Kulturelle Bildung im Spannungsfeld von Ökonomisierung, Entgrenzung und Spaltung. Eine Bestandsaufnahme: Was hat sich verändert? Gibt es Handlungsbedarf für Kulturelle Bildung?
Dieser Text– gekürzt vorgetragen als Impuls auf der kubi-online Jahrestagung „Grenzfälle Kultureller Bildung“ im Juni 2016 in der Akademie Remscheid – entstand unter Schock. Wenige Tage zuvor wurde der Ausgang des britischen Referendums bekannt gegeben. Dessen Ergebnis erzählt, dass eine Mehrheit der Bevölkerung des Vereinigten Königreiches die Europäische Union verlassen will. Dies bedeutet die größte Veränderung im Zusammenleben in Europa seit dem Fall des Eisernen Vorhangs, deren Folgen heute in keiner Weise abgeschätzt werden können. Erste Kommentare von englischen KollegInnen sprechen von einer schallenden Ohrfeige (vgl. u.a. Borger 2016) für ein neoliberales Elitenprojekt, das sich als weitgehend unfähig erwiesen habe, die zentralen Probleme der nationalen Bevölkerungen zu lösen. Ihre EntscheidungsträgerInnen hätten die Verelendung ganzer Länder, verbunden mit Arbeitslosigkeit und damit auch Perspektivlosigkeit vor allem der jungen Menschen in Kauf genommen und sich auch angesichts der aktuellen Flüchtlingskrise als weitgehend handlungsunfähig erwiesen. Als „demokratiepolitische Ruine“ – eine detaillierte Analyse dazu findet sich u.a. bei Ulrike Guérot (Guérot 2016a) – sei dem Konstrukt Europäische Union nunmehr von einer Mehrheit der frustrierten britischen Bevölkerung in direkter Abstimmung eine Absage erteilt wird, wissend, dass sie damit wirtschaftliche Nachteile in Kauf nehmen werden, aber in der Hoffnung, damit politische Souveränität zurückzugewinnen.
Was hat das mit Kultureller Bildung zu tun, werden Sie fragen. Sehr viel, möchte ich antworten und Ihnen in einer kurzen historischen Vergleichsskizze – vor allem aus österreichischer Sicht – Gründe dafür anführen. Seit den 1970er Jahren beschäftige ich mich mit Fragen der Kulturpolitik und damit der Kulturellen Bildung. Zum damaligen Zeitpunkt machte sich die damals allein regierende Sozialdemokratie daran, ein umfassendes politisches Reformprojekt zu realisieren, das früher oder später weite Teile der Bevölkerung in ein Mittelstandsmilieu würde aufgehen lassen. Die Regierenden – so die politische Botschaft – würden im Rahmen einer umfassenden Reformagenda dafür Sorge tragen, die Aufstiegschancen bislang Benachteiligter signifikant zu erhöhen, um so die bestehenden Klassenschranken zu überwinden (vgl. Sinowatz 1983; Wimmer 2011).
Die Leitfigur des bürgerlichen Zeitalters wird zu Grabe getragen
Als Leitfigur dieser Form der „Vermittelständigung“ galt der Bildungsbürger, der nicht nur die politische Souveränität verkörpern, sondern darüber hinaus mit kulturellem Kapital ausgestattet werden sollte, um seine Identität in der Mitte der Gesellschaft zu vertiefen. Der damals amtierende Bildungs- und Kunstminister Fred Sinowatz sprach von einer „Kulturpolitik als Gesellschaftspolitik“, insbesondere als „Fortsetzung von Sozialpolitik“, um deutlich zu machen, dass die politischen Maßnahmen nicht nur auf eine Umverteilung materieller, sondern auch ideeller und damit kultureller Mittel hinauslaufen sollten. Dazu würde wesentlich Kulturelle Bildung – die damals freilich noch nicht so geheißen hat – beitragen. Ihre attraktiven Angebote sollten vor allem jungen Menschen den Zutritt zu Kunst und Kultur und damit in die Mitte der Gesellschaft erleichtern und sie mit dem dafür notwendigen Wissen bzw. Erfahrungen ausstatten.
Im Zentrum der politischen Reformkonzepte standen also die kulturell gebildeten BürgerInnen, welche die Mitte der Gesellschaft repräsentierten und für alle Mitglieder der Gesellschaft als handlungsleitende Referenzfiguren in Stellung gebracht wurden. Diesen Anspruch mit Inhalt zu versehen, wurde als zentrale Aufgabe der Kunst- und Kultureinrichtungen gesehen, deren Vermittlungsbemühungen darauf gerichtet waren, neben einer bürgerlichen Stammklientel zunehmend auch bislang abseits Stehende für die Sache der Kunst und Kultur zu interessieren und daran die Hoffnung zu knüpfen, sie könnten damit ihr soziales Standing verbessern.
Die damit verbundenen kulturpolitischen Maßnahmen waren eingebettet in einen gesamtgesellschaftlichen Anspruch auf politische Teilhabe ebenso wie auf soziale Gerechtigkeit. Es galt insbesondere die Lebens- und Arbeitsverhältnisse der arbeitenden Menschen zu verbessern und sie als willkommene Mitglieder eines von gemeinsamen Wertvorstellungen getragenen Mittelstandes zu nobilitieren.
Schon damals versuchten Teile des politischen Spektrums sich einem solchen kulturellen Integrationskurs zur umfassenden Durchsetzung mittelständischer Partialinteressen zu widersetzen. In Anlehnung an kulturpolitische Konzepte der Zwischenkriegszeit – die auf der Unversöhnlichkeit unterschiedlicher Klasseninteressen im Kulturkampf basierten – prangerten sie den bourgeoisen Charakter des Kulturbetriebes an und weigerten sich, die Reformagenda zu einer solchen umfassenden „Vermittelständigung“ der Gesellschaft mitzutragen. So sprachen sich damals selbst so prominente Stimmen wie Pierre Boulez mit der Losung „Schlachtet die heiligen Kühe“ dafür aus, den bestehenden Kulturbetrieb zu überwinden und stattdessen Formen der kulturellen Repräsentation zu entwickeln (vgl. Wimmer 2014). Und ihre ExponentInnen setzten stattdessen auf eine „eigene“ Kultur vor allem derer, die vom allgemeinen Aufstiegssog nicht erfasst waren. Es galt, ihr kritisches Bewusstsein mit kulturellen Mitteln zu stimulieren, um gegen die bestehenden sozialen Differenzen nachhaltig anzukämpfen. Den VertreterInnen einer solchen „Gegenkultur“ waren die traditionellen Kultureinrichtungen Ausdruck eines bourgeoisen Suprematieanspruchs, den es zu brechen galt. Entsprechend setzten sie sich für eine frühe Form der kulturellen Vielfalt ein, die ihre TrägerInnen in die Lage versetzen sollten, gegen die herrschenden ungerechten, wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse anzukämpfen. Kunst und Leben sollten dabei eine neue Allianz eingehen, sodass sich Maßnahmen der Kulturellen Bildung – die als missionarisch für die herrschenden Verhältnisse werbend denunziert wurden – weitgehend erübrigen würden (vgl. Raunig 2005; Bennett 2012).
Wenn heute ungebrochen 90 Prozent der staatlichen Mittel der Kulturförderung in Österreich an einige wenige Einrichtungen gehen, während freie Initiativen mit Brosamen abgespeist werden, lässt sich das Scheitern dieser Alternative unschwer ablesen.
Kulturpolitik ist dabei, ihre mittelständisch geprägte Trägerschaft zu verlieren – die hat andere Sorgen
40 Jahre später, so meine These, haben sich die Verhältnisse grundlegend gewandelt. Das die letzten Jahrzehnte politisch bestimmende Mittelstandsprojekt befindet sich in einer tiefen Krise. Auch wenn die empirisch erhobenen Zahlen über den aktuellen Zustand der gesellschaftlichen Mitte auseinander gehen, so lässt sich die Verunsicherung in diesem Milieu deutlich festmachen. Jeder kämpft gegen jeden; dem Verlierer droht der soziale Abstieg; der bislang verlässliche Leistungsgedanke scheint weitgehend desavouiert und durch den Primat des Erfolgs abgelöst. Seine Funktion als natürlicher Träger des Kulturbetriebs verblasst (vgl. Hartmann 2011; Neckel 2008).
Zu diesem tendenziellen Niedergang eines bislang hegemonialen Mittelstandes gehört auch, dass das politische Versprechen an sozial benachteiligte Gruppen, den Aufstieg zu schaffen, an Glaubwürdigkeit eingebüßt hat. Immer weniger junge Menschen glauben an das große Aufstiegsversprechen und richten sich – selbst wenn sie hoch und höchstqualifiziert sind – auf prekäre Lebensverhältnisse ein. Allein der Umstand, dass mehr als 30 Prozent der jungen Menschen in Österreich mittlerweile die Schule verlassen, ohne sinnstiftend lesen zu können und dies nicht als einen existenziellen Verlust wahrnehmen, lässt die integrative Leitfigur des Bildungsbürgers in seiner historischen Bedeutung verblassen.
Statt dem erwarteten Mainstream (bildungs-)bürgerlicher Existenzformen zeichnet sich eine wissenschaftlich kaum mehr beschreibbare Vervielfältigung der sozialen Milieus ab, deren ExponentInnen zum Teil nach ganz unterschiedlichen Wertvorstellungen leben und sich darüber hinaus ganz unterschiedlicher kultureller Ausdrucksformen bedienen. Was sie eint, ist nicht mehr die Hoffnung auf eine gemeinsame „bessere Gesellschaft“, sondern eher schon der wachsende Zorn (vgl. Ash 2016) auf eine überkommene mittelstandsbasierte Elite, die es geschafft hat, sich ihre Pfründe rücksichtslos zu sichern, ohne dazu bereit zu sein, den Rest der Gesellschaft daran zu beteiligen (vgl. Raether 2016). So kann die Entscheidung pro „Brexit“ auch als eine Antwort der vielen Desillusionierten auf die Vorherrschaft einer auf Macht- und Privilegien versessenen Elite gelesen werden, deren gesellschaftliches Engagement sich darin erschöpft, ein inhaltlich entleertes Versprechen auf Verbesserungen für alle vor sich herzutragen, was sie aber schon lange nicht mehr einzulösen gedenkt. Ihnen – so der Tenor der Kommentatoren – galt es, eine Absage zu erteilen. Fast könnte man sagen: Koste es, was es wolle.
Kulturpolitik hat bislang nur zögerlich auf die wachsende Delegitimierung eines auf Integration gerichteten Mittelstandes mit Konzepten der kulturellen Vielfalt geantwortet. Ursprünglich aus der Diskussion zur globalen kulturellen Ungleichheit erwachsen, gewann eine diesbezügliche Programmatik zuletzt auch in den europäischen Gesellschaften an Bedeutung. Vorrangiges Ziel war und ist es, einer friedlich nebeneinander koexistierenden gesellschaftlichen Vielstimmigkeit und Vielgestaltigkeit Ausdruck zu geben. Weitgehend unreflektiert blieben bei der Durchsetzung dieser Ziele freilich die jüngsten sozio-demographischen Entwicklungen in Europa, wonach sich hinter diesem Anspruch einer auf gleichberechtigten Zugang setzenden kulturellen Vielfalt ein zunehmend unüberwindbarer Graben sozialer Ungleichheit auftut, in dem sich die alte Fratze einer ein für alle Male überwunden geglaubten Klassengesellschaft zeigt.
Unter dem Eindruck einer den Realitäten zunehmend Hohn sprechenden Aufstiegsmythologie (vgl. OECD 2014) vermieden die kulturpolitischen EntscheidungsträgerInnen, Konzepte der kulturellen Vielfalt auf die unterschiedlichen sozialen Umstände, die die TrägerInnen eben dieser kulturellen Vielfalt charakterisieren, zurückzubeziehen, um sie so überhaupt erst politisch bearbeitbar zu machen. Die Folge ist ein wachsendes Gefühl des Ausschlusses aus dem politischen Geschehen vor allem bei den sozial Schwachen, das mit ausschließlich kulturellen Mitteln nicht mehr kompensiert werden kann.
Stattdessen gelingt es den selbsternannten VertreterInnen eines vermeintlichen Anti-Establishments, die wachsende Verunsicherung der sozial Schwachen aufgreifen und in Konzepte der kulturellen Rehomogenisierung zu fassen. Als zunehmend treibende kulturpolitische Kräfte sind sie drauf und dran in ihrem offensiven Kampf gegen alles kulturell Andersartige (unter erneuter Verwendung von vergemeinschaftenden Losungen wie „Wir sind das Volk!“, die sich diesmal nicht gegen eine kommunistische Nomenklatura sondern gegen das liberale Establishment samt ihrem „Multi-Kulti-Geschwätz“ richtet) das Konzept der kulturellen Vielfalt noch einmal grundsätzlich in Frage zu stellen und damit eine gegen eine etablierte politische Führung gerichtete politische Massenbasis zu schaffen (vgl. Der Tagesspiegel online: Pegida ist nicht das Volk. http://www.tagesspiegel.de/politik/vereinnahmung-der-parole-wir-sind-das-volk-pegida-ist-nicht-das-volk/11250492.html ).
Kulturelle Bildung in Zeiten fundamentaler gesellschaftlicher Umbrüche
Die liberalen Eliten hingegen scheinen sich eingerichtet zu haben, nicht nur in „post-zentristischen“, sondern – damit verbunden – auch in „post-politischen“ Verhältnissen. Ihre WortführerInnen suggerieren den Menschen die weitgehende Alternativlosigkeit eines globalen ökonomischen Regimes, in dem es nichts mehr zu wählen (und damit mitzuentscheiden) gibt. In den Analysen von Soziologen wie Colin Crouch hat dahinter eine intransparent agierende internationale Wirtschafts- und Finanzindustrie das politische Heft in die Hand genommen, während die im Vordergrund agierenden politischen Eliten auf die Funktion des Erfüllungsgehilfen reduziert sind (vgl. Crouch 2008; siehe dazu auch: http://blogs.lse.ac.uk/politicsandpolicy/five-minutes-with-colin-crouch/ ).
Sie beschränken sich in ihrem Handeln zunehmend auf die Hoffnung, damit zumindest die eigene privilegierte Stellung erhalten zu können. Gleichzeitig werden wachsende Teile der Gesellschaft um ihre politischen Ansprüche betrogen und dann auch noch als vermeintlich politisch Desinteressierte stigmatisiert. Mit einer solchen Politik ist ganz offensichtlich kein Staat (mehr) zu machen.
Spätestens mit dem Abstimmungsergebnis im Vereinigten Königreich werden post-demokratische Verhältnisse offensichtlich. Im Mehrheitswillen der Britischen Bevölkerung äußert sich auch ein Widerstand gegen die antidemokratische Konstruktion der Europäischen Union, die zunehmend offensichtlich der Entwicklung einer europäischen Bürgerschaft entgegensteht. Spätestens mit dem Aufkommen rechtspopulistischer Bewegungen in den meisten europäischen Ländern, die – wie in Ungarn, Polen und zuletzt in Österreich – mittlerweile das Potential haben, Mehrheiten der nationalen Bevölkerungen hinter sich zu versammeln, offenbaren sich die tiefgehenden Verwerfungen demokratischer Prinzipien in der EU. Die einzig verbleibende mögliche Reaktion vor allem derer, die sich aus welchen Gründen auch immer benachteiligt fühlen und denen seitens der EU auf immer neue Weise mitgeteilt wird, dass für sie die Prinzipien der politischen und bürgerlichen Gleichheit nicht (mehr) gelten, scheint der Rückzug auf eine überkommene Nationalstaatlichkeit zu sein. Diese ist zwar objektiv immer weniger in der Lage, die anstehenden transnationalen Probleme zu lösen, lässt aber im aggressiven Kampf gegen die EU-affinen Eliten noch einmal das Gefühl der kollektiven Mächtigkeit aufkommen.
In der Weigerung, eine demokratische Weiterentwicklung der politischen Konstruktion zu ermöglichen, steuern die Verantwortlichen der EU den Kontinent sehenden Auges in den Untergang und reißen dabei eine gesellschaftliche Mitte mit. Ulrike Guérot hat in ihrem Beitrag in den Blättern für deutsche und internationale Politik das diesbezügliche „Versagen der politischen Mitte“ (vgl. Guérot 2016b) überzeugend nachgewiesen. Ihr Argument: Es sei vor allem die Weigerung bzw. die Unfähigkeit der europäischen Eliten, die EU in Richtung einer transnationalen Demokratie weiter zu entwickeln. Es sei vor allem diese Schwäche, die den Hass derer, die sich öffentlich nicht mehr artikulieren können, gegen ein sich alternativlos gerierendes Establishment anstacheln würde. Dieses würde sich angesichts der Antimigrationsfratze zwar in moralische Überheblichkeit flüchten, an den antidemokratischen Verhältnissen aber nichts ändern.
Das Ergebnis ist eine wachsende Kluft zwischen einer schrumpfenden, verunsicherten, aber den Status quo zu ihren Gunsten aufrechterhalten wollenden Mittelschicht und dem wachsenden Rest der Gesellschaft, dem fast alles andere lieber ist, als die Fortsetzung der herrschenden, politisch als alternativlos dargestellten Verhältnisse, die sie als gegen sich gerichtet empfindet.
Über das Elend einer liberalen Kulturpolitik, dem das politische Projekt abhandengekommen ist
Und so sieht sich eine Kulturpolitik, die ihren Anspruch nicht verraten möchte, sich an alle zu richten, unvermittelt vor der Herausforderung, den vielen sozial Abgehängten nochmals ein überzeugendes Angebot zu machen, das über liberale Errungenschaften kultureller Vielfalt hinausweist. Erschwert werden diese Bemühungen durch das Fehlen eines politischen Projektes, das den Begünstigten neue Aussichten auf ein besseres Leben gewährt. Im Moment finden sich ihre RepräsentantInnen, die in der Regel selbst zu den sozialen Aufsteigern zählen, in einem politisch zunehmend unüberbrückbaren Gegensatz, den sie mit ihren begrenzten, zudem vorrangig symbolischen Mitteln immer weniger zu überbrücken vermögen: Auf der einen Seite finden sich die verbliebenen VertreterInnen eines Mittelstands, der seine liberalen Errungenschaften zur Aufrechterhaltung kultureller Vielfalt (samt den damit verbundenen politischen Implikationen) verteidigt. Diese sind durchaus bereit, diese Vielfalt (in ihren Kreisen) auch zu leben und als eine Bereicherung zu propagieren; zugleich erscheinen sie zunehmend isoliert, wenn sie den Bezug zu den Lebenswelten all derer, die ihre liberalen Vorstellungen nicht teilen, weitgehend verloren haben (vgl. Pausch 2016).
Ihnen gegenüber steht ein wachsendes Heer sozial desillusionierter Menschen, die drauf und dran sind, ihren Glauben an die bedingungslose Fortsetzung des gegenwärtigen politischen Systems zu verlieren. In dem Maße, in dem sie sich von einem liberalen Establishment verraten fühlen, sind sie nur zu gerne bereit, sich rechten kulturpolitischen Parolen anzuschließen – so beispielhaft: „AfD – Unterdrückt vom ‚links-grünversifften Mainstream‘“ (vgl. Dirr 2016) und so auf eine umfassende politische Alternative zu drängen. „Der Kampf um die Demokratie hat begonnen“ titelte auf Seite 1 jüngst die Wochenzeitung Die Zeit (Die Zeit Nr. 33 / 2016), um so darauf aufmerksam zu machen, dass wachsende Teile der nationalen Bevölkerungen drauf und dran sind, sich von den Errungenschaften liberaler Demokratie zu verabschieden. Zu einem solchen alternativen Programm gehört neben der Denunziation von Schuldigen - vorrangig den „Fremden“ - an der aktuellen Misere auch das politische Versprechen zur Wiederherstellung einer homogenen nationalen Kultur (als deren Gralshüter sich die jeweilige nationale rechtspopulistische Elite in Szene setzt), mit der sie ihrer Wählerschaft zusichern, sie vor weiterer Überfremdung zu schützen. Die aktuellen Flüchtlingsbewegungen bieten hierfür eine ideale Projektionsfläche. Im Kampf gegen die Political Correctness eines bürgerlichen Diskurses stimulieren sie ein Klima wachsender Radikalisierung – vor allem in den sozialen Netzwerken (vgl. „Jahr der Hasspostings: Nazi-Jargon, Klarnamen und Pseudomedien.“ In: Der Standard online: http://derstandard.at/2000026821933/Das-Jahr-der-Hasspostings-Elf-Fakten-zur-Hetze-im-Netz ). Ihre affektive Überzeugungskraft schöpfen sie aus der Anklage, ihre WählerInnen würden „ausgegrenzt“ und fänden in den Arenen der Entscheidungsfindung kein Gehör; die politische Mitte habe sie ausgeschlossen und nunmehr sei es an ihnen, sich dafür zu rächen (vgl. „SPÖ-Taktik: Mit Vorverurteilungen und Ausgrenzung die FPÖ bekämpfen.“ In: unzensuriert.at: https://www.unzensuriert.at/content/0014130-SP-Taktik-Mit-Vorverurteilungen-und-Ausgrenzung-die-FP-bek-mpfen oder „Der Schwachsinn von der Ausgrenzung der FPÖ.“ In: Der Standard online: http://derstandard.at/2000017461762/Der-Schwachsinn-von-der-Ausgrenzung-der-FPOe ).
Was will/was kann Kulturelle Bildung in dieser Situation leisten?
Weite Teile des Kunst- und Kulturbetriebs sind – so meine erste Einschätzung – auf diese dramatischen gesellschaftlichen Entwicklungen kaum vorbereitet und reagieren darauf in unterschiedlicher Weise.
Gemeinsam ist ihnen der nachvollziehbare Anspruch auf möglichste Kontinuität des Betriebs, der freilich von der (irrigen) Annahme ausgeht, das alles ginge sie nichts oder bestenfalls nur am Rande etwas an; dabei zudem unterstützt von einer weitgehenden Kontinuität gegebener kulturpolitischer Schwerpunkte, wo auf Weiterbestand der bestehenden Infrastruktur gesetzt wird mit der Folge, sich so der darüber hinaus gehenden Handlungsspielräume zu benehmen. Ihre VertreterInnen sind vom selbstreferenziellen Interesse an einem möglichst unbeeinträchtigten Fortbestand ihres Betriebes geleitet: Es geht immerhin um die Aufrechterhaltung einer funktionierenden Infrastruktur, es geht um Jobs und Finanzierungen. Als Traditionen repräsentierende Einrichtungen wie die staatlichen Museen und Veranstaltungshäuser haben sie zudem das Argument des Schutzes eines kulturellen Erbes auf ihrer Seite; die staatliche Förderung in Österreich konzentriert sich so ungebrochen auf den Betrieb der Bundestheater, der Bundesmuseen und der öffentlichen Kunstuniversitäten.
Den Evidenzen (vgl. Ifes 2007 – in Österreich wurde zuletzt 2007 ein umfassendes Monitoring des Kulturverhaltens der Bevölkerung vorgenommen), dass ihre inhaltliche Ausrichtung immer auf ein spezifisches Mittelstandsinteresse bezogen war, begegnen sie in der Regel mit dem Argument der Autonomie künstlerischer Produktion (die durch ein wie immer geartetes Schielen auf Erwartungen des Publikums nicht kompromittiert werden dürfe), allenfalls ergänzt um die Zusage, sich künftig vermehrt um neue, bislang sozial vernachlässigte soziale Gruppen kümmern zu wollen (vor allem wenn dies der Legitimierung einer Fortsetzung staatlicher Privilegierung nützlich erscheint).
Die Aussicht, dass ihnen mit dem Heranbrechen eines „post-bürgerlichen“ Zeitalters das Stammklientel abhandenkommen und dass sich der wachsende soziale Widerstand an den gesellschaftlichen Rändern zunehmend auch über sie als BewahrerInnen der bestehenden Verhältnisse ergießen könnte, scheint bislang noch außerhalb des Vorstellungsvermögens innerhalb des Kulturbetriebes.
Wachsende Verunsicherung innerhalb des Kunst- und Kulturbetriebs
Immerhin können wir feststellen, dass sich auch in den Kultureinrichtungen angesichts der aktuellen Tendenzen wachsender sozialer Ungleichheit Unsicherheit breitmacht. Die Befürchtungen mehren sich, dass der staatlich geförderte Kunst- und Kulturbetrieb zunehmend kulturelle Erwartungen „produzieren“ könnte, die sich in den Lebensverhältnissen von immer mehr Menschen immer weniger widerspiegeln. Das hat etwas mit der geänderten demografischen Zusammensetzung der lokalen Bevölkerung zu tun (und folglich mit der Tatsache, das sich die wachsende gesellschaftliche Heterogenität weder in der Traditionspflege noch im Programmangebot sowie allen anderen strategischen Elementen (Staff Recruitment, Kommunikation, Kooperationen, Zulieferer wiederfinden ( EDUCULT hat dazu an einem Projekt „Brokering Migrants Cultural Participation“ mitgewirkt, das Kultureinrichtungen in Form eines Benchmarking Tools eine einfache Möglichkeit einer diesbezüglichen Selbstevaluierung erlaubt: http://educult.at/forschung/brokering-migrants-cultural-participation/ ). Darüber hinaus mit der wachsenden Konkurrenz eines attraktiven, medial vermittelten kommerziellen Kulturangebotes, das die bisherige Dominanz des staatlichen Kulturbetriebs als Referenzmedium obsolet werden lässt. Entsprechend stellt es für wachsende Teile der Bevölkerung keinen Anreiz mehr dar, sich an ihm zu orientieren (und schon gar nicht auf Grund des überkommenen Versprechens, damit soziale Stellung der NutzerInnen verbessern zu können).
Die daraus resultierende geänderte Stellung des Kulturbetriebs im hegemonialen Gefüge steht zudem in Zusammenhang mit der zunehmenden Unfähigkeit der Kommunikation mit ausgegrenzten Teilen der Bevölkerung. Engagierter Kunst- und KulturvermittlerInnen sehen sich in ihren Bemühungen einer strukturellen Unfähigkeit gegenüber, ein überzeugendes, auf gegenseitigem Vertrauen basierendes Angebot für bislang abseits stehende Gruppen zu entwickeln. Ein solches müsste darauf hinauslaufen, nicht nur neue Bildungsabteilungen einzurichten sondern darüber hinaus die strategische Gesamtausrichtung der Betriebe weiter zu entwickeln. Das würde auch bedeuten, die Funktion der Kulturellen Bildung als gesamtinstitutionelle Aufgabe wahrzunehmen. Die beteiligten VermittlerInnen sollten so nicht darauf beschränkt werden, ihre - schon auf Grund der eigenen Sozialisation vorgegebene - Bestimmung als MissionarInnen mittelständischer Kultur- und Wertvorstellungen wahrzunehmen. Stattdessen käme ihnen eine zentrale Aufgabe als glaubwürdige BrokerInnen (mit entsprechenden, nicht nur künstlerischen sondern auch sozialen Kompetenzen) zwischen den zunehmend auseinander klaffenden Lebenswelten ihrer Klientel zu.
Daraus erwächst wohl die größte Herausforderung für den Kulturbetrieb, die darin besteht, dass sich weite Teile des Kulturbetriebs – weil sie anderes nicht gelernt haben - ungebrochen als Gralshüter eines idealistisch aufgeladenen, als gemeinsam verbindlich erachteten Wertehaushaltes gerieren, den es außerhalb ihrer Mauern nicht mehr gibt. Hier hat sich in den letzten Jahren ein vielfältiges, jeweils nur sehr temporär wirksames, zum Teil konträres und oft nur wenig aufeinander bezogenes Set an Wert- und damit auch Kulturvorstellungen breitgemacht, zu dessen vorrangigem Verhandlungsort die (in der Regel kommerziell betriebenen) sozialen Medien mutiert sind. Sie erzwingen eine völlig neue Kulturbegriffsbestimmung und vermögen als solche das kulturelle Verhalten wesentlich nachhaltiger zu prägen als jedes kulturelle Bildungsprogramm.
Der Sozialphilosoph Thomas Metzinger hat zuletzt in einem Interview in der Wochenzeitschrift Der Spiegel anhand einiger Argumente aus den empirischen Kognitionswissenschaften ausgeführt, welche Möglichkeiten der individuellen, aber auch kollektiven Manipulation sich bereits in naher Zukunft auftun und in diesem Zusammenhang von den kaum unterschätzbaren Konsequenzen für das, was wir bislang unter „Kultur“ verhandelt haben, gesprochen (Metzinger 2016).
Seine aktuelle Gesellschaftsanalyse läuft auf die Annahme hinaus, wir befänden uns zurzeit in einem „gigantischen Massenversuch“, der alle bisherigen Vorstellungen zur „Selbstkonstruktion“ in Gestalt eines konsistenten „Ich“ und mit ihm seiner kulturellen Umgebungen in Frage stellt. Metzinger zufolge seien wir zunehmend von den externen Konstrukteuren virtueller Realitäten in Gestalt zunehmend universell agierender digitaler Medienkonzerne abhängig, die das, was früher „Ich“ genannt wurde, zu verändern bzw. beliebig von einem kulturellen Kontext in den anderen zu verlagern vermögen. Es handle sich dabei um einen Vorgang, der die Grenzen von Realität und Virtualität verschwimmen lässt und alle unsere Vorstellungen eines autonomen Subjekts, das meint „bewusst zu erleben“, ad absurdum führt.
Die Kritik, die es an dieser Stelle anzubringen gilt, bezieht sich in erster Linie auf einen eklatanten Mangel an einer Grundlagenforschung im Bereich der Kulturellen Bildung, die sich bislang standhaft weigert, einen derart fundamentalen Wandel in den – durch die digitale Revolution hervorgerufenen Veränderungen im Verhältnis von Mensch als Subjekt einerseits und seinen zunehmend ununterscheidbaren realen und virtuellen Umgebungen andererseits – zu antizipieren und im Dialog mit den einschlägigen DisziplinenvertreterInnen für den eigenen Fachbereich fruchtbar zu machen.
Wer die Lösung hat, der trete vor
Die vielleicht verheerendste Konsequenz des neoliberalen, undemokratischen EU-Projekts ist die massenhafte „Produktion“ von Jugendarbeitslosigkeit und damit von vielen Millionen junger Menschen, die in einem Klima weitgehender Perspektivlosigkeit jeden Tag aufs Neue zurechtkommen müssen (vgl. Eurostat Online).
Am Ende meiner kursorischen Überlegungen muss ich einbekennen, dass ich mich als privilegierter Beobachter der aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen in zumindest einem Punkt mit ihnen eins weiß: Angesichts täglich neuer Hiobsbotschaften habe auch ich keine Ahnung, wie diese Geschichte weitergehen kann bzw. soll. Weit und breit keine gesellschaftspolitische Analyse, die noch einmal in der Lage wäre, überzeugende Visionen zu kreieren, für die es sich lohnen würde, den kulturpolitischen Kampf aufzunehmen oder diese verlorene Generation zu ermutigen, sich daran zu beteiligen.
Kulturelle Bildung habe ich bislang als eine besondere Möglichkeit gesehen, mich mit all meinen Sinnen in der Welt zu verorten und mir in spielerischer Weise meiner Stellung in der Gesellschaft bewusst zu werden, und als eine Voraussetzung für die Möglichkeit, deren inhärente Zwänge mit der Ausbildung von eigenen Fähigkeiten zu überwinden.
In der aktuellen Situation ist es angezeigt, diesbezüglich allzu schöne Phrasen zu vermeiden. Wenn wir es nicht schaffen, diese in konkrete Praxis umzusetzen, werden Durchhalteparolen zur Wiedergewinnung des Politischen (samt der damit verbundenen Kritikfähigkeit) das Gegenteil dessen bewirken, das sie intendieren. Also könnten wir uns fürs Erste darauf beschränken, uns in die Situation der jungen Menschen hineinzuversetzen, die nichts zu verlieren haben, und damit zuzugeben, dass auch wir keine Lösung haben, schon gar keine, die für andere als einen selbst handlungsleitend sein könnten – und dass wir damit umzugehen werden lernen müssen.
Mein Fazit: Wir stecken in einer ziemlich tiefen kulturellen Krise und als Mitwirkende an der bisherigen Entwicklung haben wir es zugelassen, dass es so weit kommen konnte. Und jetzt haben wir keine überzeugende Lösung. Die um ein gutes Leben beraubten jungen Menschen kennen sie auch nicht.
Was uns aber (noch) bleibt, ist das Wissen um die Unauslotbarkeit des Lebendigen. Alle wesentlichen gesellschaftspolitischen Entwicklungen der letzten Jahre, die guten ebenso wie die schlechten, hat kaum jemand vorhergesehen. Zumindest ein gutes Argument dafür, sich die schiere Lust an einem Leben mit offenem Ausgang nicht nehmen zu lassen; einem Leben, das immer neue existentielle Experimentierräume bereithält und jeden einzelnen von uns – und darüber hinaus uns alle – immer wieder ganz woanders hinführt, als wir es erwartet und gewollt haben.
Uns in diese Form der lebendigen Verunsicherung einzuüben und ihr ein „Trotzdem“ oder „Jetzt-erst-recht“ abzugewinnen, könnte eine lohnende Aufgabe für die Kulturelle Bildungspraxis in diesen Tagen zunehmender Ökonomisierung, Globalisierung und Spaltung der Gesellschaft sein.
Literaturhinweise
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