Kulturelle Bildung im freiwilligen/bürgerschaftlichen Engagement
Begriffe und historische Einordnung
Bürgerschaftliches Engagement umfasst jene Tätigkeiten, die freiwillig, nicht auf materiellen Gewinn gerichtet und gemeinwohlorientiert sind, zugleich im öffentlichen Raum stattfinden und in der Regel kooperativ ausgeübt werden (Enquete-Kommission 2002:57ff.). Dieser Begriff versucht seit der Jahrtausendwende eine Vielfalt von historisch gewachsenen und neueren Engagementformen in allen gesellschaftlichen Feldern zu fassen: im Sozial- und Gesundheitsbereich, in Sport, Kultur und Ökologie, in den Bereichen der Bildungs- und Jugendarbeit, in Kirche, Politik und Justiz etc. Nicht nur das klassische Ehrenamt in Vereinen und Verbänden findet im bürgerschaftlichen Engagement seinen Platz, sondern auch die neuen sozialen Bewegungen der 1960er bis 1980er Jahre (z.B. Frauen-, Friedens- und Ökobewegung) oder aktueller Couleur (z.B. Bürgerinitiativen, Stuttgart21), die Nachbarschafts- und Selbsthilfebewegung oder das Engagement im Web 2.0. Mit diesen Ausdrucksformen des „Neuen Ehrenamtes“ waren ein Strukturwandel des bürgerschaftlichen Engagements und ein hoher Anspruch an Basisdemokratie und Mitgestaltung, Selbstverantwortung und -verwaltung verbunden. Diese stehen durchaus im Widerspruch zu politischen Tendenzen, den Rückzug des Staates aus der gesellschaftlichen Verantwortung in vielen Bereichen durch Engagement zu flankieren (Olk/Hartnuss 2011).
Freiwilliges Engagement in der Kultur geht auf Aktivitäten des Bürgertums als Kulturelite im 18. und 19. Jh. (Lesegesellschaften, Kunstvereine, Theaterassoziationen) zurück – Grundstein für das bis heute lebendige und häufig traditionsbewusste Vereinswesen. Eine zweite Traditionslinie begründet sich in der kulturellen Aktivität von Laien, vorrangig im Musizieren, eine dritte in der Arbeiterbewegung. Die einzig neue kulturelle Engagemententwicklung im 20. Jh. war die Soziokultur (Enquete-Kommission 2002:167ff.). Zu diesen Entwicklungen gesellt sich bis heute eine Vielfalt an selbstorganisierten Kulturinitiativen.
Viele Jahrzehnte wurde die Ehrenamtsdebatte, auch in der Kultur, ohne Anknüpfung zum Bildungsdiskurs geführt (Wagner 2000, Ermert 2003). Dies veränderte sich spätestens mit dem o.g. Strukturwandel. Einerseits konstatierte die Empirie eine veränderte Motivationslage, wonach Freiwillige immer weniger altruistische Motive und immer mehr eigene (Bildungs-)Interessen und Bedürfnisse nach Selbstentfaltung und Mitgestaltung betonten. Andererseits wurde im Bildungsbereich das freiwillige Engagement als Lernfeld „entdeckt“.
Engagementfeld Kultur: Profil und Entwicklungen
Die im Folgenden zusammengefassten Ergebnisse nehmen vorrangig das klassische und strukturierte Engagement in den Blick, da bisher informelle und neue Formen kaum fundiert erforscht sind. 36 % der Deutschen engagieren sich freiwillig (z.B. Vorstandsfunktionen, Vereinsaufgaben, Projektorganisation/-initiative) (TNS 2010), wobei die Übergänge zwischen privaten Aktivitäten (z.B. Hobbys und Mitgliedschaften im Verein) und Engagementhandeln – auch in der Kultur – nicht immer klar definiert sind (Düx u.a. 2008:111f.).
„Kultur, Kunst und Musik“ zählen zu den großen Bereichen öffentlicher und freiwilliger Aktivitäten. In ihnen sind ca. 18 % der deutschen Bevölkerung ab 14 Jahren öffentlich aktiv (z.B. durch Mitgliedschaft) und 5,2 %, d.h. über drei Millionen Menschen, freiwillig engagiert (z.B. durch Ehrenamt) (BKJ 2007a:48). Am stärksten engagieren sich die 55- bis 65-Jährigen (7,5 %). Alle anderen Altersgruppen haben eine kulturelle Engagementquote von ca. 5 % (Männer: 6,5 %, Frauen: 4,6 %) (ebd.).
Der sogenannte „Elite-Effekt“ des freiwilligen Engagements ist im kulturellen Bereich besonders hoch (BKJ 2007a:50ff.): Besser gebildete Menschen engagieren sich häufiger freiwillig, sind deutlich politisierter bzw. der Kirche stärker verbunden und haben einen größeren Bekannten- und Freundeskreis als Nichtengagierte (BKJ 2007a:50f.).
Engagierte in „Kultur, Kunst und Musik“ äußern jenseits ihres ausgeprägten Kulturinteresses ganz ähnliche Engagementmotive und -erwartungen wie in anderen Bereichen Engagierte. Am wichtigsten ist ihnen, die Gesellschaft mitzugestalten (69 %) und mit anderen Menschen zusammenzukommen (65 %). Kulturengagierte haben einen höheren Mitgestaltungsanspruch und betonen stärker den Geselligkeitsaspekt (z.B. sympathische Menschen kennen lernen), fokussieren jenseits karitativer Haltungen (z.B. anderen Menschen helfen) zunehmend eigene Interessen (z.B. Kenntnisse und Erfahrungen erweitern, beruflich aus dem Engagement profitieren) (BKJ 2007a:52).
Kulturelle Engagementfelder haben spezifische Tätigkeitscharakteristika. Veranstaltungsorganisation, Öffentlichkeitsarbeit und Verwaltungsaufgaben spielen eine zum Teil weit größere Rolle, persönliche Hilfeleistungen eine geringere (BKJ 2007a:48f., Düx u.a. 2008:71f.).
Vereine stellen mit 46 % (Kultur: 67 %) das wichtigste organisatorische Umfeld des freiwilligen Engagements dar. Öffentliche Einrichtungen (staatliche, kommunale und kirchliche) sind das zweitwichtigste Umfeld (23 %), gefolgt von Gruppen und Initiativen (13 %). Es gibt in der Kultur besonders geringe Anteile hauptamtlicher MitarbeiterInnen, zugleich aber auffällig günstige Rahmenbedingungen für Mitsprache und Mitentscheidung (Kultur: 78 %, alle Engagierten: 68 %) (BKJ 2007a:54f.; TNS 2010:175ff. und 183ff.).
Bildungsaspekte im freiwilligen Engagement: Diskussionen und Befunde
Bildung im freiwilligen Engagement hat im Wesentlichen drei Bezugsebenen (Enquete-Kommission 2002:282ff.): die Organisationen, in denen sich Freiwillige engagieren (z.B. Organisationsentwicklung und Professionalisierung), die hauptamtlichen MitarbeiterInnen und deren Qualifizierungsbedarfe für die Zusammenarbeit mit Freiwilligen und die freiwillig Engagierten mit den für sie bestimmten Bildungsgelegenheiten selbst.
Die Interessenorientierung von Freiwilligen („für mich“) ergänzt die Gemeinwohl- („für andere“) und Geselligkeitsorientierung („mit anderen“) und ist ein Indikator für Bildungserwartungen: Dass man die eigenen Kenntnisse und Erfahrungen erweitern kann, wird als wichtig gewertet. „Ich will mir Qualifikationen erwerben“ erhält zu 27 % die volle Zustimmung (Jugendliche: 47 %), „Ich will … auch beruflich vorankommen“ zu 10 % (Jugendliche: 25 %) (TNS 2010:12ff.).
Insgesamt berichten 45 % aller Freiwilligen (Kultur: 47 %), ihr Engagement würde in mindestens hohem Maße dazu beitragen, dass sie für sich persönlich wichtige Fähigkeiten erwerben; in gewissem Maße wird dies zu 43 % (Kultur: 44 %) bestätigt. 12 % verneinen Lernmöglichkeiten (Kultur: 9 %) (TNS 2010:227).
Die bisherige Engagementforschung konzentriert sich auf Kompetenzvermittlung: Vorrangig werden neben fachlichen engagementspezifische Fähigkeiten vermittelt, insbesondere Management- und Leitungskompetenzen, organisatorische und pädagogische Fähigkeiten, rhetorische und publizistische Kompetenzen, weniger dagegen alltagspraktische, soziale und instrumentelle Kompetenzen. Engagement ist zudem ein wichtiger Ort für demokratische Bildung (Düx u.a. 2008:175f.). Daneben spielt der Erwerb sozialen Kapitals, d.h. der Aufbau persönlicher Kontakte, eine große Rolle (Düx u.a. 2008:72).
Dabei geht es nicht nur um Lernprozesse für Engagement, die im engeren Sinne mit der Qualifizierung für die freiwilligen Tätigkeiten selbst verbunden sind. Es wird zunehmend ein darüber hinausgehender weiter Bildungsbegriff konturiert – Bildung im und durch Engagement –, der in zwei Richtungen weist: Die eine bezieht sich als Persönlichkeitsbildung im Sinne von Selbstentfaltung und -wirksamkeit auf die tätigen Subjekte (Münchmeier 2010:6; Düx u.a. 2008:258). Die andere ist gesellschaftsbezogen und lässt sich als soziales Lernen interpretieren. Soziales Lernen ist auf einer allgemeinen Ebene zunächst unvermeidliche Begleiterscheinung bzw. ungeplante Nebenfolge jeder menschlichen Interaktion, die sich durch Handeln vollzieht. Es lässt sich darüber hinaus als Erwerb sozialer Kenntnisse, Einstellungen und Verhaltensweisen unter den Lernmechanismen Imitation, Identifikation und Internationalisierung durch die Lernenden selbst verstehen. Soziales Lernen wird schließlich auch als geplantes, intentional betriebenes Lernarrangement mit spezifischen Lernorten, Methoden und Zielen verstanden. Damit ist unter anderem die Entwicklung von Wertehaltungen und Einstellungen, Kooperations- bzw. Kontaktbereitschaft und Solidarität und das Einüben zivilgesellschaftlicher Handlungsdispositionen verbunden (Rauschenbach 2005:36; Münchmeier 2010:6; Enquete-Kommission 2002:289f.). Freiwilliges Engagement hat demnach eine emanzipatorische Funktion, weil es Menschen befähigt, (eigen-)verantwortlich und selbstbewusst für sich und für andere zu handeln (Schenkel 2007:117). Mit Blick auf Lernsettings sind zunächst strukturierte Angebote zu nennen. Die Organisationen freiwilligen Engagements verfügen in der Regel über eigene, teilweise obligatorische, non-formale Bildungsangebote mit aufgabenbezogenen Inhalten – vom klassischen Wochenendkurs, über regelmäßige Trainings bis hin zu individuellen Mentorenprogrammen (Düx u.a. 2008:113). Inhaltlich fokussieren sie auf allgemeine Kompetenzvermittlung, Organisation und Management, arbeitsfeld- und fachspezifische Qualifikationen sowie Begleitung und Reflexion (Enquete-Kommission 2002:284f.). Kulturengagierte berichten deutlich seltener (39 %) von Fortbildungsangeboten als alle Engagierten (47 %) (TNS 2010:230), zeigen sich mit diesem Umfang aber offenbar zufrieden: Sie wünschen sich seltener bessere Weiterbildungsmöglichkeiten und fachliche Unterstützung (TNS 2010:282ff.).
Verwiesen sei auf andere lern- und entwicklungsfördernde Bedingungen, auf informelle Bildungsqualitäten, welche sich auf der Basis von konkreter Beteiligung, frei gewählten Verantwortungsbereichen und gemeinsamem Handeln, aber auch als fachliche und pädagogische Begleitung mittels spezieller AnsprechpartnerInnen (Alle Engagierten: 61 %, Kulturengagierte: 49 %) erfolgreich zu non-formalen Angeboten verknüpfen (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2010:80; TNS 2010:183ff.).
Als vier zentrale strukturelle Merkmale dieser informellen Lernprozesse im freiwilligen Engagement sind zu nennen:
>> Freiwilligkeit, die Selbstentfaltung, -bestimmung und -entwicklungsprozesse ermöglicht;
>> Lernen in sozialen Bezügen, das öffentlich außerhalb der Privatsphäre geschieht;
>> Verantwortungsübernahme, die das Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten stärkt, Selbstbewusstsein, -sicherheit und -vertrauen entstehen lässt;
>> sowie Frei- und Gestaltungsräume, die Gelegenheitsstrukturen für Lebensentwürfe und Wertvorstellungen bieten (Schenkel 2007:114f.; Düx et al. 2008:114).
Mit diesem Katalog ist eine hohe Anschlussfähigkeit zu den Prinzipien Kultureller Bildung – wie z.B. Freiwilligkeit, Selbstwirksamkeit, Partizipation, Offenheit – gegeben.
Für die Aneignung vieler Kompetenzen ist das informelle, praxisbezogene „learning by doing“ ausschlaggebend. Lernen (als Übung) und Handeln (als Ernstfall) sind im Engagement inhaltlich und zeitlich eng verknüpft (Düx u.a. 2008:175). Engagierte erleben und reflektieren sich selbst als Handelnde, Verändernde und Nützliche (Selbstwirksamkeit) (Düx u.a. 2008:175ff.).
Kulturelle Bildung im freiwilligen Engagement: Herausforderungen und Entwicklungsaufgaben
Sowohl das kulturelle Engagement als auch die Bildungsaspekte im freiwilligen Engagement sind weder grundständig erforscht noch flächendeckend konzeptionell und systematisch miteinander verknüpft. Das verunmöglicht aktuell eine spezifische Betrachtung von kulturellem Engagement unter damit verbundenen kulturellen Bildungsprozessen. Zunächst müsste ein adäquater Begriff entwickelt werden, der über ein enges kulturelles Bildungsverständnis hinausgeht, der die zivilgesellschaftliche und arbeitsweltliche Ausrichtung von Engagement sowie alle Ausdrucksformen von Engagement einbezieht und der zudem dem Eigenwert des kulturellen Engagements und der Nichtinstrumentalisierbarkeit von Bildung Rechnung trägt.
Freiwillige ermöglichen Kulturangebote, die ihnen je nach Aufgabe und Einsatzgebiet ein kulturelles Umfeld bieten, welches ästhetische, künstlerisch-kreative, politische-historische und gesellschaftlich-soziale Dimensionen beinhalten kann. Kulturelle Bildung im engeren Sinne kann mittels spezifischer Qualifizierungsmaßnahmen (z.B. für ehrenamtliche ChorleiterInnen) oder kreativer Bildungsangebote (z.B. als Anerkennung) gewährleistet werden, ist aber nur ein kleiner Ausschnitt engagementbezogener Bildung. Freiwilligendienste sind eine spezifische Form freiwilligen Engagements und können durch ihre konzeptionelle Rahmung und strukturierte Begleitung eine kulturelle Bildungsprogrammatik garantieren (siehe Jens Maedler „Kulturelle Bildung in Freiwilligendiensten“) .
Bildungs- und Engagementpotentiale in der Kultur zu stärken und zu fördern, müsste zudem z.B. bedeuten:
>> Bildungs-, Sozial- oder kulturell Benachteiligten mittels Angeboten und Aktivitätsformen mit niedriger Hemmschwelle in Engagement integrieren;
>> Jugendlichen frühzeitig und nachhaltig zum Engagement heranführen (Sozialisation zur Freiwilligkeit);
>> mehr Bewährungs- und damit Bildungsmöglichkeiten in Leitungsfunktionen und Führungsaufgaben für junge Engagierte und Frauen schaffen;
>> selbstorganisierte Initiativen sowie informelle Engagementkontexte und dortige Bildungsgelegenheiten stärken sowie Engagement in Kultureinrichtungen oder lokalen Bildungslandschaften mit Kulturprofil anregen.
Diese Ziele sind nur in gemeinsamer Anstrengung von Organisationen und Netzwerken, Politik und Verwaltung aus den Feldern Kultur, Jugend und Bildung sowie Engagement zu erreichen.