Kulturvermittlung in der DDR zwischen Auftrag und Wirklichkeit
Abstract
Wie sah die Praxis der Kulturvermittlung in der DDR aus? Dieser Beitrag skizziert exemplarisch anhand von drei Kultureinrichtungen – einer Einrichtung der Jugendkulturarbeit, der betrieblichen Kulturarbeit und der Ernsten Kunst, der Hochkultur – mit welchen Programmen und Formaten versucht wurde, den sich wandelnden gesellschaftspolitischen Verhältnissen und den Bedürfnissen des Publikums in vier Jahrzehnten der DDR gerecht zu werden.
Am Beispiel des Zentralen Klubs der Jugend, die Scheune, in Dresden, des Kulturhauses Wolfen und des Gewandhauses zu Leipzig wird folgenden Fragen nachgegangen: Welche kulturpolitischen Ziele verfolgten die Einrichtungen und wie setzten sie diese um? Welche Programme, Formate und Kooperationen wurden jeweils erprobt, um die gewünschten Zielgruppen zu erreichen? Welche Vorgaben gab es? Und welche Freiräume wurden genutzt? Abschließend werden ausgehend von den drei Kultureinrichtungen Aspekte der Kulturvermittlung in der DDR generiert sowie Impulse für die Gegenwart formuliert.
„Die Förderung der Künste, der künstlerischen Interessen und Fähigkeiten aller Werktätigen und die Verbreitung künstlerischer Werke und Leistungen sind Obliegenheiten des Staates und aller gesellschaftlichen Kräfte. Das künstlerische Schaffen beruht auf einer engen Verbindung der Kulturschaffenden mit dem Leben des Volkes.“ (Verfassung der DDR von 1968: Artikel 18)
Kunst, Kultur und ihre Vermittlung hatten einen staatlichen Auftrag. Verbunden war damit der Anspruch an die Arbeiterschaft „Erstürmt die Höhen der Kultur!“. Gefördert werden sollten sowohl die klassischen Künste und ihre Vermittlung als auch die sozialistische Gegenwartskunst sowie das künstlerische Volksschaffen und seit den 1970er Jahren auch die Unterhaltungskunst. Doch wie gelang es, Kunst und Kultur in den Alltag der Menschen zu integrieren?
Beispiel eins: Der Zentrale Klub der Jugend „Martin Andersen Nexö“ in Dresden – bekannt als Scheune
In der kriegszerstörten Dresdener Neustadt wurde als erstes Projekt des Nationalen Aufbauwerkes 1951 das Zentrale Jugendheim „Martin Anderson Nexö“ gebaut, der spätere Zentrale Klub der Jugend, der im Volksmund Scheune hieß. Das Gebäude in der Alaunstraße verfügte über einen Mehrzwecksaal mit 140 Plätzen und fünf Zirkelräume.
Anfangs wurde das Jugendheim ehrenamtlich geleitet, doch u.a. aufgrund der Einführung der Allgemeinen Wehrpflicht in der DDR 1962 fehlten zunehmend junge Engagierte. Deshalb erfolgte Anfang der 1960er Jahre die Umstellung auf hauptamtliche Mitarbeiter*innen.
Der Stellenplan des Zentralen Klubs der Jugend benennt 1980 elf hauptamtliche Mitarbeiter*innen: Leiter, stellvertretender Leiter, Ensembleleiter, Fachmethodiker Jugendklubarbeit, Fachmethodiker Zirkelarbeit, Fachdidaktiker Veranstaltungen, Verwaltungsleiter, Haushaltsbearbeiter, Sekretärin, Hausmeister, Reinigungskraft. 1985 waren 14 Mitarbeiter*innen im Jugendklub tätig.
Ziele des Zentralen Klubs der Jugend
Die Jugendklubarbeit war eng verknüpft mit der Bildungs- und Erziehungsarbeit junger Menschen: Im Plan zur Erfüllung des sozialistischen Wettbewerbes im Zentralen Klub der Jugend „Martin Andersen Nexö“ des Jahres 1984 hieß es: Die Jugendklubarbeit diente zur Herausbildung von Fähigkeiten, Fertigkeiten und Charaktereigenschaften wie
- „Bildung eines klaren und festen Klassenstandpunktes
- sozialistischer Patriotismus und proletarischer Internationalismus
- Freundschaft zur Sowjetunion und allen anderen Bruderländern
- aktives Handeln im Friedenskampf
- Stärkung der Verteidigungsbereitschaft
- Herausbildung eines stärkeren sozialistischen Demokratieverhaltens
- Aneignung eines hohen politischen und fachlichen Wissens
- Erhöhung des moralischen und ethischen Verhaltens in allen Bereichen der Gesellschaft, insbesondere in ihrer konkreten Arbeitswelt
- weitere Herausbildung positiver Charaktereigenschaften, wie Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit, Fleiß, Kollektivverhalten, Zuverlässigkeit“ (Mandel/ Wolf 2020:179).
Seit Beginn in Trägerschaft der Freien Deutschen Jugend (FDJ) verfolgte die Einrichtung diese Ziele bis 1990. Der Jugendklub sollte vor allem ein Ort der „sinnvollen Freizeitgestaltung“ und ein „Forum der politischen Diskussion“ sein. Ins Zentrum der Arbeit wurden in den 1980er Jahren Klub- und Veranstaltungsformen gestellt, „die gleichzeitig in der Lage sind, vorhandene Bedürfnisse Jugendlicher zu befriedigen und neue, der sich entwickelnden sozialistischen Gesellschaft gemäß, zu erwecken“ (ebd.). Dies sollte erreicht werden durch Jugendklubarbeit, Veranstaltungstätigkeit, künstlerische Jugendkollektive sowie Aktivitäten des Bezirks- und Stadtsingezentrums der FDJ. Viel Wert wurde auf die Vermittlung künstlerisch-handwerklicher Techniken in Zirkeln und Arbeitsgemeinschaften und die gezielte Förderung junger Talente gelegt. Verwirklicht werden sollten diese Ziele 1987 über ein Konzept, das auf Partizipation der Jugendlichen setzte:
„Es geht um die eigene schöpferische Aktivität der Besucher und Klubmitglieder. Grundlage dafür ist, immer mehr Jugendliche in die theoretische und praktische Arbeit des Hauses einzubeziehen. So werden wir stärker als bisher bei unseren Besuchern das ‚Eigentumsgefühl‘ entwickeln und zugleich das Bewußtsein über den Zusammenhang eigener Aktivität und Wahrnehmung der sozialistischen Demokratie entwickeln.“ (ebd.)
Programme und Formate
In der Nachkriegszeit wurden im Zentralen Jugendheim „Martin Andersen Nexö“ unter anderem Näh-, Koch- und Musizier- ebenso wie Film- und Fotografiezirkel sowie Tischtennis angeboten. Auch eine Bibliothek befand sich im Gebäude. Mitte der 1960er Jahre kam eine gastronomische Einrichtung hinzu. Lag der Fokus des ehrenamtlich geführten Hauses in den 1950er Jahren auf der Zirkelarbeit, wurden in den 1960er Jahren neue Formate etabliert wie ‚Songklub', ‚Jazzforum', ‚Rockpodium' und das hauseigene ‚Ensemble der Jungen Talente‘ . Große Resonanz fanden die Tanzabende, die von der privaten Tanzschule Jörg Trautmann durchgeführt wurden.
Das Jugendklubhaus offerierte 1967 regelmäßig 31 Zirkel: Einen Kammerchor, eine Hootenanny-Werkstatt (gemeinsames Volksliedersingen), zwei Gesangs- sowie je ein Technik- und Sprecherstudio, einen Schallplattenklub, eine Akkordeon- und zwei Ensemblegruppen, ein Gesangs- und Tanzensemble, eine Laientheatergruppe, eine Artistengruppe, einen Gesellschaftstanzkreis, einen Amateurfilm- und einen Fotozirkel, Zirkel für Kunstgewerbe und Modelleisenbahn, ein Tonstudio ebenso wie einen Moped-, zwei Schnitz-, vier Koch- und sechs Nähzirkel. Zudem fanden in diesem Jahr sechs Ausstellungen, 15 künstlerische Veranstaltungen, 97 gesellige und Tanz- sowie 40 Filmveranstaltungen statt.
Zu Beginn der 1980er Jahre erfolgte ein Generationswechsel. Neue, junge Mitarbeiter*innen wurden eingestellt, die Scheune optisch verjüngt und modernisiert und das Programm erneuert: Man bezog erstmals die Subkulturen der Punks, Schwulen, ‚Asozialen‘ und Pubertierenden in einen offiziellen Klub der FDJ ein. Musste die Klubleitung mit ihrem neuen Konzept anfangs noch starke Überzeugungsarbeit gegenüber der FDJ-Stadtleitung leisten, kürte die SED-Stadtleitung Dresden Mitte der 1980er Jahre die Scheune zum besten Jugendklubhaus. Die Scheune wurde staatlicherseits zum Vorbild für andere Jugendklubs und war sehr populär bei Jugendlichen, sie war angesagt: „Plötzlich galten wir als sozialistisches Aushängeschild – dabei haben wir nur das gemacht, was wir wollten. Busse aus dem Westen kamen mit Jugendlichen und diese verbrachten einen Abend in den fünf Räumen der Scheune“ (Mandel/ Wolf 2020:181), resümiert der Leiter Lothar Koch rückblickend.
Das Veranstaltungsprogramm war vielfältig: Schlager, Rock, Rap, HipHop, Kabarett. Bands wie Renft, Die Anderen und Die Skeptiker traten auf. Schallplattenvorträge, Lesungen, Kino und politische Diskussionen fanden statt ebenso wie die Programmreihen ‚Scheune Rock‘, ‚Scheune Kintopp‘, ‚Scheune Jazz, Folk und Tanz‘. Seit 1983 veranstaltete man jährlich das ‚Pressefest', ein Themenfest, für das das gesamte Haus umgebaut wurde. Es wurden neue Formate kreiert wie das ‚Liedercafé‘, einer Veranstaltungsreihe, die Liedermacher*innen, Folkmusiker*innen, Kabarettist*innen, Schriftsteller*innen und Poet*innen eine Bühne bot. Der Jugendklub entwickelte über die Jahre zielgruppenspezifische Veranstaltungsformate wie Wettbewerbe für Kinder und Jugendliche, Kinderveranstaltungen sowie Veranstaltungen für Jugendbrigaden und für junge Erwachsene.
Kooperationen
Der Zentrale Klub der Jugend „Martin Anderson Nexö“ war hervorragend vernetzt. Gepflegt wurden Kooperationen sowohl mit Betriebsberufsschulen, Polytechnischen Oberschulen und Erweiterten Oberschulen als auch mit Jugendbrigaden, FDJ-Grundorganisationen von sozialistischen Großbetrieben, mit Jugend-, Soldaten- und Studentenklubs, Klubs der Werktätigen und der Volkssolidarität. Der Jugendklub wirkte im Wohngebiet und Stadtteil, in der Stadt und darüber hinaus.
Wirkung: Das Publikum
Die Arbeit der Jugendklubs war planmäßig organisiert: Laut Arbeitsplan sollten Ende der 1970er Jahre pro Jahr 156.000 Besucher*innen erreicht werden: Gezählt wurden 1979 188.535 Besucher*innen. Die Zirkelteilnehmer*innen und das Publikum wurden jedoch immer älter, sie schienen seit Jahren dem Haus verbunden zu sein. Mit dem Generationswechsel zu Beginn der 1980er Jahre änderte sich das Publikum: Es setzte sich aus ca. 20-30% studentischer Jugend, 10-15% Schuljugend und 55-60% Arbeiterjugend im Alter zwischen 16 und 26 Jahren zusammen. Mit der Neukonzeption und der Einbindung alternativer Strömungen gelang es, junge Menschen aus unterschiedlichen sozialen Milieus zu erreichen. Vielfältige milieu- und altersübergreifende Zugänge wurden in den Zirkeln, Lesungen oder Ausstellungen sowie bei Tanzveranstaltungen, Konzerten oder im Café geboten.
Auftrag: Kunst und Kultur für alle!?
Der Zentrale Klub der Jugend „Martin Andersen Nexö“ war mit seinen Zielsetzungen und Programmen seit Anbeginn ein Ort der Dresdner Jugend und über die Grenzen der Stadt hinaus: Grundlegende Elemente bildeten die Zirkelarbeit, die gezielte künstlerische Förderung junger Talente sowie die breitenwirksamen Film-, Tanz- und Konzertveranstaltungen. In den 1980er Jahren wurde der Jugendklub zu einem Ort für die alternative Szene. Die FDJ-Stadtleitung schien dies zu dulden, denn es gelang dadurch viele junge Menschen zu erreichen und den Klub attraktiv zu machen und diese zugleich unter gelockerter, staatlicher Kontrolle zu halten.
Der Jugendklub war ein populärer Begegnungsort im Stadtteil: Durch Film- und Tanzveranstaltungen und das Café. Zudem sprach man die Nutzung der Räume durch externe Gruppen und Organisationen Menschen aller Schichten und Generationen an. Über ein weitreichendes Netzwerk zu Bildungs- und Kultureinrichtungen, zu Betrieben und Massenorganisationen, zu Berufs- und Volkskunstkünstler*innen und Kulturschaffenden wurden vielfältige Personenkreise angesprochen.
Die Dokumente der 1980er Jahre verdeutlichen eine Ambivalenz des FDJ-Jugendklubs bezüglich der offiziellen kulturpolitischen Ziele zur Entwicklung einer „kommunistischen Lebenseinstellung der Jugend“, wie sie in der Kulturpolitischen Aufgabenstellung 1985 beschrieben wurde, und den attraktiven zielgruppenspezifischen, jugendgemäßen Programmen: Die Scheune war ein angesehener Ort der Subkultur und stand zugleich unter Trägerschaft und Kontrolle der FDJ. Als Sinnbild für diesen Zwiespalt steht auch der Name: Obwohl das Haus allgemein als Scheune bekannt war, hieß es in der offiziellen Kommunikation weiterhin Zentraler Klub der Jugend „Martin Andersen Nexö“.
Beispiel zwei: Das Klubhaus der Werktätigen der Filmfabrik Wolfen
1910 begann Agfa im neu errichteten Werk in Wolfen die Produktion von Filmen und Farben. Für die zugezogene Belegschaft baute man Wohnhäuser, Kindergärten, ein Krankenhaus und eine Bibliothek. 1927 wurde das moderne, repräsentative Theater der Unterhaltungsabende auf dem Firmengelände eröffnet. Man offerierte für Arbeiter*innen und Angestellten Opern- und Konzert- sowie Operetten-, Schauspiel- und Heitere-Muse-Anrechte. Ab 1934 bestimmte die Deutsche Arbeitsfront das Programm. Im April 1945 wurde dieses Theater zerstört.
1946 bildete sich eine Gemeinschaft von Arbeiter*innen und Angestellten der Agfa-Filmwerke, die sich wöchentlich zur künstlerischen Arbeit traf und 1949 die erste Laienkunstausstellung durchführte. Walter Dötsch, ein Bildender Künstler aus Bitterfeld, übernahm 1949 diese Gruppe. Das betriebliche Kulturleben fand in der Aula der Wolfener Schule statt mit Unterhaltungsabenden, Lichtfilmvorträgen und Theateraufführungen. Das 1950 wieder aufgebaute Kulturhaus Theater der Werktätigen hatte einen multifunktionalen Theatersaal mit 900 Plätzen sowie weitere Räume. Es wurde 1954 in die Trägerschaft des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB) übergeben und hieß fortan Klubhaus der Gewerkschaften. Hinzu kamen eine Bibliothek und 1962 ein Werkrestaurant.
1964 wurden die Agfa-Markenrechte an das ‚Schwesterunternehmen‘ in der BRD verkauft und die Filmfabrik Wolfen firmierte fortan unter dem Label ORWO – ORiginal WOlfen. Mit 15.000 Werktätigen zählte sie zu den größten Betrieben der DDR.
1984 waren im Klubhaus 18 Mitarbeiter*innen angestellt: Neben dem Klubhausleiter und seiner Stellvertreterin waren dies die Leiter Brigadearbeit, Jugendkollektive, Patenschaften, Volkskunst, Kinder- und Jugendvolkskunstkollektive, Bühnentanz, Musik, Amateurfilmstudio, Bibliothek sowie Werkrestaurant. Ferner arbeiteten am Klubhaus ein Verwaltungsleiter, ein Grafiker, ein Mitarbeiter für die Theaterkasse, drei Mitarbeiter für die Veranstaltungen und Technik.
Ziele des betrieblichen Klubhauses
Das Klubhaus der Gewerkschaften war eine Einrichtung des FDGB im Fotochemischen Kombinat, dem Stammbetrieb der ORWO-Filmfabrik Wolfen. So verpflichtete sich die Kombinatsgewerkschaftsleitung im Betriebskollektivvertrag von 1975 u.a.:
„Das geistig-kulturelle Leben der Werktätigen des Werkes tief mit sozialistischem Ideengehalt zu durchdringen, in aller Breite und Vielfalt zu entwickeln und im sozialistischen Wettbewerb entscheidende Impulse für die Entwicklung eines sozialistischen geistig-kulturellen Lebens auszulösen.“ (Mandel/ Wolf 2020:186 f.)
Umgesetzt wurde diese Verpflichtung, indem die Kombinatsgewerkschaftsleitung jährlich mit der Kulturhausleitung kulturpolitische Aufträge vereinbarte, auch für die Arbeit der Volkskunstgruppen und Zirkel. Konkret hieß dies 1976:
„Diese Aufträge haben das Ziel,
- die künstlerische Entwicklung unserer Werktätigen in Volkskunstgruppen planmäßig zu gestalten,
- die politische und künstlerische Qualifizierung zu einem festen Bestandteil der Persönlichkeitsbildung werden zu lassen,
- die gesellschaftliche Wirksamkeit im Fotochemischen Kombinat, Stammbetrieb, zu erhöhen und das Erfolgserlebnis für den einzelnen Volkskünstler zu garantieren.
- Der künstlerische Leiter und die Leitung des Kollektivs werden verpflichtet, mit der Partei- und FDJ-Gruppe das politisch-ideologische Gespräch in den Volkskunstkollektiven zum Bestandteil der ständigen Weiterbildung der Mitglieder zu machen.“ (Mandel/ Wolf 2020:187)
Im Kulturkalender des Jahres 1985 wird beschrieben, was ein Kultur- und Bildungsplan einer Brigade beinhalten sollte:
- „weltanschauliche, marxistisch-leninistische Bildung
- Maßnahmen zur beruflich-fachlichen Weiterbildung und Qualifizierung
- Aktivitäten der Gewerkschaftsgruppe zur Verbesserung der sozialistischen Arbeitskultur
- Beschäftigung mit Kunst und Literatur sowie der eigenen künstlerischen Betätigung
- Maßnahmen zur kollektiven Erholung und Geselligkeit sowie zur Förderung von Körperkultur und Sport
- Verantwortung gegenüber der Gesellschaft für die Erziehung der jungen Generation“ (ebd.).
Die programmatische Umsetzung
Mit der Eröffnung des wiederaufgebauten Theaters der Werktätigen 1950 knüpfte man in Wolfen an die Vorkriegstradition an und bot Theateranrechte an: Es gastierten die Theater aus Dessau, Bernburg, Köthen und Wittenberg sowie prominente Solist*innen. Im Theatersaal wurden regelmäßig Filmvorstellungen angeboten. Dort präsentierten auch die Akteure der Laien-Zirkel ihre Arbeiten; zudem war dies ein Ort für gesellige Unterhaltung, Jugendweihen oder Festakte zum Frauentag, 1. Mai oder Tag der Republik. Parallel fanden regelmäßig die Angebote der Zirkel statt. Vor allem an den Wochenenden veranstaltete man Familiennachmittage und Tanzveranstaltungen.
Programme und Formate
Das Klubhaus der Werktätigen setzte in den 1960er Jahren neben den Theater-, Tanz-, Konzert- und Filmveranstaltungen den Fokus auf die Zirkelarbeit. Mit professioneller Unterstützung des Landestheaters Dessau wurden Theater-, Gesangs- und Tanzzirkel für Kinder und Jugendliche ebenso für die Belegschaft der Filmfabrik aufgebaut. Der Maler Walter Dötsch und der Bildhauer Ilie Streicher leiteten die Zirkel der Bildenden Kunst. Der Schriftsteller Gerhard Fabian leitete den Zirkel der Schreibenden Arbeiter. Ferner gab es Fotografie-, Philatelie- und Nähzirkel sowie einen Jugend- und Konzertchor, ein Mandolinen-, ein Blas- und ein Konzertorchester sowie das ‚Film-Tanz-Orchester‘, das nicht nur an den Wochenenden in Wolfen, sondern republikweit auftrat. 1968 wurde das Kabarett ‚Extremisten‘ gegründet. Oft wurden die Werke der Zirkel auch als Kulturprogramm bei offiziellen Anlässen aufgeführt oder u.a. während den Händelfestspielen, den Arbeiterfestspielen oder im Rahmen der großen Kunstausstellung 1962 in Dresden präsentiert. Gastspiele im In- und Ausland, die Teilnahme an nationalen und internationalen Wettbewerben, Fernseh- und Radioaufnahmen von Auftritten der Amateur- und Volkskunstkünstler*innen sind Zeichen für die hohe künstlerische Qualität der Wolfener Zirkelarbeit. Neben Schlager- und Fernsehstars gastierten im Kulturhauses die Dresdner Philharmonie genauso wie das Leningrader Operntheater, ein Gesangs- und Tanzensemble aus China oder Marcel Marceau, ein französischer Pantomime. Die Gastspiele machten das Kulturhaus überregional bekannt.
In den 1970er Jahren bot das Kulturhaus ein breites Spektrum an künstlerisch-kulturellen Angeboten, die zielgruppenspezifisch konzipiert waren. Ein Baustein waren populäre Musik- und Tanzveranstaltungsreihen wie ‚Magazin der Frau‘, ‚… und abends gehn wir tanzen‘ oder ‚Optimismus im Dreiklang‘, die in den 1980er Jahren fortgesetzt wurden.
In der ORWO-Filmfabrik wurde im Schichtbetrieb gearbeitet. Für die Schichtarbeiter*innen gab es spezielle Veranstaltungen am Nachmittag genauso wie für die Rentner*innen.
Als zweiter Baustein wurden die Anrechte (Abonnements) ausgebaut: Zusätzlich offerierte wurden ein Vorschul- und ein Schülertheateranrecht sowie ein Jugendtheateranrecht ebenso die Foyerkonzerte. Für die Brigaden wurde angeboten eine „Einführungen in die Konzerte, um auch Mitarbeiter unseres Werkes zu interessieren, die sich bisher dieser Musik fernhielten“ (Mandel/ Wolf 2020:190). Man unterstützte die Brigaden, um allen Kollektiven im Rahmen ihrer Kultur- und Bildungspläne die Möglichkeit für einen kollektiven Theaterbesuch zu geben.
Der dritten Baustein bildeten die Zirkel: 1976 wurden 20 zumeist künstlerische Zirkel für Erwachsene, drei explizit für Kinder und sieben für junge Menschen angeboten, die auch in den 1980er Jahren weitgehend gleichbleibend fortgeführt wurden. Zugleich waren die Förderung der künstlerischen und handwerklichen Fähigkeiten, die Teilnahmen an Wettbewerben, der Besuch von Ausstellungen und das Gespräch mit Kunstschaffenden integraler Bestandteil der Zirkelarbeit, die vom Klubhaus finanziert wurden.
Kooperationen
Neben den Theatern der Region pflegte das Klubhaus der Werktätigen ein weites Netzwerk zu Künstler*innen, die die Zirkel anleiteten, ebenso wie zu Schriftsteller*innen, Musiker*innen und Schauspieler*innen, die auf der Bühne auftraten. Diese Zusammenarbeit wurde kontinuierlich ausgebaut.
Das Klubhaus war auch ein Ort für Tagungen und Veranstaltungen der ORWO-Filmfabrik, der Massenorganisationen ebenso wie der Schulen der Umgebung.
Es verantwortete auch die geistig-kulturelle Betreuung im Territorium. In der Gaststätte Wolfen-Nord fanden regelmäßig gesellige Reihen wie ‚Stammtischrunde um Mitternacht', ‚Frühschoppenkonzerte' ebenso wie Familiennachmittage, Kinder- Jugendveranstaltungen und Veranstaltungen für Rentner*innen im Alters- und Pflegeheim statt. In der POS „Wilhelm Pieck“ probten wöchentlich das Pionierblasorchester und in der Goethe-Schule der Kinder- und Jugendchor.
Wirkung: Das Publikum
Im Verhältnis zu den etwa 15.000 Werktätigen der Filmfabrik und den 18 hauptamtlichen Mitarbeiter*innen des Kulturhauses sind die Besucher*innenzahlen überschaubar. Dies gilt auch für die etablierten Zirkelangebote der Werktätigen: 1985 zählte das Blasorchester 25 Musiker*innen, das Estradenorchester 28 Musiker*innen, der Chor der Chemiearbeiter 30, der Veteranenchor 25 Sänger*innen sowie das Arbeitertheater 8 Schauspieler*innen. Das Kinder- und Jugendballett hatte 107, der Kinder- und Jugendchor 40, die Kinder- und Jugendbühne 20, das Pionierblasorchester 40, der Kinder- und Jugendmalzirkel 22 Mitglieder. Deren Kapazitäten waren jedoch nicht ausgelastet, für das Gros der Zirkel waren Neuaufnahmen möglich.
Auftrag: Kunst und Kultur für alle!?
Das an ein Kombinat angebundene, fernab der Großstädte liegende Klubhaus der Gewerkschaften, stellte für die Belegschaft und die Region ein breites künstlerisch-kulturelles Angebot bereit. Das Kulturhaus bot eine Bühne für internationale und nationale Künstler*innen sowie für Amateure der regionalen Zirkel des künstlerischen Volksschaffens. Eher traditionell ausgerichtet war die Zirkelarbeit, die jedoch breit in der Ansprache der Zielgruppen aufgestellt war – vom Kinder- und Jugendchor, über den Chor der Chemiearbeiter bis zum Veteranenchor. Viele der Zirkel wurden von Werktätigen ehrenamtlich aus Enthusiasmus geleitet. Dank zusätzlicher Qualifikationen konnten die Zirkelleiter*innen in der Vermittlungsarbeit ein hohes Niveau erlangen. Die Zirkel, die von professionellen Künstler*innen betreut wurden, erhielten für ihre Präsentationen national und international Anerkennung: Dies gilt sowohl für die Darbietungen der Volkskunstgruppen als auch der Kinder- und Jugendgruppen. Die Hälfte der Zirkelteilnehmer*innen waren Kinder und Jugendliche.
Zahlreich kamen die Besucher*innen zu den Theateranrechten sowie zu Tanz-, Film- und Familien- und Großveranstaltungen insbesondere an den Wochenenden. An Nachmittagen offerierte man für die Schichtarbeiter*innen sowie Rentner*innen Veranstaltungen.
Das Klubhaus der Gewerkschaften verstand sich als Partner der Brigaden: Es organisierte gezielt Vermittlungsangebote für die Werktätigen der Filmfabrik, um sie in die klassische Musik einzuführen oder Theaterfahrten zu organisieren. So wurden die Kollektive bei der Realisierung ihrer Kultur- und Bildungspläne im Rahmen des sozialistischen Wettbewerbes unterstützt.
Dem Kulturhaus gelang der Spagat zwischen Provinz und Prominenz: Es war über die Grenzen Wolfens bekannt. Dazu trugen prominente Künstler*innen auf der Wolfener Bühne ebenso bei wie Wolfener Volkskunstkünstler, die auswärts gastierten. Die meisten Programme waren eher traditionell, unterhaltend und zumeist systemkonform. Kritische, gar subversive Stimmen waren aus Wolfen kaum zu vernehmen.
Beispiel drei: Das Gewandhaus zu Leipzig
16 musikbegeisterte Leipziger Bürger unterstützten die Gründung eines Orchesters, das erstmals 1743 zum ‚Großen Concert‘ einlud. Ab 1781 spielten die Musiker in der Halle der Tuchmacher die ‚Gewandhauskonzerte‘. Der Saal wurde zum Zentrum des Leipziger Musiklebens: Hier gastierte Wolfgang Amadeus Mozart 1789, war Felix Mendelssohn Bartholdy von 1835 bis 1847 Gewandhauskapellmeister und wurden viele Sinfonien uraufgeführt wie von Robert Schumann und Franz Schubert. Der Ruf der Musikstadt Leipzig ist eng verbunden mit dem seit 1840 städtischen Gewandhausorchester. 1884 wurde das Gewandhaus eröffnet, das 1944 durch Bombenangriffe zerstört wurde.
Jahrzehnte nach dem 2. Weltkrieg konzertierte das Orchester in Interims, bevor 1981 das Gewandhaus gegenüber der Oper eingeweiht wurde. Der Große Saal mit der Schuke-Orgel und 1.729 Plätzen, der Kleine Saal mit 498 Plätzen sowie das Foyer boten Raum für eine Vielzahl von Veranstaltungsformen. Neben der Staatskapelle Berlin und der Staatskapelle Dresden zählte das Gewandhausorchester zu den A-Orchestern der DDR mit den besten Musiker*innen des Landes.
Ziele einer Einrichtung der Ernsten Kunst
Die Pflege der Klassik – der Ernsten Kunst – genoss in der DDR einen sehr hohen Stellenwert. Bereits im Herbst 1945 wurden in Leipzig die 1. Musik- und Theaterwochen unter Beteiligung des Thomanerchores und des Gewandhausorchesters initiiert. Gespielt wurden ausschließlich Werke sowjetischer Autoren und Komponisten. Später legte man großen Wert darauf, dass neben den klassischen Kompositionen auch moderne bzw. zeitgenössische Werke zu Gehör gebracht wurden. Komponisten wie Siegfried Thiele, Udo Zimmermann oder Fritz Geißler wurden beauftragt, Werke für das Gewandhausorchester zu schaffen.
Die programmatische Umsetzung
Die jeweiligen Gewandhauskapellmeister Herbert Albert (1946-1949), Franz Konwitschny (1949-1962), Václav Neumann (1964-1968) sowie Kurt Masur (1970-1996) prägten das Orchester inhaltlich-musikalisch und repräsentierten es als künstlerischen Leiter. Václav Neumann kündigte 1968 die Position aus Protest gegen den Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes in seine Heimat, die Tschechoslowakei. Besonders Kurt Masur prägte maßgeblich den internationalen Ruf des Orchesters. Das Gewandhausorchester war auf Grund seines Weltrufes und seiner hohen musikalischen Qualität ein Devisenbringer für die DDR. Das bot dem Gewandhaus ein gewisses ‚Insel‘-Dasein, eine künstlerische Freiheit im begrenzten Land.
Die vielfältige Programm- und Angebotsstruktur des Gewandhauses sollte „der kulturell-ästhetischen und politisch-ideologischen Erziehung – besonders junger Persönlichkeiten“ dienen (Mandel/Wolf 2020:196). Auf den Bildungs- und Erziehungsauftrag wurde immer wieder verwiesen. In den 1970er Jahren sollte u.a. die Zahl der Konzertbesucher*innen erhöht werden: „Schwerpunkt der Arbeit des Gewandhauses hinsichtlich des gesamtgesellschaftlichen Lebens im Territorium ist die fortlaufende Neugewinnung von Konzertbesuchern, die Erhöhung der Anrechtszahlen auf Grundlage künstlerischer und kulturpolitisch wirksamer Konzerte“ (ebd.). Für die Werktätigen sollte zudem durch Musikwissenschaftler*innen und Komponisten Musikvermittlung zur Einführung auf die Konzerte erfolgen. Außerdem sollten auch die Musiker*innen eine politische Bildung erfahren: „Allen Kollegen sollen die Grundzüge der gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Entwicklungen in der DDR und im internationalen Rahmen auf Grundlage des Marxismus-Leninismus erläutert werden sowie die aktuellen Fragen unserer künstlerischen Entwicklung und der Verantwortung des Gewandhausorchesters“ (ebd.). Dazu wurde 1970 vom Abteilungsleiter Kultur der Stadt Leipzig beschlossen, jährlich die ‚Woche der Weiterbildung‘ mit allen Orchestermitgliedern verpflichtend durchzuführen unter Verantwortung der Gewerkschaft und Beratung der Parteileitung.
Programme und Formate
Das ‚Große Concert‘ war seit 1743 das Markenzeichen des Orchesters: Dieses (Anrechts-)Konzert begann jeweils mit einer halbstündigen Werk-Einführung.
Die musikalische Erziehung und Bildung von Kindern und Jugendlichen fand frühzeitig Ausdruck in der Vermittlungsarbeit des Gewandhausorchesters. 1950 initiierte der Gewandhauskapellmeister Franz Konwitschny die Tradition der Schülerkonzerte für alle Leipziger Schüler*innen. Seitdem stehen in jeder Spielzeit zwei, drei (Berufs-)Schülerkonzerte auf dem Spielplan.
Mit der Gewandhaus-Saison 1969/70 wurde Kurt Masur als Gewandhauskapellmeister berufen, ihm folgten 25 junge Musiker*innen. Mit dieser Verjüngung des Orchesters ging auch eine Weitung und Verjüngung des Programms und des Publikums einher. Zehn Kammermusikvereinigungen entstanden. Die jungen Musiker*innen spielten an verschiedenen Orten in und um Leipzig. Sie beteiligten sich am ‚Konzertwinter auf dem Lande‘, musizierten und erläuterten Musikwerke vor Angehörigen der Nationalen Volksarmee oder vor Schüler*innen. Als kleines Format wurde die ‚Stunde der Musik‘ etabliert, um ein anderes Publikum anzusprechen. 1974 wurde der Gewandhauskinderchor gegründet. Die Kinder erhielten einerseits eine musikalischen (Gesangsaus-)Bildung, andererseits erreichte man mit dem Kinderchor und dessen Repertoire ein junges Publikum. Das Vermittlungsangebot für Jugendliche war der Gewandhaus-Jugendklub.
1981 wurde das neue Gewandhaus-Gebäude eingeweiht. Zeitgleich kamen in das Team der Gewandhausdramaturg Steffen Lieberwirth, der Gewandhausorganist Matthias Eisenberg und der Gewandhauschorleiter Georg Christoph Biller, alle um die 30. Rückblickend sagt Steffen Lieberwirth: „Wir haben nach Formen gesucht, jüngere und breitere Publikumskreise zu erreichen.“ (Mandel/ Wolf 2020:197) Wöchentlich fand die Stunde der Orgelmusik statt, das Orgelanrecht war ein Novum, die Konzertreihe zeitgenössischer Musik ‚Musica nova‘ wurde initiiert, auch Kammermusik-Anrechte kamen hinzu.
Ein neues Format war ‚Begegnung im Gewandhaus‘, das zum Beispiel mittels Schallplattenvorträgen zur Pop- und Rockgeschichte ein junges Publikum erreichen wollte. „Es gab einen Vortrag zu Bob Marley, da war so ein Andrang, dass der Gewandhausdirektor Karl Zumpe entschied, den Großen Saal zu öffnen. Der war brechend voll und die Menschen waren begeistert. Das waren auch Ventile. Es zeigte sich, da ist eine Generation, die will nicht mehr in den Schranken der DDR-Kulturpolitik sein.“ (ebd.)
Kooperationen
In der Musikstadt Leipzig brachte das Konstrukt des städtischen Gewandhausorchesters mit sich, dass die Musiker*innen sowohl am Gewandhaus zu Leipzig, der Oper Leipzig und der Thomaskirche – den Thomanerchor begleitend – spielten. Eng verbunden waren die Musiker*innen traditionell mit der Leipziger Musikhochschule „Felix Mendelssohn Bartholdy" – als Absolvent*innen oder Dozent*innen – sowie der Musikschule „Johann Sebastian Bach“, dem Bacharchiv und weiteren Einrichtungen der Musikstadt Leipzig. Neben den Konzerten im Gewandhaus musizierten die Orchestermitglieder bei zahlreichen gesellschaftlichen Anlässen wie Jugendweihen, zu politischen Feierstunden zum Tag der Republik oder 1. Mai. Ferner unterhielt das Gewandhaus Patenschaften zu Leipziger Betrieben: Zu Beginn der 1980er Jahre hatte es mit 75 Betrieben Verträge für 4.113 Einzelanrechtler*innen und 2.044 Betriebsanrechtler*innen. Die zahlreichen Kammermusikensembles spielten in Leipziger Schulen, Betrieben und bei offiziellen Anlässen ebenso an Orten der DDR-weiten Reihe ‚Konzertwinter auf dem Lande‘ oder gingen landes- oder weltweit auf Tournee.
Wirkung: Das Publikum
Seitens der Stadt Leipzig hatte das Gewandhaus 1970 den Auftrag, die Anzahl der Arbeiter*innen und Jugendlichen für seine Angebote zu erhöhen. Dafür warb man in Großbetrieben der Region. In den 1970er Jahren stieg die Anzahl der Anrechtler*innen kontinuierlich an: Waren es in der Saison 1969/70 3.355, gab es 1974/75 5.872, darunter 451 junge Menschen. Diese Steigerung war insbesondere auf das Wirken Kurt Masurs zurückzuführen. Neben den musikalischen Leistungen verstand er es sehr gut, eine persönliche Bindung zum Publikum aufzubauen: Er bezog die ‚Konzertfreunde‘, den Freundeskreis, in die Planung ein.
Die große Nachfrage belegt, dass insbesondere das Werben um junge Menschen für die klassische und zeitgenössische Musik Wirkung zeigte. Das Gewandhausorchester lud seit 1950 Leipziger Schulklassen in ihre Spielstätte ein und Orchestermitglieder musizierten in Schulen. Die musikalische Bildung junger Menschen wurde neben den Schülerkonzerten, durch den Gewandhauskinderchor, den Gewandhaus-Jugendklub oder die Veranstaltungsreihe Begegnung im Gewandhaus gefördert. Ab den 1970er Jahren wurden die inzwischen Erwachsenen zum (Stamm-)Publikum. Das führte dazu, dass die Nachfrage nach Anrechtskarten höher als das Angebot war. Mit der Eröffnung des Gewandhauses wurde das ‚Große Concert‘ an zwei Abenden mit nunmehr 48 statt 40 Anrechtskonzerte pro Spielzeit aufgeführt. Hingegen wird ausgeführt, dass „bei der Heranführung der Arbeiterklasse an die sinfonische Musik nur geringe Fortschritte zu verzeichnen waren“ (Mandel/ Wolf 2020:199).
Auftrag: Kunst und Kultur für alle!?
Das Gewandhausorchester hat eine lange Tradition in der Musikstadt Leipzig. Es steht für höchste musikalische Qualität. Die Konzerte des Gewandhausorchesters wurden im Radio und Fernsehen übertragen und auf Schallplatten gepresst: Jede*r konnte sie hören. In den Konzerten wurden klassische und moderne, zeitgenössische Kompositionen aus Ost und West aufgeführt. Weltweit bekannte Solist*innen und Orchester gastierten im Gewandhaus ebenso wie das Gewandhausorchester weltweit unterwegs war.
Pro-aktiv wurden Arbeiter*innen und junge Leute angesprochen. Für jedes Konzert wurden Einführungsvortrag und Programmheft als Vermittlungsangebote offeriert, die in ihrem Duktus einem musikwissenschaftlichen Anspruch hatten. Ob es dieser elitäre Anspruch war oder die Ernste Musik: Trotz vielfältiger Formate und Formen der musikalischen Werbung in den Betrieben erreichte man die Arbeiter*innen kaum. Erfolgreich war man hingegen im Werben und Bilden der Jugend. Insgesamt gab es eine große Nachfrage, so dass man versuchte, den Bedarf durch mehr Konzerte und kleinere Anrechtsserien zu decken.
Zwischen politisch-ideologischen Vorgaben und Auftritten am 1. Mai oder dem Tag der Republik war das Gewandhaus eine Insel, von der für alle ein vielschichtiger Weitblick in die (Bildungs-)Welt der Musik geboten wurde: Klassische Musik und Musical, Dmitri Schostakowitsch und Bob Marley, Alte Musik und Uraufführungen. Dafür standen die Orchestermusiker*innen, die Musikvermittler*innen und vor allem die Integrität Kurt Masurs, der diese Freiheit ermöglichte.
Fazit: Für alle Kunst und Kultur
Die drei prototypische Kultureinrichtungen unterscheiden sich in Hinsicht auf Traditionen, Programme, Kulturformen, Träger sowie der Lage in der Stadt oder auf dem Land, aber auch in Bezug auf die Zielgruppe(n). Sie repräsentieren einen großstädtischen Jugendklub, ein betriebliches Kulturhaus in der Provinz sowie eine der prominentesten klassischen Kulturinstitutionen der DDR. Exemplarisch wurde skizziert, mit welchen Programmen und Formaten versucht wurde, den sich wandelnden gesellschaftspolitischen Verhältnissen und den Bedürfnissen des Publikums gerecht zu werden. Vehement wurde seitens der Träger – der Freien Deutschen Jugend, dem Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes und dem Rat der Stadt – darauf gedrungen, alle Bevölkerungsgruppen, insbesondere die Arbeiter*innen zu erreichen. Verbunden war dies mit dem Bildungs- und Erziehungsauftrag: Der Vermittlung von fachlichen Kenntnissen sowie der Entwicklung künstlerischer und handwerklicher Fähigkeiten. Außerdem sollte das geistig-kulturelle Leben der Werktätigen tief mit dem sozialistischen Ideengehalt durchdrungen und in aller Breite und Vielfalt entwickelt werden.
Trotz der Verschiedenheit der Einrichtungen sind folgende Aspekte in Hinsicht auf kulturelle Teilhabe und Kulturvermittlung evident:
- Alle drei Kultureinrichtungen hatten den politischen Auftrag, zur Entwicklung eines sozialistischen, geistig-kulturellen Lebens beizutragen.
- Sie mussten zu offiziellen Fest- und Feiertagen der DDR das kulturelle Rahmenprogramm beisteuern.
- Auf den Bühnen traten Laien ebenso wie DDR- und weltweit bekannte Künstler*innen auf.
- Für bzw. mit Kindern und Jugendlichen gab es spezifische künstlerische Angebote wie das ‚Ensemble der Jungen Talente‘, das Kinder- und Jugendballett in Wolfen oder den Gewandhaus-Kinderchor. Deren Angebote erreichten ein junges Publikum und deren Familien.
- Eine Vielzahl von Wettbewerben auf Schul-, Stadt- bzw. Kreis-, Bezirks- und DDR-Ebene förderten systematisch junge Talente ebenso wie die Ensembles des künstlerischen Volksschaffens und stellten deren Werke auch via Presse, Radio und Fernsehen einem breiten Publikum vor.
- Kooperationen mit Schulen, Betrieben, gesellschaftlichen Massenorganisationen, anderen Kultureinrichtungen, Patenbrigaden, Künstler*innen etc. wurden langfristig gepflegt.
- Professionelle Künstler*innen, Musiker*innen, Schriftsteller*innen, Schauspieler*innen waren fester Bestandteil der Vermittlungsarbeit.
- Zugleich wurde ehrenamtliches Engagement in den Kultureinrichtungen unterstützt und gefördert und von vielen praktiziert, sei es als Zirkelleiter*innen oder als Mitgestalter*innen von Programmen.
- Zirkelleiter*innen wurden für ihre Vermittlungsarbeit mithilfe von Seminaren und Werkstätten des Zentralhauses für Kulturarbeit sowie dessen Bezirks- und Kreiskabinette für Kulturarbeit qualifiziert.
- Die Zirkelarbeit war neben dem eigenen künstlerischen Schaffen und Präsentieren der Werke bei Wettbewerben oft verbunden mit Besuchen von Ausstellungen bzw. Aufführungen professioneller Künstler*innen.
- Vor Konzert-, Theater- und Opernaufführungen wurden Einführungen in das Werk bzw. die Werke angeboten.
- Mittels eines breiten Spektrums an unterschiedlichen Kulturprogrammen, einschließlich Tanzveranstaltungen und jugendgemäßen Formaten, sollten alle angesprochen werden.
- Um die unterschiedlichen Zielgruppen erreichen zu können, war man flexibel in den Zeiten: vormittags wurden Schülerkonzerte oder nachmittags Programme für Schichtarbeiter*innen bzw. Rentner*innen sowie am Wochenende für die Familien angeboten.
- Die Kultureinrichtungen strahlten in die Regionen aus, indem sie Kooperationen zu Schulen, Betrieben, Sozialeinrichtungen und anderen Kultureinrichtungen kontinuierlich pflegten, ihre Räumlichkeiten anderen gesellschaftlichen Organisationen zur Verfügung stellten, aber auch ihre künstlerisch-kulturellen Programme in Betrieben oder Altersheimen präsentierten.
- Die Kultureinrichtungen integrierten ein gastronomisches Angebot.
- Über die Jahrzehnte wuchsen zum einen die Anzahl der Formate und Angebote und zum anderen die Zahl der Mitarbeiter*innen kontinuierlich.
- Persönlichkeiten wie Lothar Koch und Gunther Neustadt als Leitungsduo der Scheune mit ihren alternativen Programmen und Partys, Christa Künne als Leiterin des DDR-weit bekannten Kinder- und Jugendballetts der Filmfabrik Wolfen oder der Gewandhauskapellmeister Kurt Masur erreichten eine weitreichende Popularität und erkämpften Freiräume auch für alternatives kulturelles Schaffen.
Zusammenfassend ist zu konstatieren, dass die drei exemplarisch ausgewählten Kultureinrichtungen eine Vielfalt von Programmen und Formaten anboten und eine Vielzahl von Kooperationen eingegangen waren, um ein möglichst breites Publikum ansprechen zu können. In Bezug auf die Vermittlung der Ernsten Kunst gelang dies für die anvisierte Zielgruppe der Arbeiter*innen nur bedingt; deutlich erfolgreicher war die Ansprache junger Menschen.
Für alle Kunst und Kultur: Impulse für die Gegenwart
Eine generelle Erkenntnis des Forschungsvorhabens ist, dass trotz kostengünstiger, flächendeckender und alltagsnaher Vermittlung von Kunst und Kultur für alle Bevölkerungsschichten es auch in der DDR nur bedingt gelang, dass Interesse aller für die Werke der Hochkultur zu wecken: Denn diese Zugänge werden zumeist durch das familiäre und soziale Umfeld sowie Bildungsniveau und Beruf geprägt. Vertraut sind den meisten Menschen hingegen die künstlerisch-kulturellen Formen der Breiten-, Unterhaltungs- und Pop-Kulturen. In der DDR führte diese Erkenntnis zur Entwicklung des breiten Kulturbegiffes in den 1970er Jahren. Die Grundlage des kulturpolitischen Handelns im Sinne einer „Kultur für alle" sollte deshalb der breite Kulturbegriff bilden: also die gleichwertige Förderung und Anerkennung von Hoch- und Breitenkultur ebenso wie die systematische und mannigfaltige (Kultur-)Vermittlungsarbeit von der frühen Kindheit bis ins hohe Alter. Insbesondere die in Bildungsplänen verankerte, planmäßige Kulturvermittlung an Kinder und Jugendliche ebnet die Zugänge zu den produktiven und rezeptiven Künsten außerhalb des familiären und sozialen Umfeldes. Eine chancengerechte Teilhabe aller kann durch vielfältige, kontinuierliche Kooperationen zwischen Kitas, Schulen, Aus- und Weiterbildungseinrichtungen, Betrieben sowie Künstler*innen, Kulturschaffenden und Kultureinrichtungen gezielt befördert werden. Um dies nicht nur als freiwillige Leistungen der Kommunen und Länder zu sehen, sollte die Förderung von Kunst und Kultur als Aufgabe des Staates im Grundgesetz verankert sein.