Kulturelle Bildung als ungesicherte Praxis
Abstract
Zeiten starken gesellschaftlichen Wandels können den Reflex auslösen, aktuelle Fragen konkret auf das Feld der Kulturellen Bildung zu beziehen und entsprechende Inhalte in bestehende Modelle einzuweben. Anstelle solcher Reaktionen wird in diesem Aufsatz die Rückbesinnung auf offene künstlerische Denk- und Handlungsweisen vorgeschlagen. Diese zielen nicht auf eine Festlegung und Optimierung des eigenen Standortes, sondern auf die Begegnung mit dem Unverfügbaren als lebendige, risikoreiche und singuläre Auseinandersetzung mit sich selbst, Anderen und Anderem. In der Konfrontation mit den überfordernden Problemen unserer Zeit beim eigenen sinnlichen Denken zu beginnen, mag unbedeutend erscheinen: Stark ist dieser Zugang, weil er lebendig und eigenverantwortlich ist und verbindet, ohne einen Standpunkt zu fixieren. Dabei bezeichnet der Begriff der Verbundenheit in diesem Artikel zunächst eine künstlerisch-produktive Haltung und wird anschließend als Beziehung in Gegenseitigkeit pädagogisch gedeutet: Leben ist Bildung als Bewegung, die sich im Austausch befindet, Teilhabe ist Mitteilen und Teilen. Die Folge dieser produktiven Selbst- und Weltverständigung ist Transformation.
Orte Kultureller Bildung
Als eine afroamerikanische Zuhörerin nach dem Vortrag von Charles Ray „Thoughts on Sculpture I“ in der Menil Collection in Houston den Künstler auf die Problematik anspricht, dass er vor westafrikanischen Masken steht, die über imperial-kolonialistische Wege in den Besitz der Sammlung übergegangen sind, findet er – vorsichtig tastend – herausfordernde Worte. Die Zuhörerin nimmt die spezifische Situation Kultureller Bildung als historisch aufgeladen und schmerzvoll wahr und fragt, ob es nicht eine künstlerisch-politische Antwort gäbe. Er entgegnet:
„Some people [...] say, that these objects [die westafrikanischen Masken – K.H.] belong to humanity. Other people say, that's ridiculous. [...] What are these things? They are things, they are artefacts, that human beings made. Who owns them? The post-colonial question is extremely powerful and interesting and it's also like playing a little bit with guns. You need to work it rather than [...] separate people with it. The real work that needs to be done, the real deep thinking that has to come from it, doesn't have an answer, but has a multitude of solutions and directions – to try to build the world with. The world is always falling apart and – isn't that we have to repair it – we have to build it, we have to make it.“ (Ray 2015, von K.H. nach Gehör übertragen)
Charles Rays Worte sind nicht zynisch gemeint, sie beschreiben den kraftvollen Ausgangspunkt künstlerischen Denkens: Sich mit einer Frage an einem wirklich großartigen Ort zu befinden, von dem aus gearbeitet, das heißt, intensiv nachgedacht werden kann und muss, mit der Gewissheit, keine eindeutigen Antwort zu finden.
Ray misstraut dem verherrlichenden Aspekt einer kritisch-politischen Frage, wenn sie der Affirmation eines Standpunktes dient. Wenn Positionen feststehen, Antworten bereits gegeben sind, ist weder ein eigenes, risikoreiches Denken noch ein möglicherweise verunsichertes Nachspüren unter der Oberfläche erforderlich. Solche Haltungen ziehen Grenzen und grenzen aus.
Die Irritation einer (Kunst-)Begegnung gilt es auszuhalten, ohne sich abzuwenden oder vorschnell auf fremde Antworten zurückzugreifen. Dies mag auch für die aufwühlende Konfrontation mit soziopolitischen oder ökologischen Missständen gelten, so dringlich ein Handeln auch geboten ist. Wenn Kulturelle Bildung in transformatorische Prozesse münden soll, bedarf es der Unverfügbarkeit künstlerischen Handelns. Unverfügbarkeit wird dabei im Sinne Hartmut Rosas als Aufgabe von gesicherten Annahmen verstanden, die zu Kontrolle und Funktionalisierung führen und dabei eine lebendige Begegnung mit sich und der Welt verhindern (Rosa 2017:476f.). Lebendigkeit entsteht aber nur aus der Akzeptanz (Kraft) des Unverfügbaren, dem Motor jeder künstlerischen Bewegung.
Unorte Kultureller Bildung
Der Begriff der Transformation kommt in der Regel zur Sprache, wenn Antworten auf ‚große gesellschaftliche Fragen‘ gesucht werden. Von Kultureller Bildung Lösungen aus der Krise der Demokratie, des postkolonialen Erbes, der Klimakatastrophe, des Artensterbens, des Anthropozän zu erwarten, käme einer Überschätzung und Überforderung gleich. Ein solcher Anspruch wäre nicht nur hemmend, sondern als Selbstverständnis problematisch. Wenn auch den großen Zielen misstraut werden muss, ist doch eine Suche nach Pfaden möglich.
Dabei kann nicht übergangslos an Bekanntem angeknüpft werden. Wandelbare Zeiten erfordern eine Verschiebung vertrauter Grundstrukturen, eine grundlegende Veränderung des (kulturellen) Selbst- und Weltverständnisses (Koller 2018).
Die Zukunft Kultureller Bildung in Zeiten der Transformation muss an ihrem Fundament, der Kraft des Künstlerischen ansetzen, von der aus argumentiert wird. Kultur und Kunst werden dabei als Verbündete verstanden, die aus einander hervorgehen, einander bedingen und bedürfen. In diesem künstlerischen Sinn wird Kulturelle Bildung als treibende, verändernde Kraft verstanden, denn Künstler*innen sind „Liebhaber noch nicht dagewesener Erfahrungen und meiden Objekte, die bereits ausgeschöpft sind“ (Dewey 2014:167).
Solch einem Nachdenken über die Möglichkeiten Kultureller Bildung wohnt immer auch ein gewisses Pathos inne; entsprechend emotional und utopisch ist das folgende Plädoyer für ein subjektives, suchendes, spielerisches, ungesichertes Denken und Handeln, für erkundende Realisationen, Objektivationen ohne Beweise (Steinweg 2015). Ein solches Nachdenken ist collagenhaft und bleibt zwangsläufig unabgeschlossen und unausgegoren.
Kann Kulturelle Bildung unwägbar und ohne Ziel gedacht werden und trotzdem bedeutsam sein?
Im herkömmlichen pädagogischen Zusammenhang scheint dies absurd. Die Vorstellung von Planlosigkeit und Ungewissheit ist nicht nur eine Kränkung gegenüber der eigenen Selbstwirksamkeit, sondern kommt einem beruflichen Scheitern nahe. Bildung als Schulbildung, Ausbildung, Fortbildung oder Weiterbildung wird meist als Ermöglichung von ‚Weltreichweitenvergrößerung‘ verstanden. Den Modus dieser machtvollen Aneignung von Welt versteht Hartmut Rosa als „Verfügbarmachen“ und nennt die dabei wirksamen Strukturelemente „sichtbar (1), erreichbar bzw. zugänglich (2), beherrschbar (3) und nutzbar machen (4)“ (Rosa 2020:21).
Auch Kulturelle Bildung kann sich in eigenen Machtstrukturen verfangen (Rieger-Ladich 2020:9), selbst wenn sie kritisch, bewusst und sensibel agiert. Sie kann Gefahr laufen, Teil dessen zu werden, was Bazon Brock in seinem scharfen Kommentar in Bezug auf die documenta 15 als Verlust der Kraft der Individualität kritisiert (Brock 2022). Wenn in kulturellen Projekten – ob partizipatorisch, kollektiv oder individuell – kein Platz für Ungeplantes, Unvorhersehbares und Veränderung bleibt, kann sich kein transformatorisches Potenzial entfalten, weder bei den Akteur*innen noch den Rezipierenden.
Problematisiert sich Kunst als Ereignis der Selbstverständigung konstitutiv selbst (Bertram 2005), steht sie als Antwort auf gesellschaftliche, politische, ökologische Fragen nur um den Preis zur Verfügung, ihr emergentes Potenzial einzubüßen. Kunst antwortet – jedoch möglicherweise nicht auf gestellte Fragen.
Als Utopie ist ein Nachdenken über künstlerische, Kulturelle Bildung deshalb vielleicht ein Unort, weil sich in dessen Zentrum kein stabiler Kern befindet, kein eindeutiger Standpunkt: Unverfügbarkeit und Sinn, Begegnung und Distanz, Individualität und Kooperation, Singularität und Vor-Subjektivität werden darin dialektisch aufeinander bezogen. Der Bildungsbegriff wird erweitert, Verweise sind vage und zielen in verschiedene Richtungen. Die Hoffnung besteht, dass diese Trajektoren Anknüpfungspunkte für Denkbewegungen bieten. Als Gedanke, so Martin Buber, ist Weltanschauung fugenlos, als Praxis bekommt sie „einen wenig beachteten, aber äußerst wichtigen Riss“ (Buber 1956:57). Von diesem Riss aus kann pädagogisch, künstlerisch und bildend gearbeitet werden.
(Un-)Verfügbarkeiten künstlerischer Praxis
Damit irritierende Kunsterfahrungen produktiv werden und neue Verbindungen als Zugang den eigenen Sinnen ermöglichen, muss das Individuum vertraute Wege verlassen. Wandel beginnt nach Hans-Christoph Koller in seinen Überlegungen zur transformatorischen Bildung mit der „Destabilisierung des Subjekts“ und setzt bei der „Nichtidentität“ an (Koller 2018:71,146f.). Ähnlich spricht Georg Bertram von der Erfahrung mit Kunst, die ihm zufolge dann stattfindet, wenn dem Subjekt bewusste und unbewusste Selbstverständlichkeiten fragwürdig werden (Bertram 2005). Die echte Begegnung mit Menschen, Tieren, Pflanzen, Material, Gegenständen bedeutet nicht nur eine Begegnung mit einer fremden Welt außerhalb des Menschen, sie ist auch die Begegnung mit der Fremdheit des Selbst. Die nicht besitzbare Kraft der Kunst existiert für Christoph Menke jenseits vom Bewusstsein und zielt auf die unzugänglichen inneren Dimensionen des Menschen: Seine blinden Flecken, die nicht einholbaren Reste sind: vor-singulär, vor-subjektiv, vor-gebildet (Menke 2019:35ff.).
Vielleicht ist nur in einem offenen Suchen ohne Vorannahmen und Rückendeckung ein echtes Versinken in ein Thema möglich. Denn die Fakten, die hinter einer bisweilen unterkomplexen Oberfläche liegen, sind eventuell ganz andere – und ganz anders – als erwartet, sind uneindeutig und ambivalent. In ihrer Uneindeutigkeit reflektieren sie auf das Subjekt zurück und stellen Fragen jenseits von Beantwortbarkeit. Sie ermöglichen so einen Dialog, der zu einer Begegnung mit äußeren und inneren Unbekannten werden kann.
Sich dem Unbekannten, Fremden öffnen heißt, eigene Grenzen des Verstehens zu erkennen und in Verständigungsbewegungen mögliche Zugänge zum Fremden zu erkunden. Aus dem Empfinden von Unverbundenheit wächst die Möglichkeit, eigenen Sinn hervorzubringen, neue Deutungszusammenhänge zu bilden und dem Fremden Sinn zuzuschreiben. In diesen Prozessen erkennt, verändert, variiert, verfeinert, bildet, transformiert sich der Mensch nicht nur, er bringt eine (neue) Welt und sich selbst (neu) hervor. In einem künstlerischen Sinn kann Bildung als Hervorbringung von Welt(en) verstanden werden, als ein ungesichertes Zuschreiben von Sinn und Bedeutung (Koller 2018:36).
Wenn Georg Bertram über Selbstverständigungsprozesse spricht, die durch Kunst ausgelöst werden, meint er nicht nur rezeptive, sondern auch eigene gestalterische Erfahrungen. Der Übergang zwischen den beiden Modi ist weich, auch rezeptive ästhetische Praxis kann aktiv und kreativ sein und in eine resonante Begegnung münden. Im Zusammenspiel von sinnlichen und kognitiven Bewegungen sind Rezeptionsprozesse stärker kognitiv und die Herstellungsprozesse stärker physisch bestimmt. Die produktive Handlung ist als materiell bildender Prozess ein primär leibliches Geschehen.
Basis für ein eigenständiges, gestalterisches Vorgehen sind die eigenen Sinne, auf die bei der Suche nach einer passenden Form vertraut wird. Wird eigen-sinniges Handeln als lebendige Aufmerksamkeit auf die eigenen Sinne verstanden, beschreibt sie eine Praxis, die nicht-propositional ist (siehe: Jörg Zirfas „Die Künste und die Sinne").
Gestaltend werden Entscheidungen getroffen und Praktiken vollzogen, die sich in der Welt sichtbar manifestieren. Dieser Prozess ist für das Individuum ein komplexes, riskantes, exploratives, bildendes, aber auch kooperatives Geschehen. In dieser Praxis findet über das Material ein Dialog des Körpers mit diesem statt: Haptik, Geruch, Klang, Dichte, Gewicht, Oberfläche, Formbarkeit, Bearbeitungsdauer wirken am Gestaltungsprozess ebenso mit wie Bewegung, Haltung, Tempo, Rhythmus, Kraft der gestalterisch Agierenden.
VerORTung
Den Blick auf Kinder zu richten, die in einer Kunstwerkstatt gemeinsam frei gestalten, ist als Rahmung für die gedanklichen Verzweigungen über die Zukunft Kultureller Bildung keine Trivialisierung. Was dort geschieht, ist weder harmlos noch banal. Kinder, die frei bildnerisch gestalten, suchen keine Antworten. Sie steigen engagiert in ihr Vorhaben ein, machen etwas aus den ihnen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten. Sie denken nach, erkunden und entwickeln ihr Projekt unter Einsatz ihrer mentalen und körperlichen Kräfte. Das Vorgehen vollzieht sich planvoll und impulsiv, spielerisch und mühevoll. Welten werden lustvoll und krisengeschüttelt entworfen und errichtet. Das gestalterische Handeln ist Entelechie. In ihren jeweils individuellen Vorgehensweisen erleben sich die Kinder mit all ihren Sinnen, erkennen sich im Werk und zeigen sich den Anderen. Das Entstehende wird wahrgenommen, es enthält in dem gemeinsam geteilten Raum eine Öffentlichkeit; so verweben sich die Vorgehensweisen der Kinder bewusst und unbewusst ineinander.
Das Besondere beim eigenständigen Gestalten ist die Möglichkeit des Entwerfens, des fluide Als – ob bei gleichzeitiger unumgehbarer leiblicher Präsenz. Der Gestaltungsprozess scheint zu glücken, wenn Vorstellung und Realisierung zusammenfallen. Dies ist jedoch selten der Fall. Der Zufall spielt mit, Grenzen tun sich auf: beim Material und den eigenen Möglichkeiten. Die Lücken zwischen Wunsch und Wirklichkeit fordern dazu auf, Pläne zu überdenken, genau zu spüren und umzuplanen. Die Bedingtheiten des Materials und des eigenen Vermögens werden anerkannt, aufgeweicht, umschifft, mit Anstrengung überwunden.
Vertieft sich das Kind engagiert in seine Erkundungen, gehen Bewegung und Form, Denken und Handeln improvisatorisch ineinander über, dann entsteht in diesem Zwischenreich unvorhersehbar Neues (Heyl 2008:30). Aktiv und passiv, geben und nehmen, verändern und verändert werden sind nicht zu trennen. Das Material wird ebenso vom Kind geformt wie es das Kind formt. Der Zustand kann mit Resonanz, Flow und Engagiertheit umschrieben werden. In solchen Prozessen des freien Gestaltens, verstanden als Erprobung von Selbst- und Weltbezügen, kann sich der transformierende Moment im grundlegenden Wandel der Struktur der Welt- und Selbstverhältnisse ereignen (Koller/Sanders 2022).
In diesen Situationen erweitert sich das Künstlerische auf die Pädagogik als ungesicherte Praxis: Weder die Kinder noch die Fachkräfte wissen, was sich ereignen wird. Das Wechselspiel zwischen unbestimmtem Suchen und unverhofften Entdeckungen ist bezeichnend für künstlerische Ideenfindungen. Voraussetzung dafür ist ein besonderer Modus der Aufmerksamkeit in der konkreten Situation. Ohne Agenda und Ziel gestalten die Akteur*innen performativ den Raum, unbedingt und spielerisch, mühsam und sinnlich. Das Material mit seinen spezifischen Eigenschaften verlockt zum lehrreichen Dialog (Höhne/Schäfer 2022), die Präsenz anderer Kinder inspiriert. Auch die pädagogische Fachkraft nimmt wahr, erkundet, improvisiert (Höhne/Nöthen 2019).
Die gemeinsam verbrachte Zeit ist Begegnung, Hingabe und Verbundenheit: mit sich selbst, dem Material, dem Werkzeug, den Gestaltungsprojekten und den anderen Menschen. Die Akteur*innen bringen eine Welt – und sich mit dieser – hervor und gestalten Zukunft.
Verbundenheit
Individualisierung ist in diesem Zusammenhang keine rücksichtslose und monologisierende Selbstbezogenheit, vielmehr wird in der individuellen Beziehung zwischen Mensch und Sache eine Bewegung hin zu Austausch und Kooperation sichtbar.
Nach dem Verständnis einer pädagogischen Heterarchie haben alle Beteiligten einen subjektiven Zugang zur Welt und eine Stimme – sie agieren, erkunden und konstruieren, sie bringen sich ein, teilen sich mit und zeigen sich: sich selbst, sich gegenseitig, Welt und Welten. Produktivität wird geteilt, verschenkt, verbreitet.
Ein entsprechendes pädagogisches Selbstverständnis wäre die Voraussetzung dafür, dass Bildung über normative Festschreibungen hinweg transformativ wirken kann und über individuelle Selbst- und Weltverhältnisse hinaus verbindend wirkt. Pädagogik performativ zu verstehen bedeutet, gemeinsam ein produktives und dezentrales Miteinander von Selbstbestimmung und Selbstorganisation zu praktizieren (Wulf/Zirfas 2007:9f.).
Konkret bedeutet das, in einer Weise (kunstpädagogisch) mit Menschen zu arbeiten, in der es nicht um individuelle Leistungen und singuläre Ergebnisse geht, sondern um ein Potenzial, das aus vielen einzelnen, produktiven Kräften entsteht. Ideen werden ausgetauscht, Inspiration spielerisch entwickelt und weitergegeben, Kompetenz und Wissen werden geteilt. Die Haltung gegenüber dem Material wäre übertragbar auf Menschen, Tiere, Pflanzen wahrnehmend, responsiv, spielerisch, konstruktiv und offen für Begegnung.
Ein solches Vorgehen müsste jedoch radikal – an der Wurzel – beginnen: bei den Pädagog*innen/Lehrenden, im Team, im Lehrer*innenzimmer, in der Fachsitzung, im Seminar, in der Vorlesung. Synergien könnten vorbildhaft zum Einsatz kommen. In Zusammenarbeit könnten Stärken und Schwächen, Idiosynkrasien und Perfektionismus konstruktiv zusammenwirken. Der Konjunktiv deutet den utopistischen Charakter einer solchen Vision an.
Erziehung wäre dann die praktizierte Erwartung an sich und andere, sich in seiner Einzigartigkeit zu zeigen, Verantwortung zu übernehmen und zugleich seine Potenziale auch mit anderen zu teilen. Eine solche konstruktive Praxis, die Bildung als Singularität und Verbundenheit spiegelt, kann gelingen, wenn in pädagogischen Institutionen, den Gewächshäusern von Kultur, kein Wettbewerb individueller Reichweitenvergrößerung vorgelebt wird, sondern gemeinsam Welten gebaut werden.
Eines der großen Versprechen der Kunst scheint Freiheit zu sein. Tatsächlich sind Kreativität, Eigensinn und Produktivität, Verantwortung und Bildung unter Zwang schwer denkbar. Martin Buber relativiert dieses Freiheitsdispositiv zugunsten einer Dimension der Verbundenheit. Freiheit ist für ihn kein Ziel, sondern eine Funktion (Buber 1956:25). Bildung (Erziehung) dient ihm zufolge dazu, „Verbundenwerden“ zu ermöglichen. Verbundenheit ist Beziehung in Gegenseitigkeit. Die Aufgabe des Menschen ist ihm zufolge nicht, frei zu sein, sondern eine Beziehung zu sich und zur Welt aufzubauen (Buber 1977:14 ff.).
„Zwang ist eine negative Wirklichkeit, und Verbundenheit ist die positive [...] Vom Schicksal, von der Natur, von den Menschen gezwungen werden: der Gegenpol ist nicht, vom Schicksal, von der Natur, von den Menschen frei, sondern mit ihr, mit ihnen verbunden und verbündet sein [...] Zwang in der Erziehung, das ist das Nichtverbundensein, das ist Geducktheit und Aufgelehntheit; Verbundenheit in der Erziehung [...] das ist Aufgeschlossen- und Einbezogensein; Freiheit in der Erziehung, das ist Verbundenwerdenkönnen.“ (Buber 1956:25f.)
Leben ist für Buber Bildung als eine Bewegung, die sich im Austausch befindet, ist „Teilhaftigkeit“ (Buber 1956:18), Teilhabe ist Mitteilen und Teilen. Kulturelle Bildung wäre nach dieser Idee ein durch Freiheit ermöglichtes Praktizieren von inklusiver, nicht exklusiver Verbundenheit. Dies kommt dem Resonanzgedanken von Hartmut Rosa (Rosa 2016) nahe. In einem resonanten Verhältnis bedeutet Verbundenheit nicht, sich im Anderen aufzulösen, sondern sich als eigenständige, eigensinnige und eigenwillige Entitäten wechselseitig zu begegnen.
Verantwortung
Wenn Lösungsansätze zu den aktuellen Krisen mit Selbstpositionierungen einhergehen, die sich auf der richtigen Seite wähnen und die Andere in die Verantwortung setzen, trennen sie statt zu verbinden. Sie machen jedoch nicht nur die, die Schaden verursachen, zum fremden Gegenüber von denen, die ihn beheben. Sie verhindern auch den Blick des einzelnen Menschen auf seine eigene Fremdheit, vermeiden den introspektiven Blick auf eigene Machtverflechtungen, Ängste, Sehnsüchte, Sicherheitsstrategien, Ambivalenzen, Unzulänglichkeiten.
Freie künstlerische Produktivität weist letztendlich vor allem auf sich selbst. Eine Welt zu erschaffen bedeutet, selbst in die Verantwortung zu gehen und verlangt ein individuelles, risikoreiches Engagement, das nicht im Schutz einer Gruppe und einer großen Idee steht, sondern eigenverantwortlich fühlt, denkt und handelt.
Ist Kunst vor allem aufgrund der Unverfügbarkeit kraftvoll (Menke 2019), taugt sie nicht als Plattform für eine (politische) Agenda. Wenn dem, was irritiert und berührt (das postkoloniale Erbe, unmenschliche Machtpolitik, ökologische Zerstörung) eigensinnig, ehrlich, lustvoll, konzentriert, offen, lebendig, spielerisch nachgegangen wird, findet eine echte Begegnung statt.
Die Künstlerin Kara Walker setzt sich in ihrem Werk mit dem Postkolonialismus auseinander. Ihre Arbeit ist komplex, verstörend, vielschichtig und humorvoll. Sie begibt sich in die Welt konfliktreicher Bilder: eigener, fremder sowie internalisierter. Täter und Opfer sind nicht zu trennen. Aus Hilflosigkeit, Wut und Ambivalenz entstehen Bilder, die sowohl zeigen als auch verunklaren. Indem Walker ihr historisch verwobenes Dasein künstlerisch bearbeitet – so mutmaßt sie selbst –, hofft sie auf die Hilfe anderer bei der Beantwortung ihrer Fragen (Walker 2021). Fragen, auf die es keine Antworten gibt – aber viele Lösungen. Eine davon könnte Kunst sein.
Bildung ist dann weder das Kontinuum vorhandener Selbst- und Weltentwürfe, noch ist sie ein Geschehen, das sich in den internen Bewegungen des Subjekts erschöpft. Transformatorische Bildung als Antwort auf transformatorische Zeiten konstituiert Kunst und Kultur nicht rezeptiv durch und affirmativ für, sondern produktiv als Bildung. Sie kommt so dem nahe, was Richard Rorty unter Bildung als philosophische Dimension versteht: ein offener Dialog als eine ungesicherte, staunende, herantastende und verändernde Praxis (Rorty 1984:400).