Mit der Kunst im Leben wachsen – Von der ästhetischen Arbeit im Draußen-Sein
Abstract
Wie wird aus der Verbindung von Kunst und Natur ein zukunftsorientiertes und zudem alltagstaugliches Bildungskonzept? Der Artikel reflektiert hierzu das Lernformat des „Lebenspraktischen Tags“ in einer altersgemischten Ganztagesklasse einer Montessori Schule. Ein Praxisimpuls, welcher konzeptionell übertrag- und modifizierbar ist für unterschiedliche Schularten und deren Rahmenbedingungen. Die Autorin, hierfür als Künstlerin und Projektpartnerin der Schule tätig, stellt ihre Vermittlungsüberlegungen, Umsetzungspraxen und Fragen zum professionellen Selbstverständnis zur Diskussion. Sie zeigt auf, wie durch den Einsatz von Kunst und Natur Bildungsprozesse ganzheitlich gelebt werden können. Seit inzwischen acht Jahren wird dieses von Karin Bergdolt entwickelte Praxis-Format an der Schule angewandt oder besser gesagt: mit Leben gefüllt. Das Lernumfeld Natur und der dazugehörige gesellschaftliche Raum ersetzen dabei jeden Freitag für fünf Stunden das Klassenzimmer. Tiefgehende Bindungsprozesse zwischen Natur und Mensch werden initiiert. Künstlerisches Denken und Handeln und die entsprechenden methodischen Wege ermöglichen nicht nur eine große Diversität in den Lernerfahrungen, sondern begleiten und unterstützen den Wissenstransfer nachhaltig. Ein altersgerechtes soziales Lernen gehört zwangsläufig zum aktiven Lernprozess dieser handlungsorientierten Pädagogik und ästhetisch-künstlerischen Bildung in, mit und an der Natur dazu.
„Von den Engeln aus gesehen,
sind die Wipfel der Bäume Wurzeln vielleicht,
die den Himmel trinken.“ (Rainer Maria Rilke)
Ein wildes Denken für die Schule
Endlich ist es wieder Freitag. Es begrüßt uns ein feuchter, frischer Morgen. Die Nacht hat ein Gewitter gebracht, jetzt steigt der Dunst nach oben, es ist nicht kalt und es regnet auch nicht. Alles ist bestens. Überall sind Regenwürmer und Schnecken mit und ohne Haus unterwegs, die Vögel sind begeistert, und mit ihnen 24 Kinder. Noch stehen wir in unserer Morgenkreisrunde unter einer großen Buche. Hier beginnen wir einmal die Woche den Schultag.
Meistens können es die Kinder kaum erwarten, diese Begrüßungsrunde „hinter sich“ gebracht zu haben. Eilig machen sie sich auf den Weg zu unserem sogenannten Tipi-Platz, unserem selbst gebauten Dorf am Waldrand, mitten in der Natur, weit weg von der architektonischen Hülle der Schule – Die Kinder wissen, wo es lang geht und kennen die Treffpunkte unterwegs. Sie wollen dorthin.
Im Rhythmus eines Schuljahres sind wir jeden Freitag für volle fünf Stunden draußen. Wir, das sind die Kinder einer altersgemischten Ganztagesklasse einer Montessori Schule. Ich als Künstlerin bin selbständige Partnerin der Schule und damit beauftragt, dieses zur Verfügung gestellte Lernformat - den sogenannten „Lebenspraktischen Tag“- für eine der Lerngruppen mit echtem Leben zu füllen. Die jüngsten Kinder sind sechs, die ältesten elf Jahre alt – wir verbringen nicht nur diesen einen Tag zusammen, sondern wir sind eine feste Gruppe vom Schuleintritt bis zum Verlassen der Schule. Unterstützung kommt von der begleitenden Lehrerin, der pädagogischen Zweitkraft und einer Inklusionshelfenden. Die Verantwortung über die Planung, Durchführung und die gewählten Inhalte liegt bei mir, in enger Absprache mit der Lerngruppenleitung.
Im Verlauf des Jahres verbringen wir in etwa dreißig Tage zusammen. Unser Arbeitsraum ist anstelle des Klassenzimmers die Natur und der gesellschaftliche Raum „vor unserer Haustüre“: Wald, Wiese, Bäche, Felsen, ein Garten und ein Dorf. Alles liegt in wenigen Kilometern Distanz zur Schule, nahbar und doch weit genug entfernt vom Schulalltag. Als Stützpunkt für den Winter und andere unwirsche Wetterlagen bietet unsere Werkstatt ein Ausweichquartier, im Garten behelfen wir uns mit einem mobilen Tarp und einer kleinen Gartenhütte.
Materialität und Körperlichkeit
Mein Konzept stützt sich auf den Gedanken, dass nachhaltiges Lernen durchdringend ist, sich in das Leben hinein bewegt und nicht von außen darauf schaut: Das Draußensein ist dafür die Basis für ein zukunftsorientiertes Lernen, inhaltlich und psychosozial umfassend. Wir benötigen für diese Art des Lernens unseren ganzen Körper und die eigene Kraft, um dorthin zu gelangen, wohin wir wollen – weg vom gepflasterten Schulhof hinein in ein Stück noch ein klein wenig wilde Landschaft. Wir bewegen uns, gestalten, bauen, vermitteln – wir suchen den eigenen Platz und gestalten diesen. Wir entwickeln dafür eigene Ideen und lassen etwas Bleibendes entstehen. Ein wesentlicher Baustein für das, was wir dort tun, ist die Vermittlung von künstlerischem Denken und Handeln.
Es geht um das Erleben von Materialität und Körperlichkeit. Wir nutzen unsere Sinne, ordnen unsere Wahrnehmungen, benennen, bewahren, erleben und spielen. Aus dem Erlebten entwickeln wir Sichtbares, oder wir nutzen Gestaltetes, um Neues zu Erleben. Ein einfaches Beispiel: Wir entdecken Tiere im Wald und beobachten sie, hören den Kuckuck und sehen andere Vögel. Die Kinder finden heraus, woran sich der eine Vogel vom anderen unterscheidet. Wir lernen ihre Namen kennen: Zeisig, Eichelhäher, Bunt- und Grünspecht, Kleiber, Kohl- und Blaumeisen. Ein Kind schlägt vor, ein Vogelhaus zu bauen. Wir holen die nötigen Informationen darüber ein, welche Vögel in Höhlen brüten und wie deren Unterkunft beschaffen sein muss. Wir organisieren uns das nötige Material, das Werkzeug und bauen nach den Plänen die neue Brutstätte. Wir platzieren sie passend und beobachten im Frühling die Vögel – und dann zeichnen wir sie mit hochwertigen Farben auf gutes Papier! Daraus entstehen echte Schätze und die Kinder spüren den Wert ihrer Beobachtung. Sie wissen auch: das Vogelhaus war ihre eigene Idee.
Da wir uns nicht nur in einer Landschaft, sondern auch in einer Gesellschaft bewegen, strebe ich an, dass wir uns mit unserem Tun auf eine ökologisch sinnvolle Weise einbringen. Die für die Kinder „sichtbare“ Gesellschaft ist in diesem Fall das naheliegende Dorf – wir suchen Kooperationen mit der Gemeinde, dem Kindergarten, dem Dorfladen. Wir zeigen, dass es neben dem Feuerwehrfest mit „Drei im Weckla“ und der Hüpfburg noch andere Möglichkeiten gibt, wie Verantwortung für ein gutes gesellschaftliches Miteinander übernommen werden kann. Wir pflegen unser eigenes Gartenstück und nehmen uns dafür die notwendige Zeit, dieses nach den Prinzipien der Permakultur zu bewirtschaften.
Die Kunst ist nichts Künstliches – was machen wir konkret?
Wir beschäftigen uns mit ganz einfachen Dingen: Wir bewegen uns – das ist wichtig. Wir suchen die eigenen Wege, ganz real, querfeldein. Und wir sind nicht nur draußen, die Kinder kommen dort auch wirklich an!
Das eingangs erwähnte Tipi-Dorf war kein Plan: Die Orte sind da, wir nutzen sie „einfach“, so wie sie sind und mit den Möglichkeiten, die sie uns bieten. Wir machen uns Gedanken darüber, was wir dort wollen - und unser Tun setzt sich fort wie beim Domino, sobald ein Stein fällt. Wir machen uns Gedanken darüber, was unser Tipi-Dorf alles braucht: Laden, Rathaus, Apotheke, es braucht dafür die passende Ausstattung bis hin zu einem „Dorf-Plan“. Wir gestalten die Beschilderungen haltbar für Wind und Wetter, was nicht einfach ist. Wir bauen ein Waldmuseum, mobil, damit wir das Geschaffene auch zeigen können! Wir nehmen Rindenabdrücke mit Ton und bestimmen damit die Bäume. Wir suchen Tierspuren und formen daraus Abdrücke aus Gips. Wir bestimmen Pflanzen, lernen etwas über deren Gifte oder entdecken ihre Heilwirkungen, zeichnen Pflanzenbücher und entwickeln „Rezepteboxen“. Immer nimmt das Erlernte Bezug auf die Lebensrealität der Kinder und bekommt damit einen direkten, nutzbaren Wert für den Alltag. Wir sammeln Kräuter und stellen Salben her. Wir finden und bestimmen Pilze. Wir bauen Zäune aus Weiden für unsere Beete. Wir pflocken bemalte Zaunpfosten aus Kastanienholz in die Erde. Wir bauen Gerüste aus Stöcken für den Hopfen, den wir hier im Wald gefunden haben. Seine Früchte eignen sich gut für herbstliche Kränze. Wir gestalten Pflanzgefäße. Wir sorgen für Winterfutterglocken für die Vögel. Wir sammeln Fallobst und pressen eigenen Apfelsaft. Wir sitzen am Lagerfeuer mit unseren Bratäpfeln. Wir stellen unsere eigenen Farben aus gesammelter, gesiebter Erde her und bemalen echten Nesselstoff. Wir gestalten Kunstwerke aus natürlichen Materialien. Wir erfinden Geschichten, dichten und sammeln Wörter. Wir dokumentieren unsere Erlebnisse immer wieder anders und neu.
Ähnlich verhält es sich mit dem Garten. Es ist ein etwas verwildertes Stück Land mit alten Obstbäumen und geheimnisvollen Ecken. Dieser Ort scheint auf die Kinder eine befreiende Wirkung zu haben. Sie spüren, dass hier nicht schon alles fertig ist, sondern dass ihr Einsatz - sei es in Form von Arbeitskraft, aber auch ihrer Ideen - gefragt ist und sich lohnt. Sie erfahren, dass ihr Bemühen zu etwas führt, sichtbar, spürbar, teilbar - und dabei noch Spaß macht. Sei es beim Kartoffeln legen mit der Aussicht auf die Ernte im Herbst, beim Himbeersträucher pflanzen, dem Bauen einer Feuerstelle, dem Entwildern alter Beete oder beim Anlegen neuer Blumenwiesen für Schmetterlinge und Insekten. Zentral ist bei all dem, was wir tun: Die Kinder werden für ihre Arbeit nicht mit Zensuren zwischen 1 und 6 belohnt oder bestraft, sondern sie erfahren eine direkte Rückmeldung mittels der sichtbar geleisteten Arbeit und der damit verbundenen sozialen Interaktion. Die Kinder erfahren, dass Lernen mehr ist als ein über den Intellekt vermitteltes Wissenspaket, das ihnen eingetrichtert werden soll.
Wir suchen die Waldgeister und finden auch welche. Wir sammeln Farben, pressen Blätter, bauen daraus ein konserviertes, großes Mensch-Ärger-Dich-Nicht-Spiel. Wir beobachten Tiere und entwickeln ein selbst gemaltes Waldtier-Memory. Wir schnitzen Pfeifen, Stöcke, Pfeil und Bogen. Wir schnitzen uns ein Mikado-Spiel. Wir besitzen eine selbst genähte Forschungsjacke. Wir bauen uns einen Versammlungsplatz mit eigens gestalteten Sitzplätzen – und was mich sehr erstaunt: niemand nimmt diese weg, außer dass sich die Vögel an der verwendeten Wolle bedienen.
Wir bauen uns einen Himmelsrichtungs-Würfel und lassen uns damit durch die Landschaft führen. Wir zeichnen die eigenen Landkarten und Dorfpläne. Wir machen uns auf die Suche nach dem Glück. Wir bauen Stöckchen-Architekturen und große Bauwerke. Wir weben mit Gras. Wir spielen Verstecken und Räuber. Wir bauen Boote. Wir klettern auf Bäume. Wir seilen uns über die Schlucht. Wir suchen die Frühlingsfee.
Wir bauen große Iglus und Schneewesen. Wir verkaufen selbst Gemachtes im Dorfladen und geben unsere Einnahmen sinnvoll weiter. Wir pflanzen Bäume. Wir bauen ein Igelhaus. Wir machen Licht-Bilder. Wir hören Geschichten. Wir spüren den Regen und lassen Regenbilder entstehen. Wir bauen Fantasie-Nester, sehen, ob sie was taugen. Wir legen Körperbilder. Wir denken nach, was wir wollen. Wir bauen ein gemeinsames Baumhaus. Wir bekommen ein Bienenhaus und sind vom Aufstellen bis zum fertigen Honig mit dabei. Wir experimentieren mit Wasser und Sand und lassen verschwimmende Bachbilder entstehen. Wir schreiben Wassergeschichten in den Sand. Wir lernen, uns im Gelände sicher zu bewegen. Wir lernen, uns passend zu kleiden. Wir lernen, uns zu orientieren. Wir bemerken, was es bedeutet, in das kalte Wasser zu fallen. Wir entdecken Kaulquappen, Molche, Frösche. Wir basteln uns Zeichenfedern. Wir zeichnen damit Schnecken, die uns beim Abzeichnen weglaufen, tatsächlich! Wir testen unsere Kraft.
Kreative Qualität und Eigenständigkeit
Etwas provokant gefragt: Wird es zwingend zur Kunst und zu kreativem Tun, nur weil der Holzpflock oder der Blumentopf nun farbig sind? Ist das nachgebastelte Stück aus dem letzten Eintrag auf Pinterest eine kreative Leistung, weil es hübsch aussieht und dafür Tannenzapfen verwendet werden? Hier stellen sich natürlich berechtige Fragen, deswegen ein kurzer Exkurs zum Umgang mit Kreativität und den entsprechenden Prozessen.
Kreative Qualität bedeutet für mich eine sichtbare und spürbare Freiheit in den Ergebnissen. Wenn alle Sitzhocker gleich aussehen würden, mache ich etwas falsch. Das ist ein Ziel, welches sowohl in unserer Schulwelt als auch im Beruf mindestens mit Skepsis verbunden ist. Denn es bedeutet Unsicherheit für den, der etwas macht und auch für den, der es begleitet. Natürlich gebe ich eine gewisse Richtung vor, sei es mit Aufgabenstellungen, Problemstellungen, Material. Aber für mich ist es sehr wichtig, dass die Kinder mitbestimmen, was und auch wie sie etwas machen wollen. So wird in manche Sitzhocker „nur“ geschnitzt, die anderen mit viel oder wenig Wolle verziert (welche dann die Vögel für ihren Nestbau abgezupft haben). Andere Kinder wiederum beschränken sich auf die Anbringung ihrer Namen oder verpassen dem Holz ganze Muster aus Nägeln. Die Hocker werden kleiner gemacht, eingegraben, aufeinander getürmt, bemalt oder die Kinder setzen sich quer darauf – viel ist möglich! Natürlich mache ich mir einen Plan, wohin die Reise gehen soll.
Meine Haltung ist: Nur wer in der Lage ist, Neues zu entwickeln, kann auch wirklich kreativ sein. Das ist der Wesenskern von Kreativität. Doch genau deswegen kommt der Künstlerin als Leitende eine große Bedeutung zu. Kreative Prozesse kommen nur dann in Gang, wenn sie den Beteiligten Raum für Eigenständigkeit zugestehen. Erwarte ich, dass alles so auszusehen hat, wie ich es als Anleitende haben will, bedarf es der Korrektur der eigenen Ziele. Wenn ich das Ergebnis schon vorher kenne, entspricht dies vielleicht der Erwartungshaltung für die gewünschte handwerkliche Leistung, aber es ist deswegen keine kreative Leistung?
Kreative Prozesse beschreiben das Finden und Verwerfen von Ideen. Es geht auch um das Vertreten der eigenen Idee und deren Machbarkeit. Kreatives Arbeiten verlangt eine Resilienz gegenüber dem möglichen Nichtgelingen, Einwänden von außen und der Notwendigkeit, Lösungswege neu zu denken.
Eine gelungene Vermittlung künstlerischer Grundkompetenzen - und damit Lebenskompetenzen - sind nicht zwingend messbar in Bezug auf die in einem bestimmten Zeitraum ausgespuckten oder produzierten Ergebnisse, wie dies uns die sog. PISA-Tests glauben machen wollen. Und: Sie sind nicht auf die Trennung der Disziplinen beschränkt. Genau hier kommt wieder der „Lebenspraktische Tag“ ins Spiel. Kunst und Natur in seiner Vermittlung bedeutet auch die Auseinandersetzung mit Sprache, mit Zahlen und naturwissenschaftlichen Fragen. Um es in den schulischen Kategorien als Vergleichsreferenz zu benennen: Deutsch, Mathe, Biologie, Geografie usw. Lernen ist keine inhaltliche Einbahnstraße.
In der Ruhe liegt die Kraft - Der Faktor Zeit
Wer als Lehrender der Meinung ist, dass (Lern-)Ergebnisse nur dann gut, respektive richtig sind, wenn sie in einer bestimmten Zeit zu einem bestimmten Ergebnis geführt haben, dann frage ich mich: Was passiert, wenn man sich mit etwas wirklich Kompliziertem zu beschäftigten hat? Geht es gut, in einer von außen festgelegten Zeit ein „gutes“ Ergebnis zu produzieren? Dabei erwartet das gängige Lehrsystem an den Schulen sehr oft genau dies von unseren Kindern: (Komplizierter) Input - (definierte) Zeit - (bewerteter) Output. Aber was ist, wenn ein Kind den komplizierten Dingen, die ihm begegnen, tatsächlich die notwendige Zeit schenken möchte? Warum also sollte ich als Künstlerin, wenn ich mit den Kindern draußen arbeite, ihnen nicht genau dies zugestehen: Zeit. Dazu kommt: Der größte Teil des Lernens geschieht aus meiner Sicht sowieso im Verborgenen - Kunst bietet hier den vermittelnden Weg.
Wir wachsen mit der gemeinsamen Arbeit
Zurück zu unseren „Draußen-Tagen“. Diese Tage sind Entdeckungsgänge: Dabei ist ein Gang etwas anderes als ein Weg – vielleicht ist er schmal, heimlich, verborgen oder auch geschützt? Für die Kinder ist es eine Möglichkeit, unaufgefordert mit der Natur ins Gespräch zu kommen. Ich habe oft den Eindruck, die Kinder genießen es, ihre Ruhe da draußen zu haben. Sie schätzen den Freiraum. Die Natur setzt Impulse, die ich so nie geben könnte, gleichzeitig werden auch Grenzen gesetzt, damit verbundene Risiken sind augenscheinlich. Wer nicht aufpasst, fällt in den Bach und wird nass. Deswegen betont sich im Umkehrschluss die darin enthaltende Freiheit generell aus sich selbst heraus. Ich selbst muss es nur aushalten können und den Kindern Erfahrungen zugestehen können. Für mich gilt es, die Balance zu finden zwischen dem eigenen Plan und dem, was dann tatsächlich unterwegs und draußen passiert. Die eigene Zufriedenheit mit meiner Arbeit bemisst sich für mich auch daran, während dem Vermittlungsprozess das richtige Maß an Unmittelbarkeit - für beide Seiten - gefunden zu haben. Einerseits möchte ich für die maximale Eigenständigkeit der Kinder sorgen, andererseits sind Grenzen aus Gründen der Sicherheit oder struktureller Bedingungen notwendig.
Das alles klingt nicht unbedingt neu. Das soll es auch gar nicht sein, doch ich möchte dazu anregen, Grenzen in Bezug auf bereits bestehende Lern- und Vermittlungsmodelle aufzulösen. Praktisches Leben-Lernen soll es sein, ohne dass vorne dran immer eine Lehrperson mit festgelegten Ausbildungskategorien stehen muss. Die Fähigkeit, eine Basis zu legen für Empathie und Leidenschaft, liegt letztlich nicht an der Qualifikation. Es ist die Überzeugung, das Richtige zu tun.
Jeder Plan ist dafür da, um über den Haufen geworfen zu werden. Im Kleinen, wie auch im Großen. Gerade das letzte Jahr hat uns spürbar gezeigt, wie abhängig wir vom Wetter und unserem (sich wandelnden) Klima sind. Dieses Jahr bekam unser Tipi-Dorf eine unglaubliche Dynamik und dem lasse ich dann auch Raum – was so einfach klingt, erfordert immer eine hohe Konzentration in Bezug auf den stattfindenden Prozess. Und es verlangt vom verantwortlich Leitenden, sich selbst nicht zu wichtig zu nehmen, stattdessen die Lernbedürfnisse der Kinder wahrzunehmen und zu achten: „Wer die Kinder nicht ehrt, ist als Betreuer nicht wert“. Dabei hat die gefühlte Einfachheit einen über lange Jahre gewachsenen Bezugsrahmen.
Gelingt es mir, mit dieser inneren Ausgewogenheit in die Arbeit zu gehen, mit der ich mich zutiefst selbst verbunden fühle, stellt sich damit zwangsläufig eine sehr angenehme, von Ernsthaftigkeit geprägte Atmosphäre ein. Die Kinder fühlen sich auf Augenhöhe, was ungemein entspannt. Die Energie der Kinder kann sich viel besser auf das Wesentliche konzentrieren, als dass sie mit unausgesprochenen Fragen in Bezug auf die Beziehung zum Lehrenden beschäftigt sind. Wir verzeihen uns Fehler oder spüren, wenn der Andere mal einen schlechten Tag hat. Das sind eigentlich Nebensächlichkeiten. Wir kommen gut ins Gespräch, auch die Gruppe untereinander, oder aber es ist Zeit dafür, Konflikte auszutragen. Eines ist auf alle Fälle sicher: Wir erleben sehr intensive Stunden, die geprägt sind von Erfahrungen und Beziehungen von Mensch zur Natur und von Mensch zu Mensch. Gerald Hüther benennt es so: „Wo diese (Beziehungen) funktionieren, funktioniert auch die Entwicklung“ (Renz-Polster/Hüther 2013:24)
Mit Freiheit in die Lehrbeziehung
Es sind letztlich Kreuzungen in der eigenen Arbeit, die auf unterschiedliche Bezugspunkte zurückgehen: Das eigene professionelle Kunstarbeiten, die Vermittlung von künstlerischem (kreativ-ästhetischem) Handeln und die Auseinandersetzung mit einer handlungsorientierten Pädagogik – alles verbunden mit dem Versuch, ökologisch gesunde (und machbare) Grundwerte im gesamten Tun zu vertreten und zu vermitteln. Ich sehe die Kunst nicht ausschließlich als das Mittel zum Zweck, Objekte zu formen, egal aus welchen Materialien oder in welchem Professionalisierungsgrad. Unsere Welt ist vollgestopft mit Dingen. Vielmehr muss es doch die Frage sein, welche Strategien des Erlebens kann die Kunst erfinden! Worauf kann sie zurückgreifen, um die eigenen Themen damit zu formulieren? Das ist letztlich kein pädagogisches Ziel, sondern eine Haltung. Ein solcher Ansatz macht es möglich, sich einem Raum – egal ob Stadt oder Land – mit wachen Sinnen anzunähern und sich diesen ästhetisch zu erschließen. Und dazu braucht es auch keine professionelle künstlerische Ausbildung, viel mehr die Bereitschaft, wach zu sein und hinzuschauen, Wille und Mut, sich zu äußern, Spontanität, etwas handwerkliches Geschick, Entdeckungsgeist und Spürsinn.
Meine Arbeitsform mit den Kindern ist so etwas wie eine sichtbar gemachte Spurensuche. Kunst stellt ständig Fragen. Das muss sie tun, sonst gäbe es immer wieder Dasselbe. Neues zeichnet die Kunst aus, es ist das Wesen kreativer Arbeit: Wege finden, neue Wege gehen, mal einen Schritt zurück und dann wieder zwei nach vorne, hinfallen, aufstehen – oder auch mal stehen bleiben können und schauen.
Land Art = Andy Goldsworthy? Haltungs- und Vermittlungsimpulse für die Praxis
An dieser Stelle ein kleiner Umweg: Seit einigen Jahren wird das künstlerische Werk von Andy Goldsworthy als eine kunstvermittelnde Methode unter dem Begriff Land Art etabliert vermittelt. Die Gattungsbezeichnung und die Einordnung des Künstlers sind richtig, aber es ist nicht die Land Art. Stattdessen ist sein Werk ein winziger Ausschnitt aus dieser umfassenden Kunstgattung – Land Art ist ein breit aufgestelltes Feld mit einer Vielzahl an unterschiedlichen künstlerischen Ansätzen und Werken. Ein hübscher Steinbogen mag ästhetisch ansprechend sein, aber Land Art hatte ursprünglich so wirklich rein gar nichts mit dieser Art der „Naturkunst“ zu tun. Viel mehr geht ihre Entstehung auf konzeptionell und politisch motivierte Wege in der Kunst der 60er Jahre zurück und hat insbesondere in den USA mit großen Erdbewegungen auf sich aufmerksam gemacht, wie z.B. in den Arbeiten von Robert Smithson (vgl. Kaiser/Kwon 2012:234) oder Michael Heizer (ebd.:163). Zeitgleich waren in Europa die Ideen von Joseph Beuys und die Gründungszeit der Grünen aktuell und stehen in einem historischen Zusammenhang. Erwähne ich diese Bezüge in Ausbildungen für Erwachsene, macht sich oft Entsetzen breit, wie schlimme Dinge doch die Künstler mit der Natur machen.
Ein bemerkenswerter Teil der potentiellen Multiplikator*innen möchte dem Wissen zu den Parallelen mit Beuys und seinen Ideen zur sozialen Skulptur gar nicht unbedingt begegnen. Land Art ist kein ökologisches Gut-Menschentum, sondern der Umgang mit physischem und gesellschaftlichem Raum, der Umgang mit „Land“ und dem Anspruch, Bildhaftes daraus zu entwickeln, Aussagen damit zu formulieren; auch hinsichtlich eines gesellschaftspolitischen und sozialen Kontextes. Das schließt einen rücksichtsvollen Umgang mit Natur nicht aus – aber auch nicht zwingend ein. So spielen eben auch die sehr mächtigen bildhaften Aussagen, wie die von Robert Smithson oder Michael Heizer, eine Rolle im Kunstgeschehen der Land Art, die so rein gar nichts mit einer ästhetischen Spielerei mit Naturmaterial zu tun haben. Ich halte es für notwendig, dass dieses Hintergrundwissen bekannt ist unter jenen, die sich das Gedankengut der Land Art-Künstler*innen in der Vermittlungsarbeit zu Eigen machen; bestenfalls sollte es auch weitergegeben werden. Das ist keine Pedanterie, sondern Achtsamkeit und Respekt gegenüber den Künstlern, und es bietet Orientierung für das eigene Tun und die persönliche Haltung. Es ist wunderbar, dass der zeitgenössische Künstler Goldsworthy ein bis dato so geniales Werk entwickelt hat. Es ist legitim, wünschenswert und auch einfach schön, damit zu arbeiten. Aber – es ist eben nicht alles!
Und genau hier möchte ich anknüpfen und den Weg zurück zum Tipi-Dorf und unserem „Draußen-Tag“ nehmen: Ästhetisch-künstlerische Arbeit in einem erlebnisorientierten Beziehungskontext sollte sich nicht auf eine Didaktik zu einem einzelnen künstlerischen Werk beschränken, sondern sich darum bemühen, die Idee von innen heraus zu verstehen und entsprechend damit arbeiten.
Abgesehen davon, es muss auch nicht immer alles schön sein! Und – es muss auch nicht immer „etwas“ produziert werden, um produktiv zu sein. Die Arbeiten von Hamish Fulton (vgl. Kaiser/ Kwon 2012:199) oder Richard Long (ebd.: 214) sind dafür ein faszinierendes Beispiel. Deren Ideen, wie zurückgelegte Wege in großer Wildnis in Sprache und Bild gefasst werden, lassen sich wunderbar in eine handlungsorientierte und naturnahe Vermittlungsarbeit integrieren. Das „Draußen Sein“ bekommt damit einen sichtbaren sinnlichen und ästhetischen Wert. Letzteres ist eines meiner großen Ziele im Arbeitsprozess mit den Kindern. Die Erfahrungsschätze, welche die Kinder vom „Schnecken einfangen und zeichnen“ in ihrem Herzen mitnehmen, gelten für mich als die eigentlichen Ergebnisse – egal ob die Striche das Papier ausfüllen oder auch nicht. Das sind Schätze, die niemand in Händen halten kann, aber die Kinder spüren wohl, dass sie da sind und ganz ihnen selbst gehören. Niemand kann ihnen das nehmen.
In unserem Tipi-Dorf benennt ein Schild das Sternentipi. Es ist gebaut aus Nadelbaumästen und -zweigen, um einen großen Laubbaum herum, der weit nach oben zeigt. Zu den Sternen? Sind die Nadeln die vielen kleinen Sterne? Oder ist es einfach der Wunsch, im Tipi bis zu den Sternen zu sehen? Oder hat sie der Junge vor sich, wenn er im Tipi sitzt und vor sich hin schnitzt? Ist sein Schild Fantasie, real Erlebtes oder wünscht er sich dorthin? Das weiß ich nicht. Aber er wird dieses Schild nicht ohne Grund an dieser Stelle erfunden, gemacht und für uns alle sichtbar aufgehängt haben.Ich erinnere mich daran, wie die Kinder im September mit dem Start in das Schuljahr ankamen. Die Kinder eilten davon und ich hatte oft den Eindruck, sie wissen gar nicht wohin sie eigentlich eilen. Im Laufe der Zeit war es beeindruckend zu beobachten, wie sie angekommen sind, wie sie ihren Platz gefunden haben, nicht nur den „echten“ Platz in Form vom persönlich dekorierten Hocker, sondern ihren Platz im Wald und in diesem Tag. Zeit spielt für sie keine Rolle, außer sie ist um und wir müssen uns auf den Rückweg machen. Viele Ideen kommen von ihnen und manchmal wünschen wir uns, wir wären die ganze Woche im Draußen. Was wäre das für eine Perspektive!