Die Kunst, in Bildungskontexten künstlerisch tätig zu sein: Neue Formen des Lernens und Bildens?
Abstract
Dieser Beitrag geht hervor aus der Veröffentlichung der Ergebnisse des dreijährigen Verbundvorhabens Kunst_Rhein_Main (2014-2017), das als Teil des Programms Förderung von Entwicklungs- und Erprobungsvorhaben zur pädagogischen Weiterbildung von Kunst- und Kulturschaffenden vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert wurde. Innerhalb des Verbundvorhabens Kunst_Rhein_Main wurde ein innovatives, wissenschaftlich fundiertes und praxisorientiertes pädagogisches Modell zur Qualifikation von Kunst- und Kulturschaffenden in der Region Rhein-Main erprobt und entwickelt, das zur Gewinnung von Erkenntnissen zur weiteren Professionalisierung von Kunst- und Kulturschaffenden, von innovativen Lehr- und Lernformen in der Weiterbildung und zur Verbesserung der Wirksamkeit von Weiterbildungsangeboten und einer Zusammenarbeit zwischen Kunst- und Kulturschaffenden und pädagogischen Fachkräften beitragen will.
Die grundlegende Zielvorstellung des Weiterbildungsprogramms ist es, Kunst- und Kulturschaffende unter besonderer Berücksichtigung zeitgenössischer Tanz-, Theater- und Performancekunst zu stärken. Das sind Bereiche, die bezüglich einer staatlichen Förderung und Unterstützung, aber auch in der Forschung bislang unterrepräsentiert erscheinen (vgl. Rat für Kulturelle Bildung 2014:62f; Rittelmeyer 2010:7).
Das komplex angelegte Vorhaben Kunst_Rhein_Main wurde wissenschaftlich begleitet durch die Universität Koblenz-Landau sowie durchgeführt mit der Tanzlabor 21/Tanzplattform Rhein-Main – heute Tanzplattform Rhein-Main – im Künstlerhaus Mousonturm GmbH und FLUX Theater+Schule. Von Seiten der wissenschaftlichen Begleitforschung richtete sich der Fokus auf zwei Untersuchungsebenen, die es in ein Verhältnis zu setzen galt: Zum einen lag die Aufmerksamkeit auf der Prozessbegleitung und Dokumentation der Erprobung und Entwicklung der Weiterbildung selbst, zum anderen auf den Gelingensbedingungen und der Qualität einer je spezifischen künstlerisch-pädagogischen Praxis der Beteiligten der Weiterbildung in ihrem Feld.
Dieser Beitrag gibt Einblicke in die Problem- und Fragestellungen, welche Herausforderungen sich für Künstler*innen stellen in der Kunst, in Bildungskontexten künstlerisch tätig zu sein. Dabei wird auf Bedarfe und Befunde in der Forschung eingegangen. Im Weiteren geht es um die die Begleitforschung leitende Frage, inwieweit zeitgenössischen künstlerischen Verfahrensweisen bereits ein Bildungspotenzial enthalten ist. Geklärt werden dabei grundlegende Begrifflichkeiten, was unter Ästhetischer und Kultureller Bildung unter zeitgenössischen Gesichtspunkten zu verstehen ist, ebenso wie das der Untersuchung zu Grunde liegende Bildungs- und Subjektverständnis.
Kunst_Rhein_Main: Ausgangspunkte
In einer Vielzahl an Projekten entwickeln seit einigen Jahren Kunst- und Kulturschaffende im institutionellen Bildungsbereich innovative Konzepte mit einem offenen transkulturellen Verständnis, ohne in der Regel besondere pädagogische Vorkenntnisse zu haben (vgl. Westphal 2014 a/b; Deck/Primavesi 2014; Liebert/Westphal 2015). Eine Behauptung des Rats für Kulturelle Bildung ist: „Künstler können Kunst. Das bedeutet keineswegs, dass sie Kunst auch lehren können.“ (Rat für Kulturelle Bildung 2013:39).
Abb 1. Szenische Momente aus Meret Kiderlen & Kim Willems: Die Natur der Kinder …oder wie wir eure Herzen treffen (Studio NAXOS - Premiere 2016).
Auf der einen Seite ermöglichen die Künstler*innen Kindern und Jugendlichen an der Schnittstelle zwischen Kunst und der jeweiligen Institution, Räume für ästhetische Erfahrungen, Austausch und Experiment zu erobern und ermächtigen sie, sich als selbstbewusste Akteure in künstlerische und kulturelle Bereiche wie dem Theater, Tanz, der Performance-, Musik- oder Medienkunst vorzuwagen. Zugleich sind sie andererseits bei der Planung und Umsetzung von Projekten häufig auf sich allein gestellt. Fragen und Probleme, die sich in der Vermittlung einer künstlerischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen von pädagogischer Seite stellen, werden eher intuitiv gelöst. Fragen zur Kommunikation und Kooperation, die sich im Umgang mit der jeweiligen Institution stellen, bleiben meist dem Zufall überlassen. Zu beobachten ist, dass zumeist die Künstler*innen eine enorme Flexibilität mitbringen müssen, um in den verschiedenen Kontexten und innerhalb von institutionellen/politischen/programmatischen Strukturvorgaben – wie den verschiedenen Altersgruppen, den räumlichen, zeitlichen und materiellen Vorgaben – nicht nur den eigenen künstlerischen, sondern auch den von außen kommenden Anforderungen gerecht zu werden.
Für eine Reflexion der eigenen künstlerischen Konzeption, der Verortung und Positionierung als Künstler*in in den jeweiligen Bildungskontexten hat sich im Rahmen der wissenschaftlichen Begleitforschung gezeigt, dass den Diskursräumen von Vermittlungsinstanzen, wie den Verbundpartnern von Tanzlabor 21/Tanzplattform Rhein-Main und FLUX Theater+Schule, eine bedeutsame Rolle zukommt: Sie tragen erheblich dazu bei, Vernetzungen und Kooperationen zu ermöglichen und gegenüber den Herausforderungen der sich etablierenden Kulturellen Bildung qualitativ unterstützend tätig zu sein.
Eine systematische Entwicklung von Modellen zur pädagogischen Weiterbildung von Kunst- und Kulturschaffenden für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen im Bildungsbereich fehlte bislang (vgl. Rat für Kulturelle Bildung 2013:14). In den meisten Projekten gab es bisher keine wissenschaftlichen Untersuchungen im Sinne einer begleitenden und schon gar nicht responsiv angelegten Prozessforschung (vgl. Rittelmeyer 2014:39). Darüber hinaus fehlte eine „im Sinne der Professionalisierung notwendige Standardisierung von Zielperspektiven und Ausbildungselementen“ (Klinge 2012:883). „Die Räume Kultureller Bildung sind Orte, an denen Möglichkeiten erprobt werden.“ (Westphal 2014a:22) Worin diese neuen Möglichkeiten bestehen, war zum Zeitpunkt, als das Projekt Kunst_Rhein_Main gestartet ist, wenig systematisch erforscht.
Die Empfehlungen des Rats für Kulturelle Bildung zielen umfassend darauf ab, dass eine Grundversorgung in den wichtigsten Künsten in Kindertagesstätten, Schulen und außerschulischen Einrichtungen im Sinne einer Alphabetisierung zu sichern ist. Konkret heißt das:
- Ganztagsschulen für Kulturelle Bildung nutzen
- kommunale Bildungslandschaften und Programme für das Recht auf kulturelle Teilhabe entwickeln
- ein Monitoring für Kulturelle Bildung schaffen
- die Forschung ausbauen
- die Aus- und Weiterbildung von Kunstvermittler*innen erweitern (vgl. Rat für Kulturelle Bildung 2014).
Künstler*innen zu stärken, heißt also zweierlei: Zum einen auf eine Professionalisierung in pädagogisch-künstlerischer und zum anderen in struktureller Hinsicht auf eine Verzahnung hinzuwirken (vgl. Scherer 2014). Mit dem Fokus auf die Bereiche zeitgenössisches Theater, Tanz und Performances geht es darum, deren Praxis an der Schnittstelle zwischen Kunst und Bildung quer zur Fixierung von Identitäten oder Gewissheiten zu denken: Sie nicht nur als eine künstlerische Praxis allein, sondern auch in ihren Wechselwirkungen mit kulturellen, politischen, pädagogischen, historischen, ökonomischen und institutionellen Kontexten zu verstehen.
Kunst und Bildung als Erfahrungs- und Möglichkeitsräume
Kunst und Bildung verstehen wir jeweils als Erfahrungs- und Möglichkeitsräume, die unterschiedlichen Ordnungen unterliegen und von daher seit jeher in einem Spannungsverhältnis stehen. In jüngster Zeit jedoch hat sich das Spannungsgefüge unter den Vorzeichen eines Paradigmenwechsels in beiden Bereichen verschoben und ausdifferenziert, ohne jedoch aufgehoben worden zu sein. Theater- und Tanzräume als Bildungsräume zu verstehen bringt im Gegenteil das spannungsreiche Verhältnis von Körper und Raum/Institution, von Kunst und Bildung und ihrer Vermittlung in pädagogischen und kulturellen Kontexten selbst erst zur Sprache. Ein solches Verständnis macht die Aspekte dieses Spannungsgefüges sichtbar, statt es zu nivellieren. Denn zeitgenössische kulturelle Praxen legen es darauf an, bestehende Ordnungen außer Kraft zu setzen und zu unterbrechen, um einen Spalt für andere Sichtweisen auf und durch Theater und Tanz als Erfahrungsraum für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene in Kindergarten, Schule oder außerschulischen Einrichtungen zu öffnen. Bilden und Lernen verstehen wir von daher nicht mehr nur im Sinne einer bloßen Aneignung von Wissen als einen rein rationalen Vorgang. Die Besonderheit zeitgenössischer Verfahrensweisen besteht u.a. in einer über das kognitive Verstehen hinaus entfalteten Sinnlichkeit, die potenziell andere Reflexionsformen mit sich führen, die uns zeigen, wie das Dargestellte in die sinnlich-leiblich gebundene Darstellung selbst eingehen kann (vgl. Wulf/Zirfas 2001/2007; Budde/Hietzge/Kraus/Wulf 2017; Hentschel 2017; Westphal 2018; Hilliger 2018). Hier hat die Beforschung gezeigt, dass die Verbindung der Bereiche Theater, Tanz und Performance in der Weiterbildung und seiner Programmatik als sich gegenseitig befruchtend erfahren werden und sogar zu Kooperationen führen konnte.
Forschungsbedarfe und -befunde
Die wissenschaftliche Begleitforschung von Kunst_Rhein_Main ist im Rahmen ihrer Untersuchungen auf den verschiedenen Ebenen auf offene Fragen und Bedarfe gestoßen, die vornehmlich auf die Kontextualisierung der Befunde abzielen: So fehlt es an Forschung auf dem Gebiet der historischen Rekonstruktion. Auch sind die Verhältnisse zwischen ästhetischer, musischer und kultureller Bildung, die sich aus bestimmten Diskurslagen entwickelt haben, nicht geklärt. Ebenso fehlt die Rekonstruktion aus den Lebensreform-Bewegungen (vgl. Westphal/Bogerts 2018). Nicht zuletzt fehlt es an Untersuchungen, die die Vorbilder, Einflüsse, Utopien und Visionen der historischen Avantgarde um 1900 bis 1930 auf die Künste aufgreift.
Diese zeichnen sich darin aus, andere Weisen des Umgangs mit Zeit, Raum, Körper, Text und Medien zu untersuchen. Wie haben diese Bewegungen nach dem Zweiten Weltkrieg, die in der amerikanischen Performance Art inspiriert von europäischen Exilant*innen nach 1945 weiterentwickelt wurden und mit dem Aufstieg der USA zur Weltmacht nach Europa zurückkamen, ihren Niederschlag auf die zeitgenössischen Künste in Bildungskontexten gefunden (vgl. Aronson 2000; Müller-Schöll 2018:116ff)? Welcher Legitimationsrhetoriken und Mythen bedient sich die Kulturelle Bildung wiederum – auch vor solchen historischen Vorläufen und den grundlegenden Veränderungen im 21. Jahrhundert? Erhellend ist in diesem Zusammenhang, dass sich die Theaterlandschaft sich neu ordnet: Sie ist nicht mehr von den im Zeichen der Avantgarden des 20. Jahrhunderts stehenden utopischen Visionen geleitet, sondern wendet sich verstärkt dem Hier und Jetzt des sozialen Alltags zu (Warstatt 2017:9).
Auf der Ebene der Beobachtungen im Feld ist über die Residenzen – sowohl in ländlichen Räumen als auch an Theatern im Rhein-Main-Gebiet, in die wir durch unsere Verbundpartner Einblick nehmen konnten, deutlich geworden, dass über unser Verbundvorhaben hinausgehend ein Forschungsbedarf besteht, den Besonderheiten und den Wirkweisen nachzugehen, wenn Projekte über drei bis vier Monate an bestimmten Orten mit verschiedenen Institutionen und auch heterogen besetzten Gruppen kulturell zusammenarbeiten. Und nicht zuletzt zeigen die Befunde dieser wissenschaftlichen Begleitung im Feld, dass für eine Nachhaltigkeit nicht nur die Vermittlungsinstanzen eine wichtige Rolle spielen. Auch die vor Ort arbeitenden Fachkräfte und Leitungen schulischer und außerschulischer Einrichtungen bedürfen einer Aufmerksamkeit und Vorbereitung für eine Kooperation und Kommunikation in der Zusammenarbeit mit den zeitgenössischen Künsten, allein schon, um bestehende Ressentiments und klischeehafte Zuschreibungen von Kunst und Institution aufzulösen, denen wir auf beiden Seiten im Rahmen der wissenschaftlichen Begleitung immer wieder begegnet sind.
Andere Formen kultureller Teilhabe
Die aktuellen Diskussionen in der Ästhetischen und Kulturellen Bildung nehmen verstärkt Fragen in den Blick, die auf andere Formen der kulturellen Teilhabe und Wissensvermittlung abzielen. Sie bedienen sich dabei vornehmlich Formaten, die sich lösen von der paradigmatischen Figur eines auf Originalität (vgl. Westphal 2002), Individualität, Ausdrucksverhaltens, Genialität und Authentizität beruhenden Kunst- und Bildungsverständnisses zugunsten eines auf Singuläres, auf Intervention und Gegenwärtigkeit aber auch Distanznahme begründetem Verständnis von Performance. Fraglich werden Dualismen wie Akteur*in vs. Zuschauer*in, Original vs. Kopie, Erwachsener vs. Kind, Produktion vs. Rezeption.
In den letzten Jahren sind eine Vielzahl an Modellen entstanden, in denen professionelle Theater-, Tanz- und Performancemacher*innen mit Kindern und Jugendlichen in den verschiedenen Bildungskontexten Verfahrensweisen erprobt haben, die über traditionelle Formen z.B. des Schultheaters, Kindertheaters hinausweisen. Zu beobachten ist, dass die Auseinandersetzung mit neueren ästhetischen Verfahrensweisen ein enormes Bildungs- und Lernpotenzial in sich birgt. Mit der Zuwendung auf Theater/Kunst als Erfahrungsraum geht es nicht mehr um die Vorstellung, moralisch belehrend wirken zu wollen. Theater, Tanz, Performance werden vielmehr zuallererst als ein sozialer und ästhetischer Raum gesehen, in dem das Selbst als Anderer erfahren werden kann, indem die Art, wie man miteinander kommuniziert, verhandelt wird, indem die Normen unserer Kultur berührt werden und die gegebene „kulturelle Intelligibilität“ (Butler 1991:39) in Frage gestellt wird.
Impulse geben derzeit insbesondere solche Projekte von Performancemacher*innen und Künstler*innenkollektiven, die an den Schnittstellen zwischen Kunst und Bildung, Schule oder Theater verankert sind und im Rahmen von Kulturprogrammen wie Kultur macht stark Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen die Möglichkeiten geben, den theatralen Ort als Ort der „Selbstermächtigung“, als Proberaum für die „Übung von abweichendem Verhalten“ wahrzunehmen (vgl. Michaelsen 2013; Westphal 2014; Deck/Primavesi 2014; Liebert/Westphal 2015).
Selbstverständlich ist das nicht, ist doch das Verhältnis von Bildung und Kunst, wie es uns häufig als hierarchisch und konflikthaft begegnet, auf einen ästhetisch und kulturtheoretisch engen Kunst- und Bildungsbegriff zurückzuführen (vgl. Lehmann 2013, 9; Bilstein/Zirfas 2009; Bollenbeck 1994). Genauer betrachtet kann der vorherrschende Theaterbegriff, der vom Modell eines literarisch dominierten dramatischen Theaters ausgeht, nur für einen begrenzten Ausschnitt von knapp 200 Jahren europäischer Theaterentwicklung eine Gültigkeit beanspruchen. Vergegenwärtigen wir uns jedoch Theater in seinem ursprünglichen Zusammenhang als Fest, Gemeinschaft, Spielen aller Art und der umfassenden Vorstellung von Bildung als eine seit der Antike bestehenden engen Verknüpfung mit künstlerischen Tätigkeiten, relativiert sich das aufgeladene Spannungsverhältnis eines gehobenen Kunsttheaters dramatischer Prägung gegenüber eines unfertigen Spielgeschehens in Bildungszusammenhängen.
Heute geht es angesichts einer vielfältigen, experimentellen Praxis in den Künsten an der Schnittstelle zu Bildung und der Institution Schule oder Theater weniger darum, die Künstler*innen als Vorbild für Bildungsprojekte zu sehen. Die Herausforderung stellt sich vielmehr dahingehend, die Konstellation von neuen Ideen sowohl in der Pädagogik als auch in den Künsten mit grundlegenden Erwägungen zur Theorie der ästhetischen Bildung zusammenzuführen. Kunst im ästhetischen Sinn ist demnach eine Radikalisierung der Inventivität: „nämlich den Findungsreichtum von der Verstörung der Regeln her zu denken, mit der neue Regeln entstehen“ (Mühleis 2016:47). Kunst – am Beispiel Theater festgemacht – bedeutet dann praktisch wie auch theoretisch: Theater – und das gilt für die Ästhetische Bildung gleichermaßen – als offenes und öffnendes Angebot zu sehen, indem die Aufmerksamkeit verstärkt auf die Frage gelenkt wird, wie der Sinn eines Textes hervorgebracht wird, als darauf, ihn als solchen allein zu entschlüsseln (vgl. Lehmann 2012a:9; vgl. Westphal 2009a/b). Diese Sichtweise, wie sie Hans-Thies Lehmann im Zusammenhang des postdramatischen Theaters in seinem umfassenden Werk gezeichnet hat, hebt auf die Beschreibung und Analyse von Aufführungspraxen als Situation und Ereignis ab (vgl. Lehmann 1999, 2012b). Im Verlauf des späten 20. Jahrhunderts bis heute ist eine Verschiebung der Aufmerksamkeit anhaltend vom Verhältnis des Textes zu einer Verkörperung, Verräumlichung und Zeitlichkeit erfolgt. Es ist auch zu beobachten, dass sich die Aufmerksamkeit von Schauspieler*innen – ein Erbe der Aufklärung – zunehmend auf die Befragung der Rolle der Rezipient*innen hin entwickelt hat zu Akteur*innen und Patheur*innen, die im handlungstheoretischen Sinne nicht aktiv sind, sondern sich vielmehr im Modus der Wahrnehmung verhalten (vgl. Hasse 2010). So wird die Rezeptionsweise in der Folge nicht mehr getrennt von der Produktionsweise, sondern als ineinandergreifend betrachtet und Theater als dynamisches und sich wandelndes Geflecht in seinem Überschreitungspotenzial verstanden.
Aus pädagogischer Sicht liegt hier genau die Chance, an das spielerische Potenzial von Kindern und Jugendlichen anzuknüpfen und in Auseinandersetzung mit theatralen bzw. tänzerischen oder performativen Formaten zu bringen: Geht es in der künstlerisch-pädagogischen Arbeit doch weniger darum, Kinder und Jugendliche im traditionellen Sinne eines Regietheaters zu Schauspieler*innen machen zu wollen, als ihnen vielmehr einen Weg zu bahnen, sich – von ihren Spiel- und Artikulationsweisen ausgehend – mit den Künsten auseinanderzusetzen (vgl. Sauer 2005). Oder anders ausgedrückt: Die Sorge um eine ästhetische Vollkommenheit, wie sie in künstlerischen Institutionen und Ausbildungsgängen vorliegt, wird einerseits zugunsten der pädagogischen Chancen einer szenischen Arbeit als solcher zurückgestellt, die Anknüpfung an die Spielweisen aber andererseits zugleich einer Ästhetisierung unterzogen. Relativ neu dabei ist, Kinderspiele aus dem pädagogischen Kontext herauszulösen und sie aus ästhetischer Perspektive zu beleuchten (vgl. Sauer 2018).
Kulturelle Bildung als Antwortgeschehen
Der phänomenologische Zugang (siehe Kristin Westphal: Phänomenologie als Forschungsstil und seine Bedeutung für die kulturelle und ästhetische Bildung) ist mit Blick auf neuere Verfahrensweisen in pädagogischen Kontexten von daher eine wichtige metatheoretische und methodologische Referenz, insofern eine responsive Leiblichkeit, Be- und Entzug, Lebenswelt, Differenz- und Fremderfahrung wichtige Bezugsgrößen für die Beschreibung und Analyse neuerer Verfahrensweisen in den Künsten bedeuten. Diese gehen von einem offenen, unabschließbaren Kunst- und Bildungsbegriff dergestalt aus, dass die Situation befragt wird, „die das Theater als eine Praktik insgesamt hervorbringt, herstellt und darstellt“ (Lehmann 2013:179). Er erlaubt einen Anschluss in der Frage, wie Erfahrungen in künstlerischen Ereignissen als Selbst-/Bildung organisiert und strukturiert sind.
Besonders im schulischen Kontext spiegelt sich vielerorts wider, was auch für die professionellen Theaterkünste, und auch für die, die im schulischen Kontext arbeiten, gilt: Eine einseitige Bevorzugung von Text und Literatur statt einer Hinwendung auf die Probenprozesse und Aufführungssituation, die von manch einem immer noch als ein Anhängsel verstanden wird. Wenn, dann wird die Aufmerksamkeit im Rahmen einer klassischen, disziplinierenden Seh- und Raumordnung, die von einer Zentralperspektive und Guckkastenbühne – wie sie in der Renaissance entstanden ist – ausgeht, wiederum eher auf den Akteur als auf den*die Zuschauer*in als Akteur gelenkt. Erwachsene zeigen dabei Kindern, wie man sich im Theater zu verhalten hat. Pointiert zusammengefasst: Letztlich doch still zu sitzen und zuzuschauen. Dass das auch anders gehen kann, zeigt sich derzeit bundesweit an einer Vielzahl solcher Projekte, die insbesondere an der Schnittstelle von Kunst und Schule auf experimentierende Weise arbeiten, wie es auch im Kontext Kunst_Rhein_Main für ein Weiterbildungsprogramm verfolgt wurde.
Die Untersuchungen pädagogisch-künstlerischer Praxen im Kontext Kunst_Rhein_Main weisen aus, dass Kulturelle und im engeren Sinne Ästhetische Bildung nicht in erster Linie als eine Aktivität, sondern auch als ein Widerfahrnis bzw. als ein Antwortgeschehen zu betrachten ist. Die phänomenologische Perspektive, Bildung als Antwortgeschehen vor dem Hintergrund einer leiblichen Verwicklung in Lebenswelten zu begreifen, rüttelt an der Vorstellung eines Bildungsverständnisses, das Bildung als bloßen Aneignungsprozess begreift, der dem Subjekt mehr oder weniger äußerlich, weil rational, bleibt. Das Subjekt gerät in der phänomenologischen Betrachtungsweise in eine gedoppelte Position: Das Subjekt ist ein aktives Selbst, sofern es Antworten hervorbringt, indem es sich leiblich-konkret auf das Andere einlässt. Zugleich ist es jedoch auch Teil eines Kontextes, dem es sich erfahrend überlässt und über den es nicht vollständig verfügt. Im Unterschied zu traditionellen Bildungstheorien hebt dieses Verständnis darauf ab, dass das Subjekt gerade nicht auf sich selbst zurückkommt – als Entzugsfigur (vgl. Westphal/Zirfas 2014). Kein Mensch handelt, denkt oder fühlt allein aus sich selbst heraus.
Handlungen, Erfahrungen und Sprache sind im „Zwischenreich der Interaktionen bzw. in den Zwischenwelten der Medien“ (Lippitz 2001:147) angesiedelt. Sinn artikuliert sich als Differenzgeschehen. Alterität und Fremdheit als Struktur von Bildung erlaubt es, neu und anders über Pädagogik zu denken und den pädagogischen Umgang mit den Heranwachsenden als ein offenes Geschehen zu gestalten und zu erfahren. Dieser Zugang in der Pädagogik korrespondiert mit der Vorstellung eines schöpferischen Tuns in den Künsten und eines Subjektverständnisses, wie wir es derzeit an vielen Performancemodellen mit Kindern beobachten können (vgl. Bilstein 2013; Westphal 2012; Deck/Primavesi 2014).
Hervorzuheben ist außerdem, dass im Laufe des 20. Jahrhunderts die Kindheitsforschung dazu beigetragen hat, eine andere Perspektive auf das Kind und auf das Generationsverhältnis einzunehmen (vgl. Westphal/Jörissen 2013; Scholz 1994). In den Blick kommen zunehmend das Kind und seine konkreten sprachlichen, sinnlich-leiblichen und symbolischen Ausdrucks-, Spiel- und Artikulationsweisen (vgl. Lippitz 1999; Meyer-Drawe/Waldenfels 1988; Meyer-Drawe 2006; Schäfer 1997). Spielräume des Erkennens finden im Ausgesetztsein mit den Prozessen der Sozialisation, Natur und Kultur statt (vgl. Merleau-Ponty 1994:180). Leitend ist u.a. die Erkenntnis, dass
„die Erziehung von Beginn an nur im Horizont eines zukünftigen unberechenbaren Überschrittenwerdens geschehen kann. Selbst wenn sie auf eine Bildung des Selbst abzielt, die geradezu mit seiner Selbstbildung sollte zusammenfallen können, wird sie niemals an die unbestimmte, nicht vorwegzunehmende und sich schon in ihr vorbereitende Zukunft des Selbst heranreichen [...]“. (Liebsch 2007:60 f.)
Diese Unbestimmbarkeit erlaubt das Generationsverhältnis nur als Möglichkeitsraum zu thematisieren. Für die Reflexion einer pädagogischen Praxis sind wir Maurice Merleau-Ponty zu Folge herausgefordert, das Kind als anderen zu verstehen, wie man ihn einerseits begegnet und andererseits nachzuvollziehen, wie dem Kind die wahrgenommene Welt begegnet, so wie sie sich ihm darstellt (ebd.)
Für die Formulierung einer Didaktik von Kunst und Bildung hat das Konsequenzen. Wir sprechen hier von einer Didaktik des Unbestimmten, insofern von einem Experimentieren, von einem ergebnisoffenen szenischen Arbeiten, von Zumuten und Unterstützen ausgegangen wird (vgl. Westphal 2015). All diese Ansätze wissen den Rätselcharakter im Künstlerischen zu bewahren und setzen sich von der Logik einer insbesondere schulischen Praxis ab, die auf einen linear angelegten und zu messenden Lernprozess abzielt, die „gewöhnlich auf Bekanntmachung des Unbekannten, auf Aufklärung des Unklaren, auf Stimmigmachen des Unstimmigen, auf Vertrautmachen des Fremden“ (Rumpf 1996:472), auf Erklärung, auf Perfektionierung des Unvollkommenen, auf Einordnung des Singulären unter etwas Allgemeines, auf Beurteilung des zunächst nicht geheuer Erscheinenden aus ist (vgl. Schenck 2017:317).
Werden die Erfahrungswirklichkeiten von Kindern aufgegriffen, dann haben wir es auch weniger mit einer Vermittlungspraxis im Sinne einer klassischen Belehrung zu tun, als vielmehr mit einer szenischen Praxis, in der der Lernende im Mittelpunkt steht. Bilden und Lernen vollzieht sich so gesehen durch ästhetische Erfahrungen, die durch, mit und in den Künsten initiiert werden (vgl. Lohfeld/Schittler 2014).
Die Besonderheit einer Praxis zeitgenössischer Theater-, Tanz- und Performancekunst liegt darin, dass der Körper daran beteiligt ist, an dem, was er selbst hervorbringt. Kunst hat es „von Hause aus mit Wahrnehmung, Ausdruck, Gestaltung und Darstellung, eben mit Sinnlichkeit zu tun“ (Zirfas 2015:25). Es sei der Körper-Leib, der als eigentliche Arena Ästhetischer Bildung gelten müsse. „Ästhetische Bildung ist dann nicht nur Kampf um den Geist, sondern vor allem Kampf um den Körper.“ (ebd.)
Zum Generationsverhältnis in den Künsten
Eine besondere Aufmerksamkeit ist in den letzten Jahren auf Langzeitprojekte von Performancekollektiven und Künstler*innen gerichtet, deren Aufführungspraxen Möglichkeitsräume im Generationsverhältnis thematisieren und mit den Mitteln des Theaters und der Performance unter den Aspekten Zeitlichkeit, Räumlichkeit und Leiblichkeit explizit bearbeiten (vgl. Westphal 2013; 2017a/b: 2018a/b).
Spektakulär und auf einem hohen Niveau professionell angelegte Produktionen von Künstler*innen mit Kindern wie die von Boris Charmatz mit Kindern und Tänzer*innen (enfant) aktuell an der Volksbühne mit Berliner Kindern re-inszeniert oder zuletzt die in Gent/Belgien (Campo) von Milo Rau (Five Easy Pieces), zuvor von Philippe Quesne (Next Day), von Gob Squad (Before your very eyes), von Tim Etchells (That night follows day) – legen es darauf an, mit Kindern Zuspitzungen in der Umkehrung des Generationenverhältnisses für Erwachsene zu inszenieren. Dazu gehören auch solche Gruppen wie Showcase beat le mot (animal farm/Farm der Tiere), die Stücke für Kinder und Jugendliche mit einem hohen Wahrnehmungs- und Appellcharakter in der Rolle als Zuschauer*innen bereiten. Bildungspotenziale sind in der Anlage dieser Inszenierungen insofern zu finden, als die spezifisch theatralen Darstellungsweisen selbst in das Dargestellte eintreten, aber auch darüber hinaus weisen. Berührt wird die Frage des Subjekts in der Weise, dass ein Selbst sich erst konstituiert durch den paradoxen Umstand, dass es sich stets selbst verfehlt. Wir haben es also bildungsphilosophisch gesehen mit einem Bildungs- und Subjektverständnis zu tun, dass prozessual, offen und dezentriert angelegt ist. Ein Theater, das zudem den Anspruch auf Selbstreflexion seiner eigenen Praxis beinhaltet, bedeutet ein „Verblassen der Begriffe“ (Lehmann 2013:622); sich, statt in der Sicherheit des Urteilens zu wiegen, auf den schwankenden Boden seiner Wahrnehmung zu begeben und die Sicherheit, was überhaupt „Handeln“ (ebd.) ist, zu befragen.
Abb 2. Szenische Momente aus Meret Kiderlen & Kim Willems: Die Natur der Kinder …oder wie wir eure Herzen treffen (Studio NAXOS - Premiere 2016)
Auch das Stück mit Kindern von Meret Kiderlen und Kim Willems, einer der Teilnehmer am Weiterbildungsprogramm Kunst_Rhein_Main, ist ein Beispiel für eine solche Vorgehensweise – auch wenn es nicht so spektakulär angelegt und großzügig ausgestattet ist wie die oben genannten Projekte. Das Projekt Die Natur der Kinder oder wie wir eure Herzen treffen (Abb. 1 und 2) befasste sich mit den Zuschreibungen von sogenannten Kinderexpert*innen wie einer Grundschullehrerin, einem Kindertherapeut oder Fußballtrainer und legte deren Aussagen in den Mund der Kinder. Umgekehrt haben Kiderlen und Willems wiederum die Beobachtungen der Kinder über Erwachsene und Eltern aufgegriffen und diese Aussagen als Erwachsene gesprochen. Hervorgeht aus dieser verfremdenden Verfahrensweise ein ungewöhnlicher humorvoller und nachdenklich machender Effekt, der das Generationenverhältnis, die Sichtweise der Kinder auf Erwachsene wie umgekehrt zu befragen weiß.
Fazit
So weichen die genannten Verfahrensweisen in mehrfacher Hinsicht von gewohnten Sicht- und Spielweisen ab: Im Mittelpunkt stehen in diesen Projekten Erkundungen nach den Perspektiven der Kinder auf die Erwachsenenwelt, nach den Unterschieden medialer Räume, wie den der Medien im Verhältnis zum theatralen Aufführungsraum und zur Erfahrungswirklichkeit der Kinder und nicht zuletzt nach dem ‘pädagogischen’ Ansatz, Medien/Theater/Tanz/Kunst mit Kindern nicht nur als bloße Vermittlung, sondern einer Form des Weitergebens im Generationsverhältnis zu verstehen. Theater/Tanz/Performance bedeuten, sie mit den Lebenssituationen der Kinder zu verknüpfen und die aus dem Alltag bekannten Medien als Reflexionsmedien für ein Spiel mit sich selbst als Anderer vor, mit und durch den Anderen einzusetzen. Das pädagogische Verhältnis gestaltet sich nicht als ein intendiert-didaktisch aufbereitetes Setting, vielmehr bekommt die Performancekunst in der Zuspitzung der Verhältnisse seine spezifische bildende Bedeutung. Sie fordert dazu auf, eine Haltung dazu einzunehmen. Die von uns untersuchten Performancemodelle – einige wurden im Rahmen der Weiterbildung eingeladen und sind in der Veröffentlichung dazu vertreten – zeichnen sich darin aus, dass sie uns einen Spalt öffnen zwischen der Welt der Kinder und der Welt der Erwachsenen. Indem die Kinder ihre Wahrnehmung von Welt- und Selbstverhältnissen einbringen, die Künstler*innengruppen die Kinder als Ko-Produzent*innen an ihrem ‘Handwerk’ teilhaben lassen, entsteht weniger ein Spiel, das – wie in vielen Kindertheatern üblich – auf Moral und Vermittlung von bestimmten Bedeutungen abhebt, als vielmehr ein Spiel, das gerade in der Anerkennung der dem Verhältnis ‘Erwachsener und Kind’ strukturell zu Grunde liegenden Ungleichheit seine Kraft und Brisanz entfaltet. Das Verhältnis zwischen Kind und Erwachsener wird in seiner Abweichung dabei weder nivelliert, noch aufgelöst oder fixiert, sondern wachgehalten. Nicht zuletzt wachgehalten für die Kinder und Jugendlichen selbst auf dem Wege zum Erwachsenwerden, zu einem zukünftigen Selbst also, von dem sie weder selbst noch die Erwachsenen wissen können, wie es sich entwickeln wird.