Mit Kunst Menschen (beiläufig) bewegen! Partizipative Kunstprojekte in öffentlichen Räumen

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von Siglinde Lang

Erscheinungsjahr: 2023/2022

Peer Reviewed

Abstract

Wenn Kunstschaffende öffentliche Räume für partizipative Kunstprojekte nutzen, intendieren sie, in unmittelbaren Austausch mit den Menschen vor Ort zu gehen. Als Ort künstlerischer Interventionen eröffnet der öffentliche Raum nicht nur Dialog, sondern bietet auch stets einen ästhetischen Erfahrungsraum an. Mit Bezug auf gesellschaftsrelevante Themen ermöglicht dieser neuartige Blickwinkel, differenzierte Wahrnehmungsstrukturen und alternative Handlungsmuster: etwa dann, wenn die Schauspielerin Dorit Ehlers gemeinsam mit einer Gruppe von Schülerinnen eine textpoetische grenzüberschreitende Intervention kreiert und derart stereotype Aussagen zu Migration, Flucht und Asylrecht aufzubrechen intendiert (Grenzpoesie, Salzburg 2017); oder wenn der Pädagoge und Fotograf Daniel Dancer mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen gigantische Sky-Art-Bilder gestaltet, die ein sichtbares Zeichen gegen die Klimakrise darstellen (Art for the Sky, USA/weltweit seit 2007); oder auch, wenn die beiden Künstlerinnen Ellen Nonnenbacher und Eva Randelzhofer die lokale Bevölkerung einladen, mit Pflanzkübeln und Saatgut der städtischen Bebauung und Versiegelung entgegenzutreten (Wildwuchs &Ordnung, Berlin 2017). Anhand dieser drei Referenzprojekte soll exemplarisch verdeutlicht werden, wie mit partizipativer Kunst eine öffentlich zugängliche Begegnungszone für Austausch und für ästhetisch-bedingte Erfahrungen hergestellt werden kann, die den Nährboden kultureller Bildungsprozesse markiert.

Theatersäle, Konzerthäuser, Museen und Galerien tragen als öffentliche Kunsträume die Verantwortung, ihrem Publikum Zugang zu Kunst zu ermöglichen, eine Auseinandersetzung mit künstlerischen Arbeiten, Verfahrensweisen und Prozessen anzuregen, und diese vermittelnd zu begleiten. Im Idealfall ist für den Besucher und die Besucherin dieses Einlassen auf Kunst mit einem Erstaunt-Sein, mit neuen Impulsen und Reflexionen bisheriger Sichtweisen und Haltungen verbunden. Durch den Eintritt in einen institutionalisierten Kunstraum werden diese ästhetisch bedingten Prozesse und (Selbst-)Erfahrungen, die wesentliche Momente kultureller Bildungsprozesse darstellen, zumeist bewusst angestrebt. Doch kann kulturelle Bildung auch „beiläufig“ stattfinden? Können auch Räume, die nicht per se als Ort für Kunst definiert sind, zu Begegnungszonen mit ästhetischen und für ästhetische Erfahrungen mutieren?

Seit und mit den 1960er und 1970er Jahren haben Kunstrichtungen wie Land Art, (New Genre) Public Art oder Street Art den öffentlichen Raum zu Kunstflächen deklariert. Waren in den Anfängen eher noch statische Kunstobjekte wie Skulpturen vorherrschend, haben sich Kunstschaffende den öffentlichen Raum zunehmend, vor allem seit den 1990er Jahren, für kritische künstlerische Interventionen angeeignet, als Schnittstelle von Kunst und (Alltags)Leben oder auch als ästhetische Reibungsflächen für gesellschaftliche Thematiken und Herausforderungen (vgl. Lippard 1997:19ff, Kwon 2002:60ff, Lewitzky 2005:95ff). Diese Kunstprojekte abseits institutionalisierter Kunsträume suchen und intendieren den direkten Dialog mit der Bevölkerung, mit Passant*innen, mit spezifischen Communities, mit den Menschen in all ihrer Vielfalt.

Der öffentliche Raum als (Ver-)Handlungszone: Grenzpoesie (Dorit Ehlers, Österreich)

Im Rahmen der Projektreihe 7hoch2 – Festival für zivile Auftragskunst war die regionale Bevölkerung eingeladen, Fotos von Alltagsorten im Stadtraum Salzburg einzureichen, die nach einer Veränderung verlangen. Mit dieser Einreichung war der Auftrag an eine*n Kunstschaffende*n verbunden, die gewünschte Transformation als künstlerische Intervention vor Ort sichtbar und erfahrbar machen.

Die Bürgerin Veronika hat ein Foto von dem Grenzübergang nach Freilassing in Deutschland eingereicht, mit dem Verweis, dass dieser „geschichtsträchtige Ort im positiven als auch im negativen Sinn Stoff für allerlei Diskurse bietet“ (Lang/Chatterjee 2018:100). Denn die stark befahrene Brücke über den Grenzfluss Salzach war 2015 im Zuge der Migrationsbewegungen nicht nur Sammelstelle, sondern oft auch Übernachtungsort für zumeist aus Syrien geflohene Asylsuchende. Erstmals seit In-Kraft-Treten des Schengen-Abkommens wurde (deswegen) ein Grenzkontrollpunkt errichtet beziehungsweise dieser nach über 20 Jahren freiem Personenverkehr reaktiviert.

Mit Grenzpoesie hat die Schauspielerin Dorit Ehlers den Wunsch nach „allerlei Diskurse(n)“ poetisch und assoziativ eingefangen und als theatrale Momente erprobt. Als Auftakt für das Projekt, das in Zusammenarbeit mit Schülern und Schülerinnen einer gymnasialen Oberstufe konzipiert und realisiert wurde, rückte der Grenzübergang fiktiv - als eine schlichte rote Linie an einem gut frequentierten Gehweg - ins Salzburger Stadtzentrum: Passant*innen wurden mit dem Hinweis „Achtung, Sie überschreiten eine Grenze“ (ebd.:102) auf diese aufmerksam gemacht und mit Fragen nach ihrer Meinung zu Grenzen in ein kurzes Gespräch verwickelt. Diese Statements wurden seitens der Schüler*innen notiert.

In einem mehrtägigen Workshop wurden die gesammelten Aussagen dann in einzelne Wörter zerlegt und als Stegreifpoesie neu zusammengesetzt. Die Wirkung alternativer Wortkreationen wurde performativ erprobt. Anschließend wurden die entstanden „Grenzpoesien“ in einer gemeinsamen Wanderung mit Texttafeln, an der auch die Salzburger Öffentlichkeit teilnehmen konnte, zum realen Grenzübergang gebracht. In einer finalen Performance vor Ort wurden die teils witzigen, dabei stets kritischen Wortkreationen sicht- und hörbar gemacht.

Intention dieser partizipativen und öffentlichen Intervention war, (zuweilen) stereotype Aussagen über Menschen, die sich auf der Flucht oder im Asyl befinden, in den abstrakteren Themenkomplex von „Grenze“ zu transferieren. Mittels der inszenierten und spielerischen Neuzusammensetzung wurden alternative und im öffentlichen Diskurs kaum abgebildete Aspekte – etwa „Ohne I Pass I farblos“ (vgl. ebd.:103) – dem gängigen, zumindest im Projekt eingeholten, Meinungsbild entgegengestellt. Der Wanderung schlossen sich interessierte Bürger und Bürgerinnen an, die Performance ließ vorbeifahrende Radfahrer*innen und Autofahrer*innen einen Halt einlegen, und wurde von Anrainer*innen und Passant*innen neugierig beäugt. So hat die Aktion vor Ort erneut zu Gesprächen, zu Diskussionen und Meinungsaustausch geführt. Spielerisch und im Kontext von Kunst angesiedelt konnten Salzburger und Salzburgerinnen an dem Projekt teilhaben: Ob über ein konkretes Mitgestalten der Schüler*innen und ein Mitwandern eher aktiv, oder über ein Stehenbleiben und Zuschauen eher passiv, waren alle Beteiligten eingeladen, sich auf differenzierte Blickwinkel einzulassen, die eigene Sichtweise, Meinung oder Haltung zu artikulieren -  und diese im Austausch in der Gruppe oder mit anderen Beteiligten zu reflektieren und zu diskutieren.

Bei „Grenzpoesie“ wurde der öffentliche Raum somit zu einem Raum, der durch eine künstlerisch-kreative Praxis eine diskursive Öffentlichkeit herstellt: Denn wenn Öffentlichkeit als gemeinsamer (Ver-)Handlungsraum verstanden wird, der sich über die Merkmale „unauflösbare Pluralität, Selbstreferentialität und Fragmentierung“ (Kaelin/Telser/Hoppe 2021:14) charakterisieren lässt, dann verweist „Grenzpoesie“ auf exakt diese Eigenschaften und auch Qualitäten. Mit den Mitteln und Möglichkeiten von Kunst, konkret: von Performance und theatralem Sprachspiel, wurde ein zuweilen pauschalisiertes, oft auch kaum hinterfragtes, Meinungsbild inszeniert. Am Grenzübergang als konkretem Ort und (Selbst)Referenzstätte wurden alternative Sichtweisen – über die Tafeln durchaus fragmentarisch - in einen primär homogenen, auch medial oft einseitig geführten Diskurs eingebracht. Performativ wurden die gewohnten Wahrnehmungen auf den Grenzübergang als Symbol für die sogenannte „Flüchtlingsthematik“ aufgebrochen.

Kunst als (spürbarer) Impuls für einen Perspektivenwechsel: Art for the Sky (Daniel Dancer, USA)

Die Kraft des (gemalten) Bildes macht sich der US-Amerikaner und ausgebildete Pädagoge Daniel Dancer zunutze. Mit der Intention, gesellschaftliches Bewusstsein für die Folgen des Klimawandels zu schaffen, hat er in Aneignung fotografischer und performativer Praxen ein Format entwickelt, das junge Menschen als Teil, als zentralen Baustein einer künstlerisch-kreativen Aktion in öffentlichen und halböffentlichen Räumen begreift.

Mit Art for the Sky (Dancer o.J.: online) schafft Dancer seit 2007 gigantische Menschenbilder in (weitläufigen) Schulhöfen, auf Fußballplätzen oder großzügigen Park- und Freiflächen. In Zusammenarbeit mit Schulen, Vereinen und Institutionen lädt er ein, an der Gestaltung eines überdimensionalen Mosaikbildes teilzuhaben. Die Mindestanzahl an teilnehmenden Personen ist stets 350, da bereits dieser Zahlenwert auf den Kontext seiner Kunstwerke verweist: Denn ein Wert über 350 ccm gibt an, dass der maximal verträgliche Kohlenmonoxidgehalt in der Luft beziehungsweise in der Erdatmosphäre überschritten und folglich umweltschädigend ist. Parallel möchte Dancer mit dieser in seinen Werken auch visuell vorkommenden Zahl auf die Klimabewegung „350.org“ (Dancer o. J.:online) aufmerksam machen.

In Dancers Aktionen, die insgesamt drei Tage andauern, wird den Teilnehmenden einführend die Idee und Intention seiner Arbeiten erläutert. Workshopeinheiten am ersten Tag vermitteln die Bedeutung des Himmels und die damit assoziierten Relationen des Subjekts zum Universum, ökologische und nachhaltige Aspekte als auch die historische Entwicklung des Kunstgenres Land/Sky Art.  Ebenso wird die logistische Abwicklung der Kreation und Dokumentation des (Menschen)Bildes abgesprochen. Am Aktionstag nehmen die Partizipant*innen eine ihnen vorab zugeordnete knieende Position ein, wobei jeder Körper erst in der konkreten Aufstellung als Gruppe zu einem Pixel des entstehenden Bildes wird. Da dieses Gesamtbild jedoch nur aus der Vogelperspektive zu sehen ist, wird ein Team rund um Dancer per Kran in die Höhe gehievt, um das Ergebnis fotografisch und filmisch zu dokumentieren. Am Abschlusstag werden Video und Fotos der Gruppe präsentiert und übergeben (vgl. ebd.).

Die Sujets der von und mit Menschen geschaffenen Bilder sind fast ausschließlich Tierfiguren und machen die ökologischen Folgen der Klimakrise sichtbar: Der vom Aussterben bedrohte Pandabär als Verweis auf den Verlust der Artenvielfalt oder der Plastik fressende Wal als (Warn-)Zeichen für die Vermüllung der Ozeane. Das wohl bekannteste Werk ist „Climate Elefant“, das 2010 in Delhi, in Indien, entstanden und als Symbolfigur für das (gigantische) Ausmaß der vom Menschen verursachten Klimaschädigung zu interpretieren ist (vgl. ebd.).

In seinen Arbeiten lädt Daniel Dancer zu einer ästhetischen Erfahrung ein, die in der körperlichen Partizipation an einer Kunstaktion verankert ist (vgl. Lang 2015:115ff). Denn das Stillhalten in der oft über einen längeren Zeitraum einzunehmenden Position ist eine körperliche Erfahrung, die zwar phasenweise als unangenehm wahrgenommen werden kann, im Kontext des Kunstprojektes jedoch als „leibliche Ko-Präsenz“ (Fischer-Lichte 2012:54) verstanden werden kann: Die physische Beteiligung ruft wahrnehmende Reaktionen des intensiven Hörens, Sehens und Spürens – sowohl von sich selbst als auch  von anderen Beteiligten - hervor, die oft „als rein >>innere<<, das heißt imaginative und kognitive Prozesse ablaufen“ (ebd.). In dieser empathischen Atmosphäre (vgl. ebd.:60) entsteht ein immersiver Reflexionsraum, der Fragen aufwirft – zum Projekt selbst, zu den eigenen Selbst- und Fremdwahrnehmungen, zur (ästhetischen) Erfahrung, die gerade durchlaufen wird.

Diese Erfahrung ist sowohl auf einer selbstreferentiellen als auch kollektiven Ebene zu verorten: Da der und die einzelne erst in der Positionierung mit anderen Personen zu einem einheitlichen Ganzen, vielmehr zum Mosaik eines Gesamtbildes wird, erlebt sich das Subjekt als Teil einer temporären kollektiven Identität. Die jedem Projekt implizite Aufforderung, Sichtweisen auf die Klimaschädigung und das menschliche Verhalten zu reflektieren und zu ändern, wird direkt über das erforderliche Einnehmen einer Vogelperspektive abgebildet. Denn ohne diesen Perspektivenwechsel wäre das Kunstwerk nicht zu betrachten und könnte auch nicht sichtbar (gemacht) werden. Dieser für die Entstehung des Bildes unabdingbarer Prozess verweist auf die Bedeutung und den Beitrag des Einzelnen ebenso wie auf die Notwendigkeit, dass der Klimawandel nur durch gemeinsames Handeln bewältigt werden kann.

Zum Aktiv-Werden einladen: Wildwuchs & Ordnung (Ellen Nonnenmacher/Eva Randelzhofer, Deutschland)

Berlin erlebt seit Jahren einen Bauboom. Immer mehr Menschen ziehen in die deutsche Hauptstadt und benötigen Wohnraum. Grünflächen werden zu Bauland umgewidmet, Parks werden randbebaut, und ehemaliges Brachland verschwindet unter dem Beton der zahlreichen Neubauten. Stadtteile und sogenannte „Kieze“ verändern sich. Diese (großflächigen) Bebauungen haben einhergehend Auswirkungen auf die Alltagsroutinen der lokal - oft seit Jahrzehnten - ansässigen Bevölkerung: Kleine Naturräume, die bis dato Erholung im Alltag geboten haben, werden versiegelt, ehemals übers Brachland führende Gehwege gibt es nicht mehr und Mini-Biotope von Wildwuchs und Grünpflanzen werden zugepflastert.

Dass städtebauliche Maßnahmen in diese Mikrostrukturen und Lebensgewohnheiten der lokalen Bevölkerung eingreifen, war Referenzrahmen der Kunstaktion Wildwuchs & Ordnung. Im Rahmen der von der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst (NGbK) kuratierten langjährigen Projektreihe „Mitte in der Pampa“ initiierten die beiden Künstlerinnen Ellen Nonnenmacher und Eva Randelzhofer einen Beteiligungsprozess, der „Fragen im Stadtraum zu Eigentum, Ermächtigung und zum Umgang mit Natur“ (NGbK o.J.: online) aufgeworfen und konkret zum Handeln eingeladen hat: Ein leerstehender Pavillon in Berlin Hellersdorf wurde zu einer öffentlichen „Produktionsstätte individueller »Pflanzkübel To Go«“ (ebd.) umgewandelt. Die Nachbarschaft und lokale Bevölkerung wurde per Aussendung und direkter Ansprache eingeladen, textile Taschen und Kübel mit Samen gefüllt an von ihnen ausgewählten Stellen auszusäen. In Ritzen, auf Mauervorsprüngen und kleinen Bauminseln wurden Samen gestreut, an Baustellenzäunen, Bushaltestellen und U-Bahneingängen wurden Taschen mit Pflanzwuchs aufgestellt oder aufgehängt. Überall dort, wo „Natur durch Neubauprojekte zerstört wurde“ (ebd.) sollte ein sichtbares Zeichen der Rückeroberung durch „Wildwuchs“ gesetzt werden.

Mit der Kunstaktion fand „kollektive Stadtgestaltung von unten“ (ebd.) statt, die in direkter Ansprache den konkret von Bebauung betroffenen Anrainer*innen einen Raum eröffnete, der Gesprächsprozesse über die im Kiez stattgefundenen Veränderungen, über damit einhergehenden Sorgen und Ärgernisse sowie über Machtverhältnisse im öffentlichen Raum evozierte. Selbstermächtigende Handlungsoptionen wurden aufgezeigt, indem zu einem Aktiv-Werden eingeladen wurde, das sich unkompliziert umsetzen ließ – Tasche mitnehmen und aufhängen, Samentüte einstecken und ausstreuen.

Als Kunstaktion ausgewiesen, wurden somit widerständige Praxen vermittelt, zu denen die Bevölkerung leicht und unmittelbar Zugang bekommen konnte. Zusätzlich waren diese positiv konnotiert: Denn das Ausstreuen von Saatgut impliziert, dass über den eigenen Beitrag, das eigene Tun etwas Erfreuliches - nämlich Blumen, Pflanzen und Naturraum - (wieder) entstehen und wildwachsen können. Auf diese Weise war die Einladung, sich öffentlich der bestehenden „Ordnung“ und den urbanen Machtbestimmungen zu widersetzen und in diese zu intervenieren, mit einer positiven Bedeutung versehen. Ergänzend hat der Kontext „Kunst“ wohl generell dazu beigetragen, dass Barrieren - etwa die mögliche Sorge, dass ein Mit-Machen ein illegales Agieren bedeuten könnte, - aufgehoben werden konnten.

Mit Partizipation kulturelle Teilhabe ermöglichen, mit Kunst ästhetische Erfahrungsprozesse initiieren

Alle drei Referenzprojekte verdeutlichen exemplarisch, wie über ein aktives Zugehen auf Menschen – ob Passant*innen vor Ort, Schulgemeinschaften oder die lokale Bewohnerschaft – Zugang zu einer Teilhabe an Kunst hergestellt wird. Gesellschaftlich virulente Topoi – Migrationsbewegung, Klimakrise und Bodenversiegelung – werden von den Kunstschaffenden aufgegriffen und topografisch unmittelbar mit dem Umfeld vor Ort verbunden. An die regionale Grenzsituation nach Deutschland beziehungsweise die aktuelle Bebauung entlang der U5 in Berlin Hellersdorf angebunden oder formal den lokalen Park oder das jeweilige Schulgelände als Bildfläche deklarierend, konkretisiert sich die jeweils aufgegriffene Thematik in und über die (auch räumliche) Anbindung an die Lebenswelten der adressierten, zu einer Teilhabe eingeladenen, Personen.

Diese Anbindung an die Lebenswelten öffnet die Menschen mit dem über und in der Kunstaktion thematisierten Anliegen, sodass diese sich verbunden und konkret betroffen fühlen (können). Diese Betroffenheit ist Voraussetzung, um sich auf einen Dialog mit den Kunstschaffenden, auf das künstlerische Projekt und auf eine Teilnahme an diesem einzulassen. Dieses Einlassen auf Kunst zu ermöglichen, bedeutet kulturelle Teilhabe zu ermöglichen: Denn kulturelle Teilhabe umfasst (auch), dass sich so viele Menschen wie möglich an symbolischen Ausdrucksformen, an kulturellen und künstlerischen Formaten, Praxen und Prozessen beteiligen - und diese erproben und erfahren können (vgl. Lang 2021: online). Speziell in öffentlichen Räumen kann diese kulturelle Teilhabe niedrigschwellig, zuweilen beiläufig und spontan, stattfinden und richtet sich zumeist an Menschen, die sonst kaum mit Kunst in Berührung kommen. Im Sinne einer „Nicht-Besucherforschung“ (Renz 2015) werden somit jene Personen adressiert, die (eher) jenen 85% der Bevölkerung zuzuordnen sind, die kaum oder reduziert staatlich geförderte Kunstangebote besuchen. Kulturelle Teilhabe ist jedoch primäre Voraussetzung, damit kulturelle Bildungsprozesse (überhaupt) stattfinden und Räume ästhetischer Erfahrungsprozesse betreten werden (können).

Kunst lädt ihr Publikum, ob Rezipent*innen oder Co-Akteur*innen eines kreativen Prozesses, ein, diesen ästhetischen Erfahrungsraum, diesen „Raum zwischen Fakt und Fiktion“ (Lang 2019:297) zu betreten. Zwar greift Kunst gesellschaftliche Phänomene und lebensweltliche Bezüge auf, aber Kunst bildet diese nicht eins zu eins ab, sondern nimmt sich aus diesem Weltbezug wieder heraus, distanziert sich von diesem. Mittels dieser Distanz, die als verdichtete, verfremdete, abstrahierte, fragmentarische, auch subversive Auseinandersetzung mit Phänomenen und Konstruktionen von Wirklichkeit evident wird, generiert Kunst somit einen Raum zwischen dem Realen und dem Imaginären, zwischen dem was ist, und dem, was (auch) möglich sein könnte.

Diese von der Kunst generierten Erfahrungsräume sind durch ihre temporale Begrenztheit, durch eine „Diskontinuitätserfahrung“ geprägt. Ob aktiv als Stegreifpoetin und Kübelträgerin oder eher passiv als Mosaikstein eines Sky-Art-Bildes, ist der jeweilige co-kreative Handlungsakt in exakt dieser Zwischenwelt verankert.  Diese wird für den Zeitraum, in dem sich die Partizipant*innen auf diesen Raum und die Kunst – physisch als auch metaphysisch – einlassen, zu einer Art Parallelwelt, die eine „eigene Wirklichkeit für diese Zeitspanne“ (Warning 2009: 11) bedeutet. kann. In dieser kann sich eine Raumatmosphäre entfalten, die von der Intensität des Gegenwärtigen und einem Bruch mit dem Gewohnten und Alltäglichen (vgl. Lang 2023:100) geprägt ist. Denn in dem inszenierten Setting erleben sich (auch) die Partizipant*innen in Distanz zu sich selbst, erfahren sich temporär in einem (Rollen-)Verhalten, das abseits konventioneller Handlungsmuster verortet ist. Teilnehmende werden zu jenem „ästhetischen Raumerleben“ eingeladen, das „nicht einfach in den Formen der rationalen Welterschließung aufgeht“ (Warning 2009:13), sondern durch die Erkundung eines „Moments des Unbestimmten“ (Bertram 2014:176) markiert ist. Denn im Erproben poetischer Wortkreationen und der performativen Wanderung zur Grenze, im sitzenden oder knieenden Stillstand und Sich-Selbst-als-Pixel-Wahrnehmen, im Ausstreuen von Saatgut und Ausloten von passenden Orten für Pflanzkübel, wird Raum für gedankliche Ab- und Ausschweifungen, für Überlegungen zum künstlerischen und gesellschaftlichen Anliegen des Projektes, für Reflexion der eigenen Sichtweisen, Haltungen und Handlungsweisen eröffnet.

Deswegen wird Kunst (auch) als kritisches Selbstbeobachtungs- und Reflexionsorgan unserer Gesellschaft angesehen (vgl. Fuchs 2011:33f). Diese für eine demokratische, postmoderne und diverse Gesellschaft so wesentliche Aufgabe und Funktion von Kunst, erreicht als Kunst in öffentlichen Räumen Menschen, die sonst kaum mit Kunst in Berührung kommen. Öffentlich zugängliche Kunstprojekte mit partizipativen Strukturen eröffnen für jene, die sich in Folge aktiv auf eine Beteiligung einlassen, fast beiläufig einen Raum für ästhetische Erfahrungsprozesse: Die Menschen werden „bewegt“, sich mit sich selbst, mit ihrem Bezug zur (Umwelt), mit ihren Mitmenschen, mit ihren Sorgen und Alltagsroutinen, aber auch mit (alternativen) Möglichkeiten, das eigene Leben zu gestalten, auseinanderzusetzen – Momente, die als Nährboden für kulturelle Bildungsprozesse angesehen werden können!

Verwendete Literatur

  • Bertram, Georg W. (2014):  Kunst als menschliche Praxis. Eine Ästhetik. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
  • Dancer, Daniel (o.J.): Art for the Sky - Website. Online: https://www.artforthesky.com/ (letzter Zugriff 10.07.2022).
  • Fischer Lichte, Erika (2004): Performativität. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
  • Fuchs, Max (2011): Kunst als kulturelle Praxis. Kunsttheorie und Ästhetik für Kulturpolitik und Bildung. München: koepad.
  • Kaelin, Lukas/Telser, Andreas/Hoppe, Illaria (2021): Einleitung. In: Dies. (Hrsg.). Bubbles & Bodies. Neue Öffentlichkeiten zwischen sozialen Medien und Straßenprotesten. Bielefeld: transcript.
  • Kwon, Miwon (2002): One place after another: site specific art and locational identity. London: MIT Press.
  • Lang, Siglinde (2015): Partizipatives Kulturmanagement. Interdisziplinäre Verhandlungen zwischen Kunst, Kultur und Öffentlichkeit. Bielefeld: transcript.
  • Lang, Siglinde (2021): Wege zur Teilhabe. In: Kulturplattform OÖ (Hg.): Partizipation (KUPF 179/2021). Online: https://kupf.at/zeitung/179/wege/ (letzter Zugriff 28.7.2022).
  • Lang, Siglinde (2023): Was kann Kunst (anders)? Eine mögliche Antwort aus rezeptionsästhetischer Perspektive. In: Bogaczyk-Vormayr, Malgorzata/Kapferer, Elisabeth: Befremdung und Begegnung. Erfahrungen des Anderen und die Künste (93-101)(3. Band der Reihe „Kunst und Inklusion“). Salzburg: ProLit.
  • Lang, Siglinde/Chatterjee, Sandra (2018): 7hoch2. Festival für zivile Auftragskunst. Salzburg.
  • Lewitzky, Uwe (2005): Kunst für alle? Kunst im öffentlichen Raum zwischen Partizipation, Intervention und Neuer Urbanität. Bielefeld: transcript.
  • Lippard, Luzy (1997): Mapping the Terrain. New Genre Public Art. Seattle: Bay Press.
  • Neue Gesellschaft für Bildende Kunst (2016/17): Mitte in der Pampa. Online: https://archiv.ngbk.de/projekte/kunst-im-untergrund-201617-mitte-der-pampa/ (letzter Zugriff 10.07.2022).
  • Warning, Rainer (2009): Heterotopien als Räume ästhetischer Erfahrung. München: Fink.

Anmerkungen

Dieser Beitrag erschien Ende 2022 in der von Birgit Mandel herausgegebenen Publikation: Künstlerische Interventionen in der Kulturellen Bildung. Inhalte, Methoden und Reflexionen eines Curriculums für Künstler:innen. Dieser Sammelband bildete den Abschluss des von Mandel entwickelten Pilotkurs „Künstlerische Interventionen in der Kulturellen Bildung“. Weitere Informationen hierzu bietet der auf kubi-online veröffentlichte Artikel: Birgit Mandel (2022): Künstlerische Interventionen – Potentiale für die Kulturelle Bildung. 

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Siglinde Lang (2023/2022): Mit Kunst Menschen (beiläufig) bewegen! Partizipative Kunstprojekte in öffentlichen Räumen. In: KULTURELLE BILDUNG ONLINE: https://www.kubi-online.de/index.php/artikel/kunst-menschen-beilaeufig-bewegen-partizipative-kunstprojekte-oeffentlichen-raeumen (letzter Zugriff am 16.07.2024).

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