Kulturelle Bildung im Alter
Der demografische Wandel beeinflusst längst die Praxis der Kulturellen Bildung (siehe Karl Ermert „Demografischer Wandel und Kulturelle Bildung in Deutschland“): In immer mehr Städten entstehen Seniorentheatergruppen. Der Deutsche Musikrat hat das Thema Musizieren 50+ auf der Agenda und diskutiert notwendige Rahmenbedingungen für das Musizieren im Alter. In der Medienarbeit werden Ansätze zur generationenübergreifenden Arbeit entwickelt. An manchen Museen entstehen Führungskonzepte für Menschen mit Demenz. Immer mehr feste und freie KulturpädagogInnen entdecken die Zielgruppe und entwickeln neue Angebotsformen. Neben Angeboten, die in (sozio-)kulturellen Einrichtungen stattfinden, entstehen auch aufsuchende Angebote für Ältere in ihrem Lebensumfeld (zum Beispiel „Kino auf Rädern“, „Museum im Koffer“, „Oper im Altenheim“). Die Bildungsformate sind sowohl rezeptiver als auch aktivierender Natur. Neben altersspezifischen Programmen gibt es auch Projekte, die den Dialog zwischen den Generationen anregen (siehe Almuth Fricke „Kulturelle Bildung im Dialog zwischen Jung und Alt“). Kulturelle Bildung mit Älteren findet heute nicht nur in Kulturinstitutionen und kulturpädagogischen Einrichtungen statt, sondern in vielen (kirchlichen) Einrichtungen der Altenarbeit und der Erwachsenenbildung sowie in Seniorenheimen (vgl. de Groote/Nebauer 2008).
Aufgrund der Heterogenität der Zielgruppe sind die Angebote mindestens genauso vielfältig wie die der kulturellen Kinder- und Jugendbildung, die sich an Kinder im Vorschulalter bis an junge Erwachsene richten. Schließlich umfasst das Alter je nach Definition 30 bis 40 oder sogar mehr Lebensjahre. Dies sind mehrere Generationen, von den sogenannten „jungen“ Alten zwischen 50 und 60 bis hin zu den Hochaltrigen. Diese Generationen sind geprägt von ganz unterschiedlichen Lebensstilen, kulturellen Sozialisationen, Bedürfnissen und Vorlieben. Daher sind auch Kulturinteressen Älterer je nach Bildungsgrad, sozialer Herkunft und Gesundheitszustand zunehmend heterogen. Die Kulturgewohnheiten und -bedürfnisse eines soeben verrenteten „Babyboomer“ sind vollkommen andere als die eines 80-jährigen Bewohners eines Pflegeheims. Das Publikum der Rolling Stones ist mit der Band gealtert und hört wahrscheinlich weder Volksmusik noch André Rieu. Bevorzugte kulturelle Inhalte werden über das Leben hinweg beibehalten, wie das „KulturBarometer50+“ anschaulich gezeigt hat (Keuchel/Wiesand 2008:10).
Die Enquete-Kommision „Kultur in Deutschland“ konstatiert, dass gerade in der Kulturellen Bildung bei Angeboten für Erwachsene und Ältere ein großer Nachholbedarf besteht, der im Zuge der Alterung der Gesellschaft gravierender wird (Deutscher Bundestag 2008:329). Die Bundesregierung bekräftigt im fünften Altenbericht, dass Kulturelle Bildung für Ältere die aktive Teilhabe an der Gesellschaft fördern kann.
„Bildungsmaßnahmen – gerade im kulturellen Bereich – sind oft eine Mischung zwischen Weiterbildung und aktiver Lebensführung und Freizeitgestaltung. Für ein aktives Altern ist diese Form der Lebensführung eine zentrale Voraussetzung“ (BMFSFJ 2005a:133).
Kulturelle Bildung, bei der der Erwerb der gern genannten „Schlüsselkompetenzen“ wie Kreativität, Kommunikations- und Reflexionsfähigkeit ganz zentral ist, stellt einen Weg dar, Herausforderungen des Alterns zu begegnen. Angesichts der demografischen Prognosen liegt es daher in der öffentlichen Verantwortung, die Kulturelle Bildung für Ältere weiter zu stärken.
Die Rolle von Kultureller Bildung für Ältere
Die Beschäftigung mit Kunst und Kultur bietet Älteren Unterstützung im „Projekt des guten Lebens“ (Fuchs 2008b:118). Für viele ältere Menschen bietet Kulturteilhabe einen Weg, sich in der nachfamiliären und -beruflichen Phase neu zu orientieren und individuelle Möglichkeiten von sinnvoller Lebensgestaltung und gesellschaftlichem Engagement zu finden. Vor allem aber die Erkenntnis: „Wenn nicht jetzt, wann dann?“ bringt Menschen dazu, in der nachberuflichen Phase (noch) ganz Neues zu wagen und zu erlernen, sich neuen Lebensentwürfen zu stellen, denn das sogenannte dritte Lebensalter fordert dazu heraus, sich neu zu orientieren und vielleicht auch noch selbst zu verwirklichen. Kulturelle Bildung öffnet eine Tür zum lebenslangen Lernen. Viele Menschen altern gesund, sind bis ins hohe Alter geistig fit und haben ein Bildungsinteresse. Ältere Menschen sind an Angeboten interessiert, die sie fordern und fördern und bei denen sie kreativ sein können. Kulturelle Bildung bedeutet, sich mit Themen zu beschäftigen, die Spaß machen, und gibt das Gefühl mitten im Leben zu stehen und etwas Schönes zu tun.
Eine Studie aus den USA belegt zudem den Zusammenhang zwischen kreativem Ausdruck und Lebensqualität im Alter. Gemeinsam haben das National Centre for Creative Aging und die Universität in Washington eine Langzeitstudie zu den Wirkungen von aktiver Kulturteilhabe auf ältere Menschen mit zwei Vergleichsgruppen (zwischen 66 und 103 Jahren) durchgeführt (Cohen 2006). Die Studie hat gezeigt, dass Ältere, die sich künstlerisch betätigen, über ein besseres Wohlbefinden verfügen, weil ihre Perspektive für die Zukunft verbessert wird. Hinzu kommt, dass Kulturteilhabe sogar Gesundheitsprävention bedeutet. Die ProbandInnen aus der Studie gingen seltener zum Arzt als Vergleichsgruppen, die sich nicht künstlerisch betätigen, und nahmen weniger Medikamente.
Verbesserungen fanden sich auch im sozialen Bereich. Die Teilnahme an kulturellen Bildungsangeboten kann Ältere in Kontakt mit Gleichgesinnten bringen. Künstlerisch Aktive fühlen sich weniger einsam und verfügen über eine bessere geistig-seelische Verfassung. So kann der Vereinsamung im Alter entgegengesteuert und der Austausch mit anderen und die Bildung sozialer Netze gefördert werden.
Notwendigkeit der Disziplin Kulturgeragogik
Die Ausgestaltung der Angebote ist noch stark durch die Kulturpädagogik geprägt, die allerdings schon vom Wortstamm her einen Schwerpunkt auf Kinder und Jugendliche legt (griechisch „Pädagogik“: das Kind anleiten). Besonderheiten einer älteren Zielgruppe werden kaum thematisiert. Die Schaffung einer neuen Disziplin – der Kulturgeragogik (griechisch „Geragogik“: den älteren Menschen anleiten) – erscheint sinnvoll. Schließlich geht ein älterer, kranker Mensch auch nicht zum Kinderarzt, sondern zum Geriater. Die Fachhochschule Münster und das Institut für Bildung und Kultur reagieren auf diesen Bedarf und bieten seit 2011 in Kooperation eine entsprechende berufsbegleitende Weiterbildung für KünstlerInnen, KulturpädagogInnen sowie Fachkräfte der Sozialen Arbeit, Altenhilfe und Pflege an.
Die Kulturgeragogik „ist die folgerichtige Antwort auf selbstverständliche Bedarfe, die ganz breit in unserer Gesellschaft vorhanden sind. Denn kulturelle Aktivitäten und Kulturelle Bildung sind für Ältere ein wichtiger, ja nahezu zentraler Schlüssel zu sozialer Teilhabe, zu Lebensqualität und Zufriedenheit, zu sinnerfüllter Zeit im Alter“ (Wickel 2011:7).
Die Kulturgeragogik kombiniert Erkenntnisse aus Kulturpädagogik, Gerontologie und Geragogik. Sie schafft kulturelle Bildungsangebote, die sich an der Biografie und Lebenswelt Älterer orientieren und deren Lernverhalten methodisch und didaktisch berücksichtigen.
Erfordernisse kulturgeragogischer Angebote
Grundsätzlich gilt es, von den Bedürfnissen der älteren Teilnehmenden auszugehen (vgl. hierzu ausführlich de Groote/Fricke 2010). Ältere Menschen haben eine lange Lebens- und Bildungsgeschichte. Mit den Älteren sollte dialogisch auf Augenhöhe ausgehandelt werden, was gelernt werden soll, und geklärt werden, welche Kompetenzen und Ressourcen sie mitbringen. Sie verfügen über jede Menge kulturelle Erfahrungen, sei es aus der Schulzeit, aus ihrer Freizeit oder aus dem Berufsleben. Sie hatten viele Gelegenheiten, ihre Vorlieben zu festigen und Abneigungen zu entwickeln. Das Prinzip der Teilnehmerorientierung und die Berücksichtigung ihrer kulturellen Biografie und Sozialisation sind bei der Arbeit mit Älteren von großer Bedeutung. Ältere möchten ihre Erfahrungen und Kompetenzen einbringen. Es sollte ihnen die Chance zur aktiven Partizipation gegeben werden.
Insgesamt verfügen Ältere heute über höhere Schulabschlüsse als frühere Kohorten, und sie nehmen im Vergleich zu älteren Kohorten häufiger an Bildungsmaßnahmen teil. Sie stellen dementsprechende Qualitätsansprüche an die Kulturelle Bildung. Negative Altersbilder verstellen jedoch oft den Blick darauf. Ältere wollen kein Unterhaltungsprogramm und Kaffeetrinken, sondern Angebote, die ihren unterschiedlichen Interessen, Bedürfnissen und kulturellen Erfahrungen Rechnung tragen. Nichtsdestotrotz haben viele Ältere auch ein Bedürfnis nach Edutainment: Sie möchten sich nicht nur weiterentwickeln und Neues lernen, sondern auch unterhalten werden und soziale Kontakte knüpfen. Dies sollten kulturgeragogische Angebote berücksichtigen.
KulturgeragogInnen benötigen ein breites Hintergrundwissen über biologische, kognitive und psychische Alterungsprozesse. Körperliche oder kognitive Einschränkungen (z.B. bei einer Demenz, vgl. hierzu Nebauer/de Groote 2012) müssen berücksichtigt werden können. Zu einem Wissen über das Altern gehört auch ein Wissen über die Sozialisation Älterer. Viele ältere Menschen haben beispielsweise keinen habituellen Umgang mit dem Computer. In einem Kurs zur Digitalfotografie müssen Anleitungen daher schrittweise erfolgen, jeder Schritt muss nachvollziehbar und erreichbar sein.
Zudem sind die Besonderheiten des Lernens im Alter zu berücksichtigen. Die Teilnehmenden können vorhandene Lernstrategien und Denkmuster, die sie über viele Jahre hinweg erworben haben, nicht einfach ablegen und möchten diese berücksichtigt wissen. Ältere lernen zwar etwas langsamer als Jüngere, dem steht aber die Genauigkeit des Lernens gegenüber. Im Laufe ihres Lebens haben sie sich einen großen Wissensbestand angeeignet. Neues Wissen können sie mit vorhandenem Wissen in Verbindung bringen. Bestehendes Wissen hilft, neues Wissen einzuordnen, zu integrieren, zu strukturieren und zu verankern (Spitzer 2003:40).
Heute schon sind rund 21 % der deutschen Bevölkerung über 65 Jahre alt, Tendenz steigend (Stat. Bundesamt 2011b:11). Der Anteil der Kinder und Jugendlichen sinkt dagegen kontinuierlich. Angesichts dieser demografischen Entwicklung ist es nur folgerichtig, dass Kulturelle Bildung diese attraktive Zielgruppe in den Blick nimmt und sich methodisch und didaktisch differenziert darauf einstellt.