Kulturelle Bildung in den Soziokulturellen Zentren
Thema und Begriffsbestimmung
Kulturelle Bildung ist zuerst und vor allem Selbst- und Persönlichkeitsbildung und nicht Bildung zu anderen, übergeordneten Zwecken, so nützlich diese sein mögen. Auch Soziokultur ist demnach nicht Soziale Arbeit mit kulturellen Mitteln, sondern Kulturarbeit und Kulturelle Bildung im sozialen gesellschaftspolitischen Feld – bezogen auf die Menschen am Ort (siehe Burkhard Hill „Kulturelle Bildung in der Sozialen Arbeit“).
Für die Soziokulturellen Zentren waren und sind die Vermittlung ästhetischer Erfahrungen und die künstlerische Auseinandersetzung mit der jeweiligen Lebenswelt in all ihren Facetten von Beginn an Bestandteil ihrer Programmatik: für Jung und Alt, vom kulturpädagogischem Kursangebot bis zum World Music-Konzert, vom Skulpturenbau bis zum Frauentheater und Kindermusical, vom Zirkusangebot bis zur Multimediaperformance, von der lokalen Musikförderung bis hin zum „professionellen“ Konzert, der Literaturwerkstatt oder Poetry-Slam (siehe Lino Wirag „Zeitgenössische Formen informeller Literaturvermittlung“). Soziokulturelle Zentren waren und sind Lernorte und Experimentierfelder Kultureller Bildung. Neben der „Schulung“ ästhetischer Fähigkeiten bei den Kulturangeboten für alle ging es bei der Idee Soziokultureller Zentren auch um die Entdeckung der vorhandenen persönlichen kreativen Ressourcen, ganz im Sinne „Kunst und Kultur von allen“. Es ging aber auch um die heute überall propagierten Schlüsselkompetenzen, die sozusagen immanent vermittelt und in der Arbeit konkret erprobt wurden und werden. Dazu gehört auch, dass BesucherInnen und TeilnehmerInnen MitakteurInnen sein können, eingebunden in Planung, Organisation und Umsetzung. Nicht nur die heute allseits proklamierte „Bürgergesellschaft“ findet vor Ort in den Zentren statt und realisiert bis heute vielerorts den Fortbestand, die Erweiterung und Aktualisierung der Angebote. Aus der Selbstverwaltung kommend ist das Arbeiten im Team in unterschiedlichen Funktionen, oft unabhängig von Status und konkreter Ausbildung, in vielen Häusern bis heute die vorherrschende Arbeitsweise. Alle Beteiligten sehen sich damit neben der fachlichen Anforderung auch mit einem hohen Anspruch an interkultureller Kompetenz konfrontiert, die nicht nur mit ethnischen und religiösen, sondern auch altersgruppen-, szene- und spartenbezogenen Unterschieden umgehen können muss.
Historische Dimension
Soziokultur ist eine programmatische Bezeichnung für Diskurse, Inhalte, Praxis- und Organisationsformen, die gesellschaftliches Leben und kulturellen Ausdruck aufeinander beziehen. Sie öffnet sich unterschiedlichsten Auffassungen von Kultur, fördert – unabhängig von Alter, Geschlecht und Herkunft – durch kulturelle Beteiligung bürgerschaftliches Engagement und die kreativ-kulturellen Kompetenzen möglichst vieler Menschen und sucht damit Antworten auf die Frage, wie wir leben wollen.
Die Geschichte der soziokulturellen Arbeit und Einrichtungen begann in den 1970er Jahren. Entstanden im Zuge der Neuen Sozialen Bewegungen aus einer urbanen Bewegung für alternative kulturelle Ausdrucks- und Vermittlungsformen, die auf gesellschaftliche Veränderung drängte, sind Soziokulturelle Zentren und Initiativen in Groß- und Kleinstädten wie auch in ländlichen Räumen mittlerweile fester Bestandteil der Kulturlandschaft. Die Bundesvereinigung Soziokultureller Zentren e.V. engagiert sich als Dach- und Fachverband, in dem mittlerweile 460 Zentren und Initiativen organisiert sind, für die Anerkennung und angemessene Förderung der soziokulturellen Arbeit.
Aktuelle Situation: Beschreibung und Bewertung und Anwendungskontexte – Soziokulturelle Akteure
Mit jährlich über 24 Millionen Besuchen bei über 84.000 Veranstaltungen pro Jahr und über 13.000 regelmäßigen Angeboten (Kurse, Gruppenangebote, Proben, Offene Angebote usw.) pro Woche gehören soziokulturelle Einrichtungen zu den attraktiven und nachfragestarken Kultureinrichtungen. Die vielfältige und vielschichtige Kulturarbeit wird von den AkteurInnen in soziokulturellen Zentren, Netzwerken und Initiativen geleistet sowie kulturpolitisch auf Landes- und Bundesebene vertreten.
Die Arbeit der soziokulturellen AkteurInnen ist durch folgende Leitsätze geprägt, die damit einem breiten Spektrum Kultureller Bildung entsprechen:
>> Die Zentren ermöglichen einem breiten Bevölkerungsspektrum, selbst kreativ zu werden, kulturelle Angebote zu organisieren und künstlerische Darbietungen unterschiedlicher Genres zu erleben.
>> In den Zentren stehen Profis und Laien auf der Bühne und können in Kursen, Workshops und künstlerischen Produktionen von und miteinander lernen.
>> Die Zentren ermöglichen den NutzerInnen, ihr kulturelles und soziales Potential zu entfalten und ihr Lebensumfeld nachhaltig mitzugestalten.
>> Die Zentren bieten Strukturen und Erfahrungen, die vielfältiges bürgerschaftliches Engagement fördern.
>> Die Zentren stellen Räume, Technik und Netzwerke für kulturelle Ausdrucksformen und Veranstaltungsformate zur Verfügung.
>> Die Zentren bringen PartnerInnen aus unterschiedlichen Bereichen, z.B. Kultur, Soziales und Bildung, in Netzwerken zusammen, initiieren und realisieren Kooperationen.
In der konkreten Praxis sind Soziokulturelle Zentren weit über den engeren Kulturbereich hinaus in sehr unterschiedliche Arbeitsfelder verzahnt. Das Spektrum reicht von Kinder- und Jugendarbeit, Bildungsarbeit, Stadtteilarbeit bis hin zu interkultureller Arbeit. Dieser übergreifende Arbeitsansatz findet sich auch im Veranstaltungsbereich wieder. So umfasst die programmatische Angebotsstruktur in den Zentren nahezu alle künstlerischen Sparten: Musik, Disco, Comedy, Kabarett, Ausstellungen, Kleinkunst, Theater, Tanz, Literatur, Lesungen, Poetry Slam, Diskussionen, Film, aber auch Feste, Karneval und Festivals sowie Stadtführungen werden angeboten. Vielfältigkeit, Multifunktionalität und die Funktion als kultureller Rezeptions- wie Produktionsort zeichnen die Soziokulturellen Zentren aus, sodass das Motto „Vielfalt aus Prinzip“ von der Bundesvereinigung Soziokultureller Zentren als konstituierendes Element der soziokulturellen Praxis bezeichnet werden kann. Als Orte kultureller Produktion bzw. Drehscheibe Kultureller Bildung für alle Generationen werden in den Zentren z.B. mit Jugendlichen partizipativ Theater-, Tanz- und Musicalproduktionen entwickelt, generationsübergreifende Projekte veranstaltet, Sampler von lokalen Bands gegen Rechtsradikalismus produziert, Poetry Workshops, Textwerkstätten an Schulen, Angebote im Bereich bildender Kunst und neuen Medien oder Ausstellungen im Museum durchgeführt. Die Partizipation von Jugendlichen kann auch eine Konzertgruppe sein, die eigenständig mit professioneller Unterstützung aus dem Zentrum Konzerte plant, organisiert und durchführt.
Anzumerken ist dabei, dass die Programme und die jeweiligen Schwerpunkte der Soziokulturellen Zentren in einem Kontext der örtlichen Kulturvermittlung stehen und sich auf die jeweiligen lokalen Anforderungen und Bedürfnisse beziehen. So kann sich das Programm in ländlichen Regionen, in denen das Soziokulturelle Zentrum häufig einziger konkurrenzloser Anbieter ist, erheblich von dem Programm eines Zentrums unterscheiden, das im urbanen Raum agiert. In ländlichen Regionen haben die Zentren eher den Charakter von multifunktionalen Häusern und sind sowohl spartenbezogen als auch zielgruppenorientiert offener.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass ein Großteil der vielfältigen Aktivitäten Soziokultureller Einrichtungen auf mehr als bloße Rezeption angelegt ist. Durch Interdisziplinarität, vielfältige Vernetzungen und Partizipationsmöglichkeiten sowie die Verzahnung mit der Lebenswelt vor Ort machen Soziokulturelle Zentren ein Geflecht unterschiedlicher Aktivitäten Kultureller Bildung möglich.
Ausblick, Perspektiven, Herausforderungen
Bezogen auf die Kulturelle Bildung werden nachfolgend exemplarisch einige Herausforderungen genannt:
a) Ökonomische Entwicklung: In den Gründungsjahren der Soziokulturellen Zentren, die von einem partizipativen Ansatz von „Kultur für alle“ bzw. politischer begriffen „Kultur von unten“ geprägt waren, wäre eine Oper oder ein klassisches Konzert in den Zentren undenkbar gewesen (siehe Hilmar Hoffmann/Dieter Kramer „Kultur für alle. Kulturpolitik im sozialen und demokratischen Rechtsstaat“). Im Zuge der Ökonomisierung und „Mainstreamisierung“ von Soziokultur werden die Kulturangebote in den Zentren durchlässiger und ehemals „klare“ Abgrenzungen zur sogenannten Hochkultur lösen sich zunehmend auf. Wie auf der einen Seite „klassische“ Kulturinstitute wie Theater, Oper, Konzerthäuser oder Museen sich der „Popkultur“ und „Soziokultur“ geöffnet haben, findet die Öffnung, die Transformation der Stile, auch auf Seiten der Soziokulturellen Zentren statt. Dass das heute möglich ist, bestätigt zum einen die immer noch wichtige Offenheit der Zentren, zum anderen verdeutlicht sich in der Offenheit ein anderes Profil bildendes Element der Soziokultur. Ort und Freiraum zu sein für Formate wie Neue Musik oder experimentelle Musik, die es in ihrer „Unpopularität“ schwer haben. „Fördern, was es schwer hat“, die Ermöglichung von Unmöglichem, die Bereitstellung der Bühne für Experimentelles, für Un- oder noch Wenigbekanntes sowie Nachwuchsförderung sind Ansätze, die immer noch, trotz finanzieller Nöte und daraus resultierendem Kommerzialisierungsdruck, für ein Profil von Soziokulturellen Zentren handlungsleitend sind. Fraglich ist, wie sich der Kanon der zunehmenden Ökonomisierung der Kultur weiter auf die Profilbildung der Zentren auswirken wird. Bei einem hohem Eigenfinanzierungsanteil, der in vielen Häusern zwischen 60-70 % liegt, ist neben den Forderungen nach angemessener Wertschätzung und Finanzierung der Soziokulturellen Zentren eine Anpassung des Programms an die Wünsche und Bedürfnisse des Publikums sowie im zunehmenden Konkurrenzdruck eine Profilschärfe für das „Überleben“ der Zentren unumgänglich.
b) Zusammenarbeit schulischer und außerschulischer Träger: Hier drängen sich verschiedene Fragestellungen auf: Wie sind die jeweiligen und teils drastisch unterschiedlichen Arbeitsformen besser als bisher in Einklang zu bringen? Wie sollen die jeweiligen Anteile gewichtet sein? Zerstören Ganztagsschulstrukturen auf Dauer gewachsene Strukturen außerschulischer Kultur- und Jugendarbeit? Folgt eine Fokussierung der Förderung auf schulische zu Lasten außerschulischer Angebote?
c) Substanzerhalt der kulturellen Infrastruktur und Trägervielfalt: Die Bedeutung Kultureller Bildung für die gesamte Entwicklung von Kindern und Jugendlichen und letztlich aller Menschen sollte über Sonntagsreden hinaus durch ausreichende finanzielle Ressourcen so gestärkt werden, dass die verschiedenen Einrichtungen in diesem Tätigkeitsfeld ihrer Aufgabe gerecht werden können. Dabei geht es um Zukunftssicherheit, da die vorhandenen Infrastrukturen soziokultureller Einrichtungen und sonstiger Einrichtungen Kultureller Bildung oft unzulänglich ausgestattet und gesichert sind und Innovationsfelder erst in Ansätzen erschlossen werden können.
d) Reichweite: Es geht außerdem um die Frage der Reichweite, da wir vom Ziel kultureller Bildungsvielfalt für ALLE Kinder und Jugendlichen noch weit entfernt sind. Auch dafür ist die Sicherstellung der Ressourcen für die Einrichtungen vor Ort unabdingbar. Dabei fehlt es an Abstimmung und Durchlässigkeit: Weder in der Förderlogik noch in der Praxis vor Ort, noch im Berichtswesen ist derzeit eine hinreichende Verzahnung erkennbar.
e) Dabei geht es insgesamt um die Themen Bildungsgerechtigkeit, Interkulturalität und Intergeneralität und den Generationenwechsel, um Teilhabe und Partizipation und Möglichkeiten für Engagement und gelebte Demokratie.
f) Da der potentielle Beitrag Kultureller Bildung zur Herstellung der grundgesetzlich gebotenen gleichwertigen Lebensverhältnisse erst in Ansätzen erkannt, geschweige denn umgesetzt ist, ist hier die Politik am Zug: Wer das Geld gibt, kann z.B. auch Einfluss nehmen auf die Schulen, damit sie sich öffnen, neue Partner suchen, neue Formen entwickeln. Denn der bloße Einkauf von KünstlerInnen zu Dumpingpreisen ist nicht nachhaltig.
Kulturelle Bildung ist ein Lebens- und Praxisfeld, in dem Orientierung und Selbstverortung möglich sowie Selbstwirksamkeit und gemeinschaftliches Handeln erfahrbar werden. Interesse und Bereitschaft, Möglichkeit und Fähigkeit zum eigenen Engagement sind Grundlagen gelebter Demokratie und gestalteter Freiheit, die mit und durch Kunst und Kultur gestärkt werden. Kulturelle Bildungsprozesse bergen dabei enorme Potentiale für die Entwicklung von Strategien der sozialen Inklusion und der kulturellen Vielfalt.
Bezogen auf die Zentren und andere kulturelle Einrichtungen heißt das: Sie können auf ihre langjährigen Erfahrungen und gewachsenen Partnerschaften aufbauen, ihre Aktivitäten in diesem riesigen Arbeitsfeld ausweiten und intensivieren.