998:91).
Nach Casparis Auffassung ist ein wahrhaft spielerisches Verhalten nicht mit der Einhaltung statischer Regeln vereinbar, wie er sie an den vorherrschenden, fehlerhaften Spielformen moniert, die durch die Anpassung an die „Regulative der Arbeitszwänge“ (ebd.) korrumpiert seien. Formen einer authentischen ludischen Kultur vermutet Caspari in historischen nomadischen Kulturen. Ein Kennzeichen dieser von Regulativen entbundenen Spielformen sieht Caspari in der umfassenden Beteiligung aller:
„Wenn gespielt wurde, spielten alle. Bloße Zuschauer gab es nicht. Zuschauer waren allenfalls die Geister. Die Ahnen“ (ebd.:93).
Caspari wendet sich gegen eine Kultur, die das wahre Spiel verdrängt hat zugunsten einer “Hypertrophie des Sende-Empfangs-Prinzips“ (ebd.), die vor allem die Massenmedien prägt. Diese würden die Menschen zu bloßen Konsumenten von durch Regeln, Fixierungen und Rasterungen geprägten Erzeugnissen, die sie in einer durch Drohung, Besitz und Begrenzung erstarrten Existenz bestärken, die für ihn einem Todeszustand mehr entspricht als einer Lebensweise. Deshalb stellt er die radikale Alternative „spielen oder töten?“ an den Beginn seiner Ausführungen.
Die Ursprünge der dominanten a-ludischen Kultur sieht Caspari bereits in der griechischen Antike; die technischen Medien bilden für ihn lediglich den vorläufigen Endpunkt einer Kulturentwicklung, die die Spontaneität und Offenheit des Spiels verdrängt hat. Allerdings gibt es Gegenbewegungen. Für Caspari sind es vor allem Kinder und Künstler*innen, die er als verbündete „Labyristen“ sieht. Dabei sind die Kinder besonders gefährdet, denn sie
„werden sehr schnell in die bestimmende aludische Welt hineingedrillt, werden zu dem, wovor schon ein Spinoza gewarnt hat, wenn er sagt: es ist unmenschlich, den Menschen zum Automaten zu machen (ebd.:96).
Als ein Mitglied der imaginären „Labyristen-Gesellschaft“ nennt Caspari auch Antonin Artaud,
„der so weit ging in seinem wütenden Bestreben, sich eine ludische Kultur vorzustellen und die Beseitigung aller derzeitigen kulturellen Institutionen zu fordern – also Museen, Theater Universitäten, Bibliotheken undsoweiter. Um neu beginnen zu können“ (ebd.:99).
Der revoltierende Schreibgestus des „Entweder-Oder“ (ebd.:93) eint beide Autoren, für die die aktionistische Veränderung der gesellschaftlichen und kulturellen Verhältnisse eine Frage von Leben und Tod ist. Artaud betont in seinen Schriften unentwegt die Notwendigkeit der Findung einer neuen Theatersprache jenseits der gesprochenen Worte, die er im körperlichen Ausdruck, in den Haltungen, den Gebärden, der Musik, des Klanges, einer Sprache, die im Akt der Inszenierung entsteht und die er dem bestehenden Theater als „Poesie im Raum“ (Artaud 1996:45) entgegenstellt.
„Das zeitgenössische Theater ist dekadent, weil es das Gefühl verloren hat für das Ernste einerseits und das Lachen andrerseits. Weil es gebrochen hat mit der feierlichen Tiefe, mit der unmittelbaren, verderblichen Wirksamkeit und – um alles zu sagen – mit der Gefahr. Weil es außerdem den Sinn verloren hat für den echten Humor und für das körperliche und anarchische Dissoziationsvermögen des Lachens. Weil es gebrochen hat mit dem Geist krasser Anarchie, der aller Poesie zugrunde liegt“ (ebd.:44f.).
Artauds Plädoyer für eine „anarchische“ und „poetische“ Theaterkunst ist seit den 1960er Jahren neben dem Theater Brechts und den neuen Formen der Performancekunst eine weitere historische Inspirationsquelle für eine Entwicklung gewesen, die das szenische Experiment und vor allem die Improvisation in das Zentrum der Theaterarbeit gerückt hat und damit die Dominanz des literarischen Textes infrage gestellt hat (vgl. Fiebach 2015:378ff.). Diese Theaterkonzeption sieht die Schauspieler*innen zusammen mit der Spielleitung als die weitgehend autonomen Autor*innen der Inszenierung. Ihre Phantasie und ihre kollektive Kreativität im Zusammenspiel bilden das eigentliche Kraftzentrum des Theaters.
Bricolage/Bastelei
Das Konzept der Bricolage, der Bastelei, wie es Claude Levi-Strauss entwickelt hat, kann als Modell herangezogen werden, um zu zeigen, wie Elemente des Labyratoires und des Spiels in ihrer Verschränkung gedacht werden können. Levi-Strauss weist darauf hin, dass Restbestände des neolithischen magischen Denkens, einer ersten Form der Wissenschaft, sich auf technischem Gebiet in den Praktiken des Bastelns erhalten haben, die er folgendermaßen charakterisiert:
„Im ersten Sinn läßt sich das Verbum bricoler auf Billard und Ballspiel, auf Jagd und Reiten anwenden, aber immer, um eine nicht vorgezeichnete Bewegung zu betonen: die des Balles, der zurückspringt, des Hundes, der Umwege macht, des Pferdes, das von der geraden Bahn abweicht, um einem Hindernis aus dem Weg zu gehen. Heutzutage ist der Bastler jener Mensch, der mit seinen Händen werkelt und dabei Mittel verwendet, die im Vergleich zu denen des Fachmanns abwegig sind. Die Eigenart des mythischen Denkens besteht nun aber darin, sich mit Hilfe von Mitteln auszudrücken, deren Zusammensetzung merkwürdig ist und die, obwohl vielumfassend, begrenzt bleiben; dennoch muß er sich ihrer bedienen, an welches Problem es auch immer herangeht, denn es hat nicht anders zur Hand“ (Levi-Strauss 1973:29).
Die Theaterarbeit, wie sie hier entworfen wird, folgt der Logik der Bastelei insofern, dass auch sie von einem Nullpunkt ausgehend, ohne sich der besonderen systematischen und spezifischen Mittel und vorgefassten Konstruktionsplänen des „Fachmanns“ zu bedienen, in einen offenen, spielerischen Prozess einsteigt. Dieser Prozess wird als eine kontingente, suchende Bewegung mit beständigen Richtungswechseln und Erkundungsgängen beschrieben. Disparates Material wird in diesem Prozess von den Akteur*innen gefunden und produziert und in Beziehung zueinander gesetzt. Marcel Cremer hat diese Haltung radikal ausformuliert:
„Wenn ich eine Inszenierung beginne, habe ich nichts. Keinen Text und keine Musik und kein Bühnenbild und kein Thema und kein Konzept und keine Altersbegrenzung und keine pädagogische Zielsetzung und keine Gewerkschaft im Rücken oder Nacken und keinen theatertheoretischen Überbau und keine Vorbilder [...] Und ich weiß nicht, ob es episch wird oder poetisch oder dokumentarisch oder dialektisch oder tödlich oder derb oder heilig oder arm oder stumm, oder was weiß ich, ob es überhaupt Theater wird“ (Cremer 2006:28).
Es ist deutlich, dass die beschriebene Vorgehensweise in mehrfacher Weise mit den gegenwärtigen Rahmenbedingungen der Kulturellen Bildung nur schwer in Einklang zu bringen ist, die ja von Fördervoraussetzungen, Projektanträgen, Zielbestimmungen und komplexen Lehrsystematiken geprägt ist. Gleichwohl scheint sie mir zumindest als eine Art regulativer Idee oder Denkzettel von Bedeutung zu sein, in einem Umfeld, das gerade im Bereich des Theaters von Moden und einer übergroßen Bedeutung von Vorbildern geprägt zu sein scheint. Brecht spricht von der „Haltung des Nichtwissens“ (Brecht 2005:572) die für seine Spielleitung grundlegend ist und die er mit dem Bild eines kooperativen kindlichen Spielvorgangs in Verbindung bringt:
„Man hat nicht den Eindruck, er wolle mit den Schauspielern ‚etwas gestalten, was ihm vorschwebt‘; sie sind nicht seine Instrumente. Er sucht viel mehr mit ihnen zusammen die Geschichte zu finden, die das Stück erzählt, und verhilft jedem Schauspieler zu seiner Stärke. Seine Arbeit mit dem Schauspieler gleicht dem Bestreben eines Kindes, Zweiglein mit einer Gerte aus einem Tümpel am Ufer in den Fluß zu dirigieren, so daß sie ins Schwimmen kommen“ (ebd.).
Die besondere Wertschätzung, die Brecht dem gemeinsamen Finden und Erzählen von Vorgängen und Geschichten zumisst, zielt insbesondere auf das Sichtbar-machen aller Akteur*innen ab, die mit ihren jeweiligen Perspektiven die Inszenierung prägen. Die Begrenztheit des Materials liegt in der Begrenztheit des spielenden Kollektivs, das aber dennoch einen kompletten menschlichen Kosmos zu erschaffen vermag. Begrenzungen können sich natürlich auch, insbesondere in der Theaterarbeit mit Kindern und Jugendlichen, aus der Begrenztheit der materiellen Ressourcen, der Räume, der Ausstattung und weiterer Rahmenbedingungen ergeben. Gerade aus der Begrenztheit können sich jedoch auch Chancen für eine eigensinnige Poesie der Inszenierungen ergeben, analog zu dem von Levi-Strauss beschriebenen Phänomen:
„[...] das Poetische der Bastelei kommt auch und besonders daher, daß sie sich nicht darauf beschränkt etwas auszuführen; sie 'spricht' nicht nur mit den Dingen, wie wir schon gezeigt haben, sondern auch mittels der Dinge: indem sie durch die Auswahl, die sie zwischen begrenzten Möglichkeiten trifft, über den Charakter und das Leben ihres Urhebers Aussagen macht. Der Bastler legt, ohne sein Projekt jemals auszufüllen, immer etwas von sich hinein. [...] Die Eigenart des mythischen Denkens besteht, wie die der Bastelei auf praktischem Gebiet, strukturierte Gesamtheiten zu erarbeiten, nicht unmittelbar mit Hilfe anderer strukturierter Gesamtheiten, sondern durch die Verwendung der Überreste von Ereignissen: 'odds and ends', würde das Englische sagen, Abfälle und Bruchstücke, fossile Zeugen der Geschichte eines Individuums oder einer Gesellschaft“ (Levi-Strauss 1973:35).
Für eine eigensinnige Theaterarbeit
Es wurde versucht zu zeigen, wie die Fundierung des Theaters auf das Spiel im Zusammenhang mit der Dringlichkeit und Ergebnisoffenheit des Labyratoires den Rahmen bilden kann für eine von ideologischen Vorgaben und Zuschreibungen geschützte Theaterarbeit, die ihre Stoffe, Geschichten und Materialien in einem kollektiven Spielprozess aus sich heraus gewinnt.
Die im Rahmen (und im geschützten Raum) der Probe entwickelten Fragen, Probleme und (vorläufig) entwickelten Lösungen stellen den Status Quo sowohl des Theaters als auch der gesellschaftlichen Verhältnisse immer wieder von Neuem infrage und entwickeln einen spezifischen Eigensinn. Dabei ist es unerheblich, ob sich das Spiel in der Auseinandersetzung mit vorgegebenen Texten, möglicherweise mit klassischen Vorlagen, Geschichten und Figuren entwickelt oder ob es um eine stärker performativ ausgerichtete Stückerarbeitung handelt, die ohne einen literarischen Bezugspunkt auskommt.
In letzter Zeit sind allerdings im Theaterbereich und auch im Teilbereich der Theaterpädagogik Tendenzen zu konstatieren, die die zentrale Bedeutung des Spiels konterkarieren (vgl. Raddatz 2016). Wolfgang Engler sieht
„[...] eine Spielfeindschaft inmitten des Theaterdiskurses. Es war lange Konsens, daß das Spiel Inbegriff der Freiheit ist. Das beginnt beim Kinderspiel, wenn die kindliche Phantasie zu repräsentieren lernt und einen Gegenstand für einen anderen nimmt, oder das Kind probeweise schon mal ein anderer ist und sich eine Welt erobert, ohne sie ganz ausfüllen zu können. Wenn man das mit Kategorien wie Verstellung, Unaufrichtigkeit, Lüge fundamental in Zweifel zieht und Menschen, die spielen, das Recht abspricht, das zu tun, solange sie nicht beglaubigen können, daß sie die gesamte Erfahrung einer vorgestellten Realität in ihrer Lebensgeschichte verkörpern, dann ist das eben das Ende des Spiels“ (Engler und Raddatz 2016:68).
Dieser Affekt gegen das Spiel geht einher mit der jüngsten Konjunktur eines Performativitäts- bzw. Authentizitätsdispositivs, das das Konzept des Spielens mit Geschichten und Figuren ablehnt. Der Einwand wird beispielsweise von Mayte Zimmermann gegen das sogenannte „Literaturtheater“ (Zimmermann 2020:41) vorgebracht, das – insofern damit das berüchtigte ‚Spielen-vom-Blatt‘ gemeint ist, sicher ein leichter Gegner ist – trifft aber im Grunde jede Form der mimetischen Verwandlung in das Andere oder Fremde. Die Behauptung Zimmermanns, dass der Bildungsgedanke des traditionellen Theaters allein auf die Zuschauer abziele (vgl. ebd.) kann leicht mit dem Hinweis darauf widerlegt werden, dass das Theater bereits seit Ekhofs und Goethes Zeiten, erst recht seit Stanislawski, Meyerhold und Wachtangow ein umfassendes Bildungsprogramm umfasste, das sich in erster Linie an die Schauspieler*innen richtete.
Weiter argumentiert Zimmermann dafür,
„Schüler*innen nicht als Schauspieler*innen, sondern als Performer*innen zu adressieren, impliziert eine didaktische Hinwendung auf den Umstand, dass sie alle im Vorführen, Präsentieren oder Zeigen zugleich konkrete Handlungen ausführen und lädt dazu ein, den Fokus von der 'gelungenen' Präsentation einer referentiellen Situation hin zur Sinnlichkeit szenischer Praxis als einem Tun zu verschieben“ (ebd.:45).
Mit diesem reduktionistischen Argument werden aber gerade die für den theatralen Bildungsprozess zentralen Antinomien zwischen Repräsentation und Präsenz, Figur und Spieler*in, Spiel und Nicht-Spiel, Sinn und Sinnlichkeit ausgehebelt und preisgegeben. Mit Wolfgang Engler ist dagegen an der Freiheit des mimetischen Spiels festzuhalten:
„Der Affekt gegen das Träumen, das Fabulieren, das Phantasieren, gegen das was Plessner so treffend die ‚Irrealisierung der Person‘ nennt, bedroht die Substanz menschlicher Freiheit. Es ist das A und O des Menschseins, daß ich ein anderer meiner selbst sein kann und in dieser Abständigkeit Freiheit gewinne, indem ich mich selbst zum Material meines Ausdrucks bestimme und einen Prozeß der Verwandlung durchlaufe“ (Engler und Raddatz 2016:68).