Kulturelle Bildung und Transformation. Diagnosen, Probleme und Perspektiven im Rückblick auf die kubi-online Jahrestagung 2022
Abstract
Im Rückblick auf die kubi-online Jahrestagung 2022 werden zunächst Diagnosen in Bezug auf gesellschaftliche Transformationen wiedergegeben: Statt eines „Endes der Geschichte“ sind Wandlungen politischer, ökologischer, ökonomischer und sozialer Art zu konstatieren, die mit einem Krisenbewusstsein einhergehen. Aus der Perspektive der Kulturellen Bildung werden Zielvorstellungen hinsichtlich des Subjekts und des gesellschaftlichen Lebens, des Umgangs mit Diversität, des Mangels an Kriterien für Digitalität in der Kulturellen Bildung sowie die Notwendigkeit der Reflexion über die Funktion der Kunst problematisiert. Als mögliche Beiträge der Kulturellen Bildung zur Bewältigung von Transformationen kommen schließlich die Entwicklung von Fähigkeiten der Wahrnehmung, des Ausdrucks und der Gestaltung, die Erfahrung von Schlüsselereignissen beim Umgang mit Kunst und Kultur, das Infragestellen von Vertrautem durch die Spannung zwischen kulturellen Gegensätzen, der Umgang mit Verletzlichkeit sowie ein bürgerschaftlich-künstlerisches Engagement in den Blick.
Einleitung
Im Rückblick auf die kubi-online Jahrestagung 2022, die dem Thema „Zukunft Kultureller Bildung in Zeiten der Transformation“ gewidmet war, lassen sich zentrale Argumentationslinien vor allem drei Kategorien zuordnen, die von grundsätzlicher Bedeutung für das Thema zu sein scheinen:
- Zum Ersten sind dies Diagnosen der gegenwärtigen Situation.
- Zum Zweiten werden bestimmte Problemfelder benannt, wobei häufig bereits Lösungsansätze sichtbar werden.
- Zum Dritten handelt es sich um Vorschläge dazu, worin der Beitrag Kultureller Bildung zur Bewältigung von Transformationen liegen könnte.
Im Hinblick auf diese drei Kategorien sollen im Folgenden unterschiedliche Zugänge zum Thema vorgestellt und diskutiert werden. Damit werden die Beiträge des Dossiers zum Tagungsthema noch einmal gebündelt und aufeinander bezogen. Dass hin und wieder Beispiele und Bezüge aus dem Bereich der Musik eingestreut werden, liegt an der Profession des Autors, der hierfür um Nachsicht bittet; ebenso gut hätten andere Ausdrucksformen berücksichtigt werden können.
Diagnosen
Zu Beginn der Tagung erinnerte Markus Braig an die vor dreißig Jahren prominent vertretene These, „mankind’s ideological evolution“ (Fukuyama 2006:xi) und damit der gesellschaftlich-politische Wandel seien am Ende des zweiten Jahrtausends in gewisser Weise an ein Ende gekommen. Aus der Sicht eines Politikwissenschaftlers sah Francis Fukuyama die liberale Demokratie mit den Prinzipien der Freiheit und der Gleichheit in seinem Buch „The end of history and the last man“ als einen Grundkonsens und Endpunkt der gesellschaftlich-politischen Entwicklung. Dieser These ist inzwischen mehrfach und plausibel widersprochen worden. Zuletzt haben Richard Hall (2020) sowie Alex Hochuli, George Hoare und Philip Cunliffe (2022) vom „Ende des Endes der Geschichte“ gesprochen und beziehen sich dabei auf politische Entwicklungen nach einer Phase der Hoffnungslosigkeit (Hall 2020) beziehungsweise der Apathie (Hochuli/Hoare/Cunliffe 2022), also eines negativ gedeuteten Endes der Geschichte. Im Blick auf die Zukunft zeigt sich in beiden Publikationen gleichwohl eine gewisse Sorge, ob die nötigen Veränderungen tatsächlich realisiert werden können. So diagnostizieren Hochuli, Hoare und Cunliffe populistische, anti-politische Züge sowie eine Stimmung der Wut.
Deutlich weiter greift Uwe Schneidewind vom Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie aus, wenn er große Transformationen in einer viel beachteten Publikation (Schneidewind 2018) beschreibt, auf die sich Vanessa Isabelle Reinwand-Weiss in ihrer Einführung in das Tagungsthema bezog. Zwar benennt Schneidewind wünschenswerte Wenden, gleichzeitig wird jedoch davon ausgegangen, dass auf allen thematisierten Arenen bereits Veränderungsprozesse im Gange sind. Dabei handelt es sich um politische, ökologische, ökonomische und soziale Transformationen. Konkret werden die Felder Wohlstand und Konsum, Energie, Ressourcen, Mobilität, Ernährung, Stadtentwicklung und Industrie betrachtet. Als Akteure der Transformationen benennt der Autor die Zivilgesellschaft, die Politik, Unternehmen, Wissenschaft sowie Pionierinnen und Pioniere. Ausdrücklich wird auch der Aspekt der Kultur bedacht. Für nachhaltige Entwicklungen bedürfe es neuer „Kulturen“, Visionen und Narrative, um neue Lebensstile zu etablieren.
Wenn sich vor diesem Hintergrund der Eindruck einstellt, in einer besonderen Zeit großer Umwandlungsprozesse zu leben, sollte die Tatsache nicht aus dem Blick geraten, dass die Entwicklung des Menschen stets von tiefgreifenden Transformationen begleitet worden ist. So erinnerte Jan-Hendrik Olbertz in seinem Tagungsbeitrag an Umwälzungen durch Erfindungen und Entdeckungen, die etwa zur Nutzung des Feuers, zu Ackerbau und Viehzucht, zur Schrift oder zur Nutzung von Elektrizität führten. Weiter stehen Veränderungen kultureller Art – etwa des Denkens, der Kommunikation oder der Kunst – neben machtpolitischen Transformationen, wie sie die Französische Revolution oder die Oktoberrevolution darstellen. Großen Einfluss entfaltete auch die Etablierung bestimmter Medien in der Gesellschaft; hier ist an die Erfindung des Buchdrucks, an Telegraphie, Fernsehen (Postman 1984:82ff.), Computer, Handy, Internet und Künstliche Intelligenz zu denken. Alle genannten Neuerungen waren geeignet, Lebensstile und Denken grundlegend zu modifizieren. Auf dem Feld der Wissenschaften entwickelte sich das Weltverständnis stetig weiter, hieraus erwuchsen Möglichkeiten der Nutzung der Natur bis hin zu ihrer Beherrschung. Dies wiederum gibt der Wissenschaft heute Anlass, über Lösungsansätze zur Rettung der Natur nachzudenken.
Wie Cornelie Dietrich in ihrem Vortrag aufzeigte, kann neues Wissen grundsätzlich als eines der möglichen Auslöser für Transformationen gesehen werden; das Gleiche gilt für neue Technik. Daneben aber können auch Visionen und Krisenbewusstsein – also kulturelle Phänomene im engeren Sinne – zu Katalysatoren werden. Dem Forschungszentrum für Nachhaltigkeit der Freien Universität Berlin zufolge kommen Transformationen als „weitreichende Veränderungen in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft“ (Forschungszentrum für Nachhaltigkeit 2022) zudem erst dann zum Tragen, wenn sich Veränderungen in gesellschaftlichen Teilsystemen gegenseitig verstärken. Überdies werden Transformationen durch blockierende Faktoren behindert. Als charakteristische Blockaden im politischen System finden sich die Kurzfristorientierung wirtschaftlicher und politischer Institutionen, Lobbyismus mit dem ihm eigenen Beharren auf einmal eingeschlagenen Pfaden, fragmentierte Entscheidungsstrukturen im Politischen, welche durch komplizierte Prozesse mit unterschiedlichen Akteuren eine kohärente Politik erschweren, sowie mangelnde Akzeptanz im Zusammenhang mit dem Gefühl mangelnder Beteiligung aufseiten von Bürger*innen (Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen 2011:200ff.). Zwischen gewisse Auslöser, an denen man nicht vorbeikommt, und die gesellschaftlichen Antworten, nach denen diese Auslöser gewissermaßen rufen, schieben sich mithin politisch bedingte Barrieren. Das heißt jedoch nicht, dass sich jene Auslöser nicht in gesellschaftlich-kulturellen Praktiken spiegeln. So konnten Rainer Treptow im Blick auf die Kulturelle Bildung generell, Cornelie Dietrich für die Schule und Ute Schlegel-Pinkert für das Theater charakteristische Transformationen fokussieren.
Problematisierungen und Lösungsansätze
Auf der Basis der Diagnosen lassen sich nun einzelne Problemlagen identifizieren und mögliche Lösungsansätze diskutieren. Sehr grundlegend kann gefragt werden, wie das Individuum in dieser Gemengelage bestehen und agieren kann. Vanessa-Isabelle Reinwand-Weiss verwies in diesem Kontext auf die Idee des „starken Subjekts“, mit der sich Max Fuchs befasst hat. Fuchs nimmt dabei seinen Ausgang vom Titel des BMBF-Förderprogramms Kultur macht stark. Er fragt nach den Möglichkeiten von Kultur, Subjekte zu stärken, und stellt das Ziel eines starken Subjekts in den Kontext „solch anspruchsvoller Begriffe wie Freiheit, Selbstbestimmung, Autonomie oder Würde“ (Fuchs 2016:8). Nicht zuletzt im Medium ästhetischer Praxis verwirklicht ihm zufolge ein starkes Subjekt seine Widerständigkeit, verarbeitet es Krisen der Gesellschaft und führt es sein Leben. Die Stärkung von Subjekten mittels ästhetischer Bildung scheint hier als Lösungsansatz für die individuelle Lebensführung in Zeiten der Transformationen auf. Demgegenüber kann allerdings, wie dies Rainer Treptow und Cornelie Dietrich auf der Tagung taten, auf die Berechtigung von Schwäche – gerade auch im Angesicht von Krisen – verwiesen werden. Eine möglicherweise notwendige Schwäche liegt darin, sich anrühren zu lassen.
Auf der anderen Seite lässt sich der gesellschaftliche Status qou problematisieren. Hier wartete Jan-Hendrik Olbertz mit der These auf, es fehle der Gesellschaft an einer verbindenden positiven Idee. Zwar pflege sie ein gemeinsames Verständnis von Defiziten und Gefahren. Dies könne jedoch nicht eine Vorstellung davon ersetzen, wie man gemeinsam leben möchte. Von ferne klingt hier der antike Gedanke des guten Lebens auf der Basis von Tugenden, die Eudaimonia, an. Es erscheint nicht abwegig, anzunehmen, dass Kunst und Kultur hier wiederum eine nicht unbedeutende Rolle spielen können. Erst kürzlich plädierte Roger Mantie vor dem Hintergrund einer ähnlichen Diagnose dafür, Musikpädagogik daran auszurichten, dass sie den Lernenden später eine erfüllte Tätigkeit in Muße ermöglicht (Mantie 2022). Man kann hier an ein Musizieren denken, das als Ensemblespiel oder als Verwirklichung individueller Entfaltung – möglicherweise aber auch als Verweigerung gegenüber einer neoliberalen Logik des Funktionierens und der Selbstoptimierung – im Sinne des Gemeinwohls sein sollte. Es käme dabei gleichwohl darauf an, mit vereinten Kräften nach jenem Gemeinwohl zu fragen und es als Gesellschaft zu bestimmen. Dabei wären denn auch die Rolle des Subjekts, der sozialen Gemeinschaft und der Künste für ein gutes Leben zu verhandeln.
Im engen Zusammenhang mit der Frage nach der Gesellschaft in Zeiten des Wandels steht die Erkenntnis der Vielfalt ihrer Mitglieder. Dabei kann der Teufel jedoch im Detail stecken. So erörterte Nina Stoffers in dem von ihr mitgestalteten Tagungspanel verschiedene Typen des Verständnisses von Diversität. Folgt man Andrea Bührmann, so sieht ein positivistisches Verständnis Diversität als grundsätzlich gegeben an, während ein kritisches Verständnis Diversität als Ergebnis sozialer Praxen betrachtet. Erst ein reflexives Diversitätsverständnis, das hier als Lösungsansatz fungieren kann, bringt beides zusammen: Diversität entfaltet auch als Ergebnis sozialer Praxen zweifellos Wirkung und ist insofern tatsächlich auch als Faktum gegeben. Darüber hinausgehend werden in diesem Verständnis schließlich auch die eigenen Kriterien für Diversität kritisch reflektiert und nicht als selbstverständlich erachtet (Bührmann 2018). Gerade im Hinblick auf Inklusion ist zu bedenken, dass es auch in der kulturellen Praxis vielfach ein „asymmetrisches Verhältnis zwischen Benennenden* und Benannten*“ (Hübner/Kelb/Schönfeld/Ullrich 2017:12) gibt. Die Ersteren bestimmen die Letzteren etwa als Zielgruppe und schreiben ihnen bestimmte Bedarfe zu. In diesem Zusammenhang greift nicht zuletzt das von Mai Anh Boger diskutierte „Trilemma der Inklusion“, demzufolge immer nur zwei der drei Ziele Normalisierung, Empowerment und Dekonstruktion gleichzeitig verfolgt werden können: Im Falle von Normalisierung und Empowerment bedient man den „Exotismus des weißen Auges“ (Boger/Castro Varela 2020:34), indem man eine marginalisierte Gruppe in gewissermaßen folkloristischer Manier in den Normalbetrieb der Kultur integriert. Eine Dekonstruktion der Differenzzuschreibung unterbleibt dabei. Im Falle von Normalisierung und Dekonstruktion besteht die Gefahr einer geschichtsvergessenen Inszenierung als Genies, wenn einzelne Angehörige einer marginalisierten Gruppe sich ohne Bezug auf diese im Normalbetrieb betätigen. Hier fehlt der Aspekt des Empowerments von Mitgliedern der marginalisierten Gruppe. Im Falle von Empowerment und Dekonstruktion wird im Sinne einer Subkultur Marginalisierung verfestigt, wenn Angehörige einer marginalisierten Gruppe sich außerhalb des Normalbetriebs betätigen. Normalisierung findet dann nicht statt.
Im Kontext von Digitalisierung werden die neuen Möglichkeiten, die sich gerade auch in der Kulturellen Bildung auftun, häufig mit einer gewissen Euphorie betrachtet. Wie in dem von Tom Braun geleiteten Panel zu „postdigitalen Praktiken“ problematisiert wurde, geschieht dies aber nicht selten vor der Folie des Überkommenen. Im Vergleich mit ihm erscheinen dann die Potenziale der Nutzung digitaler Medien als verheißungsvoll. Was jedoch Not tut, ist das Entwickeln neuer Kriterien für die neue Situation. Woran der Einsatz digitaler Medien in der Kulturellen Bildung gemessen werden könnte und sollte, ist vielfach noch unklar. Das Medium selbst stellt für sich genommen noch keinen Wert dar. So entstehen etwa im Bereich der Musikpädagogik „Unsicherheiten, ob es sich bei manchen der daraus neu erwachsenden musikalischen Praxen überhaupt noch um eine Musikpraxis im engeren Sinne oder nicht vielmehr um eine eigenständige, musikbezogene Spielpraxis oder eine produktive Medienpraxis handelt“ (Krebs 2019:236, Hervorhebungen im Original). Im Hinblick auf Kunst und Kultur scheint auch nicht ohne Weiteres evident, was als Medienkompetenz gelten soll. Allgemein gesprochen sind pädagogische Ziele und Digitalität so ins Verhältnis zu bringen, dass ein sinnvoller Zusammenhang entsteht.
Schließlich können auch im Bereich der Kunst selbst Entwicklungen problematisiert werden. Dies kann vor allem den Wandel im Verständnis von Kunst und Kultureller Bildung betreffen, wie ihn Albrecht Göschel skizziert hat. Danach steht für die in den 1930er-Jahren Geborenen der klassische Kanon an Kunstwerken und eine auf Anwendbarkeit hin ausgelegte Bildungspraxis im Vordergrund. Der 1940er-Generation ist es hingegen eher an rationaler Aufklärung durch Kunst und Kulturelle Bildung gelegen, was mit Tendenzen der Wissenschaftsorientierung und der Gesellschaftskritik in der bundesdeutschen Bildungsreform der 1960er- und 1970er-Jahre korreliert (Ohlhaver 2008:25). Mit der Generation der in den 1950er-Jahren Geborenen verschiebt sich der Schwerpunkt auf Innerlichkeit, Selbsterfahrung, ja sogar Selbstheilung. Bei der 1960er-Generation setzt sich dann ein ästhetisches Paradigma, ein Konzept ästhetisierender Selbstdarstellung durch (Göschel 2013/2012:5; Fuchs 2011:201). In ihrem Vortrag auf der Tagung stellte Ute Schlegel-Pinkert den jüngsten Wandel, den „aktivistischen Turn“ hin zu „engagierter“ Kunstausübung (Sholette 2017) heraus. Selbst wenn man diesen nicht mitvollziehen möchte, ist eine Positionierung nunmehr unumgänglich. In der Reflexion der eigenen Positionierung und Haltung mag eine Lösungsmöglichkeit für das Problem liegen, das die Polarität von ästhetischem Paradigma und engagierter Kunst – auch für die Kulturelle Bildung – aufwirft.
Vorschläge zum Beitrag Kultureller Bildung
Aus der Perspektive der Kulturellen Bildung stellt sich nach alledem die Frage, welchen Beitrag sie zur Bewältigung der Transformationen und der damit verbundenen Problematiken zu leisten im Stande sein könnte. Naheliegend ist es, von den Charakteristika kultureller Praktiken auszugehen. In ihnen hat man es unabdingbar mit Wahrnehmung zu tun. Sie ist es, die den Kontakt mit der Welt, im Besonderen mit dem Material der künstlerischen Bearbeitung erst ermöglicht. Dazu tritt der Aspekt der Gestaltung. Die Welt und das Material werden nicht nur wahrgenommen, sondern auch gestaltet. Gestaltung stellt eine direkte Kontaktaufnahme mit der Welt dar. Dabei wird nicht nur Material gestaltet, sondern auch ein subjektiver Sinn erzeugt und gestaltet. Getragen und gespeist sind diese Prozesse durch ein expressives Moment, das Fließenlassen von Impulsen in die künstlerische Aktivität, die damit auch zum Ausdruck wird (Dartsch 2019:42ff., 74ff., 78ff., 85ff.). Dementsprechend schlug Vanessa-Isabelle Reinwand-Weiss in ihrer Tagungseinführung denn auch eine Schulung der Fähigkeiten der Wahrnehmung, des Ausdrucks und der Gestaltung als Beitrag der Kulturellen Bildung zur Bewältigung der Transformationsprozesse vor. Hierbei stellt sich allerdings die Frage, ob sich der Begriff der Schulung mit dem der Bildung verträgt, haftet Letzterem doch ein Moment der individuellen Selbstformung an (Dartsch 2020:47). Immerhin könnte im Feld der Kulturellen Bildung darauf gehofft oder gar vertraut werden, dass sich über Prozesse des Wahrnehmens und des Fantasierens, wie sie mit geeigneten methodischen Herangehensweisen wenigstens wahrscheinlicher gemacht werden können, auch die entsprechenden Dispositionen der Lernenden weiterentwickeln (Dartsch 2019:73f., 137). Sieht man die Fähigkeiten der Wahrnehmung, des Ausdrucks und der Gestaltung als Potenziale für den Umgang mit Transformationen an, muss man allerdings zusätzlich unterstellen, dass Fähigkeiten, die für und in Aktivitäten der Kunst und der Kultur entwickelt worden sind, auch auf gesellschaftlich-politische Bereiche transferiert werden. Ob dies wirklich geschieht, scheint jedoch von mancherlei Bedingungen abzuhängen, die in individuellen Biografien unterschiedlich ausgeprägt sind. Hierzu zählen sicher auch Merkmale der Bildungsarbeit selbst (Rittelmeyer 2012:105).
Anstatt also im konkreten Fall von globalen Wirkungen Kultureller Bildung auszugehen, käme es darauf an, danach zu schauen, welcher Art Erfahrungen die betroffenen Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen dabei machen. Im Sinne eines transformatorischen Bildungsverständnisses (Koller 2018) kommen als Auslöser für Bildungsprozesse einschneidende Erfahrungen – salopp könnte man vielleicht auch sagen: „Aha-Erlebnisse“ – in Betracht. Anna Suchard und Carolin Bebek regten mit ihren Performance-Impulsen auf der Tagung solche Aha-Erlebnisse an. Diese bezog sich zum einen auf die Sensibilität für körpersprachliche Signale und zum anderen auf das Umdeuten und Adressieren, typische Praktiken der Kunst. Um tatsächlich bildungsrelevant zu werden, müssten solche Erfahrungen nach Koller allerdings „krisenhafte Züge im Sinne der Infragestellung etablierter Welt- und Selbstbezüge“ (Koller 2018:71) aufweisen. Diese These wird jedoch nicht unwidersprochen geteilt. So konstatiert etwa Gila Brandt-Herrmann unter Bezugnahme auf eine von ihr durchgeführte Interview-Studie: „Es gibt vielmehr unterschiedliche auslösende Ereignisse bzw. Situationen wie Krisen, Gelegenheiten und Zufälle, berufliche Praxis und persönliche, nicht krisenhafte Veränderungen, die Bildungsprozesse in einer oftmals verschränkten, sich wechselseitig bedingenden Weise fördern und beeinflussen“ (Brandt-Herrmann 2008:228). Im Bereich der Musik zieht Jürgen Vogt den Begriff der „Schlüsselereignisse“ von Bernhard Waldenfels als Auslöser für musikalisch-ästhetische Bildungsprozesse heran (Vogt 2001:311f.; Waldenfels 2020:57). Es erscheint nicht abwegig, davon auszugehen, dass Erfahrungen mit Kunst den Charakter eines Schlüsselereignisses annehmen und damit Transformationen von Welt- und Selbstverhältnissen anstoßen können (Bugiel 2021). Von veränderten Welt- und Selbstverhältnissen sollte schließlich auch der Umgang mit gesellschaftlichen Transformationen profitieren können.
Provozierend wirkte eine These, die Jan-Hendriks Olbertz in seinem Tagungsbeitrag vertrat. Er betonte die Bedeutung eines kulturellen Fundaments als eines gemeinsamen Erbes einer Gesellschaft. Dieses schaffe zum einen Gemeinschaft im Sinne sozialer Integration. Zum anderen könnten Erlebtes und Erinnertes in dieses Fundament eingebettet werden. So wirke dieses letztlich als eine Heimat, von der aus dann eine Offenheit für Pluralität möglich werde. Dass jene Offenheit zur Bewältigung gesellschaftlicher Transformationen Not tut, liegt nahe. Ob sie zwingend eine Heimat voraussetzt, kann allerdings durchaus hinterfragt werden. Vom kulturellen Erbe scheint es nur ein kurzer Weg zur nationalen Identität zu sein (Bierwerth 2014). Dass eine solche aber überhaupt sinnvoll angenommen werden kann, wird von François Jullien klar verneint. Grundlage seines Essays ist die Unterscheidung zwischen Differenz und Abstand: „Anstatt die Verschiedenheit der Kulturen als Differenz zu betrachten, sollten wir uns ihr mithilfe des Konzepts des Abstands nähern; wir sollten sie nicht im Sinn von Identität, sondern im Sinn einer Ressource und der Fruchtbarkeit verstehen“ (ebd:36). Das Konzepts des Abstands möchte Jullien als Denkfigur der Exploration verstanden wissen. Indem der Abstand zwischen zwei Polen eine Spannung impliziert, die jeden in der Gegenüberstellung zum anderen sein lässt, entsteht ein „Zwischen“, ein unaufhörliches gegenseitiges Infragestellen und Offenbleiben, aus dem Neues erwachsen kann (ebd:40ff.). Diese Ressource stellt schließlich das Gemeinsame beider Seiten dar (Jullien 2018:78), ein Gemeinsames, das auf einer höheren Ebene angesiedelt zu sein scheint als das kulturelle Erbe einer bestimmten Gruppe, da es auch diejenigen einschließt, die nicht mit diesem Erbe verbunden werden. Da aus der Spannung des Abstands neue Entwicklungen resultieren können, „situiert uns der Abstand von Anfang an in eine Transformation“ (ebd:73).
In dem von ihm mit gestalteten Tagungspanel skizzierte Julius Heinicke kulturelle Praxen zum einen als Erfahrungsraum zur Erweiterung der Perspektiven im Hinblick auf Nachhaltigkeit. Ein Beispiel aus dem Bereich der Musikpädagogik wäre in einem Musikunterricht im Freien zu sehen, wie er in Zeiten der Kontaktbeschränkung gelegentlich praktiziert wurde. Hier können Naturgeräusche wahrgenommen und in musikalische Gestaltungen einbezogen werden. Lieder und Musikstücke, die sich auf die Natur oder etwa auch das Landleben beziehen, können Anlass zur Auseinandersetzung mit Nachhaltigkeit aus einer ästhetischen Perspektive sein, einer Perspektive, die auch die eigene Affizierung und Berührung einschließt. Zum anderen nannte Heinicke den Umgang mit Grenzen und Verletzlichkeit in kulturellen Praxen. Ein Beispiel aus dem Bereich der Musikpädagogik läge bei Besetzungen wie beim Brandenburgischen Konzert Nr. 2 vor, bei dem die Trompete die dynamischen Grenzen der Blockflöte berücksichtigen muss, mit der sie gemeinsam mit der Solovioline und der Oboe das Soloquartett bildet. Umgekehrt muss sich das dynamisch schwächere Instrument den anderen Instrumenten gewissermaßen anvertrauen und aussetzen. Vom Grundsatz her ist die Thematik der Vulnerabilität virulent, wenn immer es um authentischen Selbstausdruck geht, wenn Kinder, Jugendliche oder Erwachsene eine Bühne betreten oder mit Exponaten etwas von sich preisgeben oder wenn gemeinsam an künstlerischen Produkten gearbeitet wird. Setzt die Bildungsarbeit hier auf Sensibilisierung anstatt auf Konkurrenz und Leistungsdruck, kann eine achtsame Haltung eingeübt werden (Doerne 2015:10f.). In diesem Zusammenhang ist noch einmal auf die Infragestellung der Zieldimension Subjektstärke zu erinnern. So verweis Cornelie Dietrich in ihrem Vortrag gerade auch auf die Potenziale von Berührung, Anteilnahme und Synchronisation, wie sie mit Kultureller Bildung verbunden seien. Ute Schlegel-Pinkert fragte, wie es zuvor schon Rainer Treptow tat, ob der Aspekt der Erziehung nicht wieder stärker bedacht werden könne und solle. Erziehung impliziert nicht zuletzt moralisch und politisch legitimierte Erziehungsziele (Oelkers 2009:254ff.), welche im Hinblick auf globale und gesellschaftliche-politische Krisensituationen neu verhandelt werden könnten.
Wenn schließlich künstlerische Aktivitäten gesellschaftlich marginalisierte Gruppen adressieren und einbeziehen oder sich thematisch dezidiert mit gesellschaftlichen Problemen beschäftigen, wird „artistic citizenship“ verwirklicht (Elliott/Silverman/Bowman 2016), ein bürgerschaftlich-künstlerisches Engagement, das ebenso gut auf Teilhabegerechtigkeit wie auf ein nachhaltiges Leben zielen kann (Dartsch 2022:78). Dabei hängt jedoch „die politische, soziale und ethische Relevanz von Kunst […] nicht von solchen thematischen Bezügen ab“ (ebd.). Möglicherweise führt eine Überfrachtung Kultureller Bildung mit gesellschaftlich-politischen Erwartungen, wovor Rainer Treptow und Cornelie Dietrich auf der Tagung warnten, auch zum Übersehen oder Missachten der ihr wesenseigenen Potenziale. Elliott, Silverman und Bowman formulieren: „It is action dedicated to personal and collective flourishing, grounded in commitments to transform and enrich people’s everyday lives” (Elliott/Silverman/Bowman 2016:7). Gerade im Eigensinn künstlerisch-kultureller Praxen könnte auch in Zeiten der Transformation ihr spezifischer „Nutzen“ für die Gesellschaft liegen.