Kulturelle Bildung in der Migrationsgesellschaft: Migrantenorganisationen als Akteure und Impulsgeber
Ursprünge migrantischer Organisationen in Deutschland
Seit in den 1950er und 60er Jahren die ersten Anwerbeabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und verschiedenen südeuropäischen Ländern abgeschlossen wurden, bildeten sich in Deutschland zahlreiche Migrantenorganisationen. Die sogenannten “Gastarbeiter“ aus Italien, Spanien, Griechenland, der Türkei, Marokko, Portugal, Tunesien und Jugoslawien begannen früh, sich in Vereinen zusammenzuschließen, zumeist auf der Basis einer gemeinsamen Sprache, Kultur und entlang ethnischer Grenzen (vgl. Hunger 2005:234). Daraus entwickelte sich „ein eigenständiges System von Migrantenselbstorganisationen, die sich der Probleme ausländischer Arbeitnehmer und deren Familien bei ihrer Lebensgestaltung annahmen“ (Hunger 2004:6). Diese Organisationen stellten zunächst vor allem soziale Begegnungsstätten dar, in denen die gemeinsame Sprache gesprochen und religiöse und kulturelle Feste miteinander gefeiert wurden.
Je mehr sich die Zuwanderung auch aus anderen Ländern verstetigte und Familienangehörige nach Deutschland nachzogen, desto mehr differenzierten sich die Funktionen der Migrantenorganisationen aus (vgl. Hunger 2004:7). Neben den anfänglichen Arbeiter- und Begegnungsvereinen wurden Kulturvereine, religiöse Vereine, Sport- und Freizeitvereine, Eltern- und Berufsvereine sowie politische Vereine gegründet. Weil die Zuwanderer insbesondere in den 1960er und 1970er Jahren in vielen Städten und Kommunen nur wenige Möglichkeiten vorfanden, kulturelle Angebote in ihren jeweiligen Muttersprachen wahrzunehmen, fungierten diese Vereine für die jeweiligen Zuwanderergruppen auch als lebensgestaltende Kulturorte. So wurden Chöre, Literaturkreise, Folklore- und Theatergruppen ins Leben gerufen, um kulturelle Traditionen der Herkunftsländer zu pflegen und diese an die nachfolgende Generation weiterzugeben.
Migrantenorganisationen im politischen Dialog
Seit den 1990er Jahren haben sich viele Migrantenorganisationen als Interessensverbände formiert (vgl. Hunger 2004:8), die sich für die Anerkennung und Partizipation von ZuwanderInnen in Politik, Medien, Bildung und Kultur etc. einsetzen. Organisationen wie beispielsweise der Bundeszuwanderungs- und Integrationsrat, die Bundesarbeitsgemeinschaft der Immigrantenverbände (BAGIV) oder die Neuen deutschen Medienmacher sehen sich als politische Interessenvertretung beispielsweise für „Journalisten mit Migrationshintergrund“ (vgl. www.neuemedienmacher.de); Elternvereine (z.B. die Mitgliedsverbände der Föderation Türkischer Elternvereine in Deutschland oder der Bund Spanischer Elternvereine in der BRD) verfolgen die Verbesserung der schulischen Bildungschancen von Kindern und Jugendliche sowie die Förderung mehrsprachiger Angebote; Weiterbildungsinstitutionen wie das CGIL-Bildungswerk in Frankfurt am Main oder die AEF-Spanische Weiterbildungsakademie in Bonn sind sowohl in der schulischen als auch in der Erwachsenenbildung tätig und bieten Qualifizierungsangebote insbesondere für Jugendliche und junge Erwachsene mit Zuwanderungsgeschichte an.
Spätestens seit der Initiierung der Deutschen Islam Konferenz, dem ersten Integrationsgipfel im Jahr 2006 sowie der Verabschiedung des Nationalen Integrationsplans der Bundesregierung 2007 (Die Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration 2007) wurden diese Organisationen zu festen Dialogpartnern der Politik u.a. zu den Themen Bildung und Kultur. Ging es bei der damals begründeten Zusammenarbeit zunächst darum, die Integration von Kindern und Jugendlichen mit Zuwanderungsgeschichte durch die Teilhabe an kulturellen Bildungsangeboten in Schule und außerschulischen Einrichtungen wie Jugendkunstschulen, Musikschulen, soziokulturellen Zentren, Bibliotheken, Museen oder Theatern zu fördern, so wird heute verstärkt die integrative kultur- und bildungspolitische Arbeit der Migrantenorganisationen in den Blick genommen.
Bildung und Kultur in Migrantenorganisationen
Im Jahr 2001 betrug die Zahl ausländischer Vereine in Deutschland über 16.000 (Hunger 2005:223). Auch wenn viele Organisationen teilweise unterschiedliche Vereinsziele verfolgen, so ist zu konstatieren, dass die Themen Bildung und Kultur eine zentrale Rolle spielen. In einer Studie zu Migrantenorganisationen, die 2010 vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend in Auftrag gegeben wurde, gaben 64 Prozent der befragten Organisationen an, Angebote im Bereich Kultur anzubieten sowie zum interkulturellen Austausch (57 Prozent) und im Bereich Erziehung und Bildung für Kinder und Jugendliche (47 Prozent) (BMFSFJ 2010:56). Dies hängt nicht zuletzt eng damit zusammen, dass viele Eltern ihren Kindern bessere Bildungschancen ermöglichen möchten und viele Bildungsangebote von Migrantenvereinen, wie beispielsweise von Migrantenkulturvereinen, angeboten werden (vgl. Acevic 2008).
Neben größeren Verbänden unterbreiten vor allem kleinere lokale Initiativen wie Kulturvereine, Begegnungsvereine und multikulturelle Einrichtungen, kulturelle Bildungsangebote. In einer regionalen Studie des Zentrums für Kulturforschung wurde daher neben den professionellen interkulturellen Kulturangeboten der Stadt Köln auch das kulturelle Angebot der Kölner Migrantenkulturvereine untersucht. Die Studie zeigt, dass die in Köln ansässigen Migrantenorganisationen im Jahr 2009 fast 1.400 kulturelle Einzelveranstaltungen wie Vorträge, Lesungen oder Musikveranstaltungen durchgeführt haben (Keuchel 2011:56). Über die Hälfte der befragten Migrantenvereine (51 Prozent), darunter insbesondere Vereine mit griechischen und russischen Mitgliedern, gab darüber hinaus an, künstlerisch-kreative Angebote zu unterbreiten (vgl. ebd.).
Zu den künstlerisch-kreativen Angeboten von Migrantenvereinen zählen u.a. musisch-künstlerische Bildungsangebote aber auch pädagogische Projekte, Deutschkurse oder muttersprachlicher Unterricht. Die Kreisgruppen der Deutschen Jugend aus Russland beispielsweise unterbreiten insbesondere für Kinder und Jugendliche Möglichkeit sich in Theatergruppen, bei Kinoabenden, in Chorgruppen, beim Erlernen von Musikinstrumenten, in Malkursen, Workshops zu Volks- und Hip-Hop-Tänzen, bei Märchen-Lesetagen oder bei Foto- und Video-Gruppen mit Kunst und Kultur auseinander zu setzen. Sowohl professionelle KulturpädagogInnen als auch ehrenamtlich Tätige aus den jeweiligen Vereinen organisieren diese Angebote. Neben der eigenen ästhetisch-künstlerischen Erfahrung geht es bei den Kursen und kulturellen Veranstaltungen auch um die Vermittlung von kulturellem Wissen aus den jeweiligen Herkunftsländern.
Außerschulische kulturelle Bildungsorte
Diese Aufgabe übernehmen auch außerschulische Einrichtungen wie beispielsweise das Konservatorium für türkische Musik in Berlin, das durch hochqualifizierte Lehrkräfte u.a. orientalische Musik vermittelt. Neben musikalischer Früherziehung, Ballettunterricht, Kinder- und Jugendchören werden dort sowohl klassische türkische Musikinstrumente wie Bağlama, Ud, Ney, Tanbur, Kanun oder Kemence unterrichtet als auch der Bau von Zupfinstrumenten erlernt. Das Ziel ist es, einen kulturellen Ort zu schaffen, an dem das Zusammenspiel von westlicher Musik und der Ausübung orientalischer Musik weiterentwickelt wird (vgl. Konservatorium für türkische Musik Berlin / www.btmk.de). Außerschulische Bildungseinrichtungen und Migrantenkulturvereine öffnen sich daher vielfach auch für die Zusammenarbeit mit anderen Vereinen und Kultureinrichtungen; sie engagieren und vernetzen sich bei interkulturellen Literaturtagen, Musik- und Theaterfestivals. Zu nennen sind neben vielen anderen das 2005 gegründete türkisch-deutsche Literaturfestival Literatürk in Essen (www.literatuerk.de), das Interkulturelle Theaterfestival Stuttgart des Forums der Kulturen (www.forum-der-kulturen.de), das Masala Festival in Hannover (www.masala-festival.de) oder das Weltmusikfestival creole in Berlin (www.creole-weltmusik.de).
Vernetzung der Kulturverbände
Auch auf zivilgesellschaftlicher Ebene bilden sich verstärkt Netzwerke, die die politische Zusammenarbeit verschiedener überregional aktiver Organisationen im Feld der Kulturellen Bildung zum Ziel haben. Gemeinsam mit bundesweit arbeitenden Migrantenorganisationen sowie Kulturverbänden hat der Deutsche Kulturrat, der Spitzenverband der Bundeskulturverbände, daher im Jahr 2009 den Runden Tisch „Lernorte interkultureller Bildung“ ins Leben gerufen, an dem Fragen der Kulturellen und Interkulturellen Bildung in schulischen und außerschulischen Bildungsorten erörtert wurden. Gemeinsam formulierten rund 20 ExpertInnen des Runden Tisches Handlungsempfehlungen, wie sowohl die Teilhabe von Kindern und Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund an Kultureller und Interkultureller Bildung in den unterschiedlichen Lernorten verbessert werden und darüber hinaus die Kulturorte von ZuwanderInnen stärkere Anerkennung finden können. Konkret ging es dabei um die Wertschätzung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen einschließlich der Muttersprachen, die individuelle Förderung von Kindern und Jugendlichen sowie die interkulturelle Öffnung und Professionalisierung der zivilgesellschaftlichen Strukturen in Deutschland (vgl. Deutscher Kulturrat 2010 / 2011). Mit diesem Runden Tisch wurde ein Gremium geschaffen, das zentrale kultur- und bildungspolitische Fragen der Migrationsgesellschaft thematisierte.
Postmigrantische Kultur
Auch die zeitgenössische Kunstszene sowie Museen, Theater oder Galerien befassen sich verstärkt mit den Themen Migration und transnationale Lebensräume wie z.B. das Jüdische Museum Berlin oder das Theater Ballhaus Naunynstraße. RegisseurInnen, DramaturgInnen und SchauspielerInnen mit und ohne migrantischem Hintergrund behandeln in ihren Theaterstücken u.a. Themen und Fragen der Migration, der Einwanderungsgesellschaft und der kulturellen Identität. Neben der Theaterarbeit engagiert sich das Ballhaus Naunynstraße seit 2004 mit ihrer „akademie der autodidakten“ auch im Bereich der Kulturellen Bildung. Das Ziel ihrer theaterpädagogischen Projekte wie die „Kiez-Monatsschau – Nachrichten aus der Naunynstraße oder Theaterstücke wie Ferienlager – die 3. Generation“ ist es, Jugendlichen die Auseinandersetzung mit Kunst und Kultur sowie mit ihren kreativen Fähigkeiten und Fertigkeiten zu ermöglichen. Dazu baut die „akademie der autodidakten“ Kooperationen mit Schulen, Jugendträgern und Initiativen vor Ort auf, die sie in ihr Programm einbindet.
Subsumiert man unter „Migrantenorganisationen“ all jene Orte, an denen Kunst und Kultur von und für Menschen mit und ohne Zuwanderungsgeschichte repräsentiert und vermittelt werden, so ist festzustellen, dass sich deren Angebotsspektrum seit den 1950er Jahren stark geöffnet und erweitert hat. Stand zunächst die soziale und gemeinschaftsstiftende Funktion der Vereine im Vordergrund, so rücken heute verstärkt politische Fragen in den Fokus. Mit Blick auf die Frage, wie kulturelle Vielfalt in Kunst und Kultureller Bildung als selbstverständlicher Teil stärker sicht- und erlebbar werden kann, können sowohl Migrantenorganisationen als auch die zeitgenössische Kunstszene und Kultureinrichtungen zentrale Impulsgeber sein. Die dargestellten Initiativen veranschaulichen, wie kulturelle Erfahrungen in der Migrationsgesellschaft sowohl gelebt als auch in kulturellen Räumen zusammentreffen. Die kultur- und bildungspolitische Aufgabe der kommenden Jahre wird es daher sein, Themen wie Migration und Transkultur in der Kulturellen Bildung stärker aufzugreifen, zu reflektieren und neue Vermittlungskonzepte für eine Kulturelle Bildung in der Migrationsgesellschaft zu entwickeln, die auf zwei Grundprinzipien gründet: „…auf den Gleichheitsgrundsatz und den Grundsatz der Anerkennung anderer Identitätsentwürfe.“ (Auernheimer 2001:45).