Kulturarbeit in Kinder- und Jugendchören und die Migrationsgesellschaft. Ein Thema und ein Projekt
Abstract
Welche Bedeutung hat der gesellschaftspolitische Kontext „Migrationsgesellschaft“ für die Arbeit der Musikvermittlung in Kinder- und Jugendchören in Deutschland – und umgekehrt? Sind Menschen „mit Migrationshintergrund“ angemessen in deutschen Kinder- und Jugendchören repräsentiert? Der Artikel präsentiert den Ansatz und eine Ergebniszusammenfassung eines wissenschaftlichen Untersuchungs- und Diskursprojektes des Arbeitskreises Musik in der Jugend, das im Frühjahr 2016 abgeschlossen wurde.
„Schön, dass Sie sich um die Thematik kümmern.
In der täglichen schulischen Praxis sehe ich, dass über das Singen eine
ganz besondere Integration möglich ist, und habe viel Freude daran.“
(Rückmeldung einer befragten ChorleiterIn)
„Mein Maßstab ist immer die Musik bzw. die musikalische Qualität –
sozio-pädagogische Aspekte stehen an zweiter Stelle.“
(Rückmeldung einer befragten ChorleiterIn)
Der folgende Text beschäftigt sich mit der Fragestellung, inwieweit der gesellschaftspolitische Kontext „Migrationsgesellschaft“ für die Arbeit der Musikvermittlung in Kinder- und Jugendchören in Deutschland Bedeutung hat – und umgekehrt. Beides ausgehend von der Frage, ob in den deutschen Kinder- und Jugendchören Menschen „mit Migrationshintergrund“ angemessen repräsentiert sind. Hintergrund und Basis werden gebildet durch ein Forschungs- und Diskursprojekt, das vom Autor geleitet wurde (s. Ermert 2016 b).
Demografischer Wandel und Kultur
Zum demografischen Wandel in Deutschland gehören nicht nur altersdemografisch, sondern auch migrationsdemografisch bedingte Veränderungen in der Bevölkerungsstruktur. Die deutsche Gesellschaft wird älter (und weniger) und auch ethnisch-kulturell „bunter“. Das heißt auch: in einer weiteren Art diverser (vgl. auch Ermert 2012). Die Politik hat sehr lange eher zögerlich auf diesen Bevölkerungswandel reagiert. Wenn überhaupt war das Zusammenleben der Ethnien in Deutschland überdies weniger eine Angelegenheit von Bildung und Kultur als vielmehr ordnungspolitische Aufgabe von Rechts- und Sozialpolitik. Das hat begonnen, sich zu ändern (s. auch Zimmermann/Geißler 2012). Auch und gerade Kunst und Kultur – so wird argumentiert – seien in der Lage den interkulturellen Dialog zu befördern und den innergesellschaftlichen Integrationsprozess zu begünstigen. Kulturorte könnten (und sollten) zu „Lernorten interkultureller Kompetenz“ (nach Kröger 2005 und Institut für Kulturpolitik 2007) werden. Auch die Enquetekommission „Kultur in Deutschland“ nahm an, dass „mithilfe künstlerischer Prozesse [...] der soziale Integrationsprozess wirksam unterstützt und gefördert werden“ kann (Kultur in Deutschland 2008:213).
Bislang allerdings geschieht dies in der Wirklichkeit noch unzureichend. Das „1. Interkulturbarometer“ des Zentrums für Kulturforschung, Bonn, das die Ergebnisse einer repräsentativen Umfrage unter der deutschen Bevölkerung ab 14 Jahren auf dem Stand von 2011 präsentierte, stellt u.a. fest: „Das kulturelle Kapital, das Deutschland durch Migration im Bereich der Künste gewinnt, wird noch verhältnismäßig selten von der deutschstämmigen Bevölkerung aufgegriffen.“ (Keuchel 2012a:10) Umgekehrt gelte, dass Kulturangebote sowohl von klassischen Kultureinrichtungen als auch aus der Freien Kulturszene Menschen mit Migrationshintergrund als Publikum deutlich schlechter erreichen als die deutschstämmige Bevölkerung. Gelten diese Befunde für Kinder- und Jugendchöre ebenfalls?
Chöre als soziale Kulturorte
Die Musikkultur in Deutschland ist ein umfangreiches Feld kultureller und sozialer Aktivitäten. Das Deutsche Musikinformationszentrum (MIZ) kommt auf der Grundlage von Studien und Bevölkerungsumfragen unterschiedlicher Forschungsinstitute sowie eigener Erhebungen auf die Zahl von rund 14 Millionen Menschen, die in Deutschland in ihrer Freizeit instrumental musizieren oder in einem Chor singen (s. Deutsches Musikzentrum 2014 und Reimers 2014). Das sind immerhin gut 17 % der Gesamtbevölkerung von 81 Mio. Hinter dieser Zahl stehen eine enorme Menge künstlerisch-kultureller Aktivitäten, aber auch sozial-kultureller Vorgänge. Musik schafft Heimat, als Musik und als individuelles und soziales Aktionsfeld. (Die Ausführungen beziehen sich übrigens immer auf den Amateurmusikbereich. Der berufsmusikalische Betrieb unterliegt anderen Bedingungen.)
Das durchgeführte Projekt bezog sich auf den Bereich Kinder- und Jugendchor: Nach aktuellen Statistiken des MIZ existieren in Deutschland allein rund 59.000 weltlich und kirchlich organisierte Chöre mit rund 2,2 Mio. SängerInnen, davon rund 350.000 Kinder und Jugendliche (Deutsches Musikinformationszentrum 2016). Hinzu kommt eine sehr große Zahl von Vokalensembles im Rahmen von Musikschulen, Volkshochschulen, Allgemeinbildenden Schulen und als private Zusammenschlüsse sowie Rock-, Pop-, Jazz- und Folkloregruppen mit insgesamt vermutlich noch einmal wenigstens 1,5 Mio. SängerInnen, darunter einem noch deutlich höheren Anteil von Kindern und Jugendlichen als bei den organisierten Chören. Konservativ geschätzt dürften wir in Deutschland wenigstens 700.000 chorisch aktive Kinder und Jugendliche in 15.000-20.000 Chören und anderen Gruppen haben.
Im Zentrum des Chorsingens steht das gemeinsame Singen, von der eigenen Freude am Singen bis zur Weitergabe des musikalischen Genusses für andere, für Publikum. Davor steht das Proben, dazu gehören bestimmte Haltungen, nicht zuletzt Disziplin, auch Empathiefähigkeit. Singen im Chor ist immer auch eine sozialkommunikative Situation. In vielen Chören gehört das Teilen des Lebens ein Stück weit dazu – und ist ein wesentliches Motiv des Mitmachens. Eigene Freude am Singen, etwas von sich geben – und Gebraucht-Werden. Form und Bedeutung von Musik als sozialer Praxis sind bislang nur unzureichend wahrgenommen und untersucht. Darauf verweist z. B. Vogels 2012. Ludger Pries und Gunter Kreutz entwickeln hierzu begründete Vermutungen über Integrationswirkungen durch gemeinsames Musizieren (Pries 2016, Kreutz 2016).
Über die tatsächliche Wirkung von Musikunterricht und Chorsingen auf die Akkulturation von Kindern mit Zuwanderungsgeschichte wissen wir bislang wenig Gesichertes. Im deutschsprachigen Raum haben Frankenberg/Fries/Friedrich u.a. 2014 mit empirischen Methoden der Musikpsychologie an 159 Grundschulkindern mit Migrationshintergrund in einigen Großstädten in NRW und Hessen untersucht, inwieweit intensiverer Musikunterricht (instrumentales Ensemblespiel und/oder Chorsingen) eine Wirkung auf die Einstellungen der Kinder gegenüber der Musikkultur der Mehrheitsgesellschaft sowie gegenüber der Herkunftskultur (der Familie) haben. Die Ergebnisse sind differenziert. Eine signifikante (positive) Einstellungsveränderung wurde nur bei der älteren von zwei Alterskohorten festgestellt, allerdings auch bei der Gruppe von Kindern gemischten Alters, die in einem Chor mitsingen. Eine Einstellungsveränderung gegenüber der Herkunftskultur konnte nicht festgestellt werden. Insgesamt zeichnet sich noch umfangreicher weiterer Forschungsbedarf ab, um weitergehende Aussagen zu machen. Allerdings ist eben bedenkenswert, dass das gemeinsame Musizieren in einem Chor anscheinend die stärksten Auswirkungen zeitigt.
Allgemeiner hat Anna Gansbergen die „Rolle von Vereinsmitgliedschaften für die Freundschaftsbildung zwischen SchülerInnen mit und ohne Migrationshintergrund“ untersucht. Sie konnte nachweisen, dass die Mitgliedschaft in Sport- oder Musikvereinen „höhere Chancen auf Freundschaften“ bewirken, und zwar „sowohl zwischen SchülerInnen mit und ohne Migrationshintergrund als auch (zwischen) einheimischen bzw. Migrantenkindern unter sich“ (vgl. Gansbergen 2016).
Zur Soziologie der Chöre
Über die soziale Zusammensetzung der Chöre, gerade auch der Kinder- und Jugendchöre, wissen wir wenig wissenschaftlich Gesichertes. Empirische Studien sind Mangelware.
Zwei nun schon etwas ältere statistische Erhebungen des Musikinformationszentrums in 2000 und 2005 (Deutsches Musikinformationszentrum 2006) für die Bevölkerung ab 14 (!) Jahren zeigen für das Singen im Chor: Frauen sind um etwa die Hälfte stärker vertreten als Männer; mit steigendem Alter steigt auch die Beteiligung; die Bildungsabschlüsse sind überraschend gleich stark vertreten, wenn auch mit einer leichten Tendenz zu höheren Abschlüssen; Gleiches gilt für die Höhen der Haushaltsnettoeinkommen. Die Verteilung auf die Wohnortgrößen lässt keine einheitliche Tendenz erkennen.
Neuer ist die Untersuchung von Kreutz/Brünger 2012, die etliche tausend erwachsene ChorsängerInnen in Deutschland auf ihre demografischen und musik-sozialisatorischen Hintergründe hin befragt haben. Das Ergebnis lautet: Im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung sind in Erwachsenenchören bildungs- und kulturaffine und auch materiell etwas besser gestellte Schichten stärker repräsentiert.
Maria Gebhardt berichtet über eine Untersuchung in instrumentalen und vokalen „breitenkulturellen“ Musikvereinen (Gebhardt 2016, vgl. dazu ergänzend Gebhardt 2014). Es wurden Alters-, Bildungs- sowie – über Einstellungsuntersuchungen – Milieustrukturen erhoben. Erkennbar wird eine Tendenz zum (älteren und jüngeren) ‚Integrationsmilieu’, die aber nicht exklusiv zu wirken scheint. Gebhardt stellt hinsichtlich MigrantInnen allerdings die interessante Frage, ob dann, wenn sie in Musikvereinen zu finden sind, die entscheidende Annäherung an die „Weltvorstellungen und Lebensziele“, die in den Gruppen mehrheitlich zu finden sind, sich schon vor dem Eintritt eingestellt, inwieweit also ein gewisser Assimilationsprozess schon vorher stattgefunden hat. Wenn das so wäre, würde „Akkulturation im Sinne eines wechselseitigen Lernens“ (Gebhardt) nicht vor allem ihren Platz in den Musikvereinen haben, sondern schon vorher liegen. Insgesamt wirken die Musikvereine aber als vorzügliche Faktoren einer „Kultur durch alle“.
Gar nichts Gesichertes wussten wir bislang über die quantitative Repräsentanz von Menschen mit Migrationshintergrund in den Chören und ihre Herkunft, weder in Erwachsenen- noch in Kinder- und Jugendchören. Nahe lag die Vermutung, dass die klassisch organisierte Chorszene mindestens für Menschen mit Migrationshintergrund und außereuropäischen Traditionen eher höhere Zugangsschwellen bereithält als für Einheimische. Das könnte an unterschiedlichen musikalischen Traditionen liegen, an unterschiedlichen Kulturbegriffen, an unterschiedlicher bildungsbedingter Nähe zum aktiven chorischen Musizieren, wie es in Deutschland üblich ist. Auf die Bedeutung unterschiedlicher Kulturbegriffe verweist auch Keuchel: Dem in Deutschland – jedenfalls im Kulturbetrieb und in der Kulturszene – vorherrschenden Kunstkulturbegriff steht bei vielen Menschen mit Migrationshintergrund ein breiterer Kulturbegriff gegenüber, der z.B. auch alltagsweltliche Sitten und Gebräuche, Geschichte und Religion einschließt (vgl. Keuchel 2012a:9).
Zugangsschwellen könnten auch durch die gesungene Literatur entstehen, die mindestens bei anspruchsvollerer Chorarbeit z.B. nicht ohne Einbeziehung (christlich) geistlicher musikalischer Tradition auskommt, wenn sie die Breite und Qualität europäischen und deutschen kulturellen Erbes aufnehmen will. Die Vermutung liegt nahe, dass diese Literatur bei aus anderen religiös kulturellen Traditionen stammenden Menschen hin und wieder ein Zugangshindernis darstellt. Dies legen Erfahrungen aus Schulen mit hohem Anteil von Kindern und Jugendlichen mit insbesondere islamisch bestimmter Religiosität nahe.
Allerdings: Die dargelegten Vermutungen fußten noch auf punktuellen Beobachtungen und Erfahrungen bzw. Übertragungen aus anderen Kulturbereichen. Unsere Untersuchungen vermitteln dazu ein differenziertes Bild (siehe dazu neben einigen Zusammenfassungen am Ende des Beitrags [Abschnitt „Beobachtungen und Ergebnisse aus den durchgeführten Untersuchungen“] die Arbeiten von Niklas Büdenbender (Büdenbender 2016:188ff.) und Ulrike Frischen (Frischen 2016:254ff.).
Worüber sprechen wir, wenn wir über Migration sprechen?
Wir sprechen über ein Geschehen, das sich (auch) in Deutschland in jedem Jahr millionenfach ereignet. Deutschland war historisch wegen seiner zentralen Lage mitten in Europa schon immer Drehscheibe von Wanderungsbewegungen. Insbesondere als Kriegsfolge oder auch aus politischen Umständen fanden Wanderungswellen statt, für Deutschland am stärksten zuletzt durch den Nationalsozialismus und den II. Weltkrieg begründet. Aber auch wirtschaftlich bedingt kamen immer wieder Millionen von Menschen nach Deutschland oder verließen es auch. Die aktuelle Situation: Laut Statistischem Bundesamt sind zwischen 2008 und 2013 die jährlichen Ein- und Auswanderungen Deutscher und Nicht-Deutscher von etwa 1,4 Millionen auf über 2 Millionen angestiegen. Die Nettozuwanderung wuchs von minus 55.000 auf plus 430.000 Menschen (vgl. Destatis 2015a). Es ist anzunehmen, dass die Zuwanderungswelle von 2015/16 den Zuwanderungsüberschuss noch einmal vergrößert, ob dauerhaft oder nicht, bleibt abzuwarten. Wirtschafts- und sozialpolitisch braucht Deutschland auch dauerhaft Zuwanderung. Sonst schlüge die altersdemografische Entwicklungsschwäche der Deutschen noch viel stärker durch. (Vgl. zur migrationssoziologischen Lage auch Pries 2016.)
Die Flüchtlingsbewegung nach Deutschland in 2015 hin war zwar besonders stark und gekennzeichnet durch eine fast globale Dimension. Migrationsbewegungen nach und von Deutschland sind aber der Normalfall. Nicht der Normalfall war die politische Grundeinstellung über Jahrzehnte, dass Deutschland kein Einwanderungsland sei – trotz millionenfacher Arbeitsmigrantenzuwanderung (bezeichnenderweise „Gastarbeiter“ genannt) seit den 1960er Jahren. Eine realistischere Haltung hat sich erst mit der Wende ins 21. Jahrhundert durchgesetzt und sich gesetzlich in der Reform des Staatsbürgerrechts (1999/2001) und dem Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes (2005) niedergeschlagen.
Nichtsdestoweniger sind im Umgang mit Migration weiterhin zwei Grundpositionen zu beobachten: Der Modus des Risikomanagements und der Modus der Gefahrenabwehr (begrifflich nach Bommes 2009). Die Position ‚Risikomanagement‘ geht davon aus, dass die moderne, unausweichlich von globalen freiwilligen und unfreiwilligen Wanderungsbewegungen gekennzeichnete Welt zwar auch ‚Diversitymanagement’ braucht. Aber sie lässt sich darauf ein, ein gesellschaftliches und staatliches Funktionieren relativ unabhängig von der kulturellen Lebensgestaltung der Einzelnen zu organisieren. Die Position ‚Gefahrenabwehr’ hängt weiterhin dem Bild einer ‚Leitkultur’ an, die durch Zuwanderung von Fremden ständig bedroht sei, die anzunehmen aber Voraussetzung der Mitgliedschaft in diesem Gemeinwesen sein soll. In Deutschland oszilliert die Politik zwischen diesen Positionen. Derzeit greift in der Politik, unter dem Eindruck einer scheinbar nicht zu beherrschenden Fluchtmigration, wieder stärker der Modus der Gefahrenabwehr.
Worüber sprechen wir, wenn wir von ‚Migrationsgesellschaft’ sprechen?
Es ist eine problematische Redeweise. Wenn wir so reden, könnte man den Eindruck bekommen, als ob wir es mit einer Gesellschaft zu tun hätten, die hauptsächlich von Migration, genauer: von ImmigrantInnen, geprägt sei. Die Fakten: Aktuell hat ein knappes Zehntel der Bevölkerung in Deutschland eine nicht-deutsche Staatsangehörigkeit und, diese eingeschlossen, haben rund 20 Prozent einen ‚Migrationshintergrund’. Was bedeutet, dass sie selbst oder mindestens ein Elternteil zugewandert sind. Richtig ist auch, dass der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund steigt, je jünger die Alterskohorten sind. Haben unter den Menschen über 65 Jahren weniger als 10 Prozent einen Migrationshintergrund, liegt er bei den bis 10-jährigen bei 35 Prozent, also einem guten Drittel (Stand 2014, nach Destatis 2015a).
Zudem verteilen sich die Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland geografisch ungleich. In Westdeutschland und in Großstädten ist ihr Anteil höher, in Ostdeutschland und in ländlichen Räumen viel niedriger als im Durchschnitt. Aber abgesehen von bestimmten Vierteln industrieller Ballungsgebiete der alten Bundesländer oder in Berlin kann nicht die Rede davon sein, dass unsere Gesellschaft wirtschaftlich, sozial und kulturell insgesamt vom Sachverhalt Migration oder MigrantInnen geprägt sei. Allerdings werden diese regionalen Befunde von rechtskonservativen, nationalistischen politischen Positionen im Sinne einer als nötig angenommenen Gefahrenabwehr gerne instrumentalisiert.
Die Rede von der Migrationsgesellschaft kann auch bedeuten, dass wir Teile unserer Gesellschaft so sehen, als ob ihre entscheidende Eigenschaft die Tatsache wäre, dass sie oder ihre Eltern nicht aus Deutschland stammen. Diese Sicht macht sie zu ‚Anderen’ nur aufgrund der Tatsache, dass sie einen ‚Migrationshintergrund’ haben. Dorothee Barth expliziert (Barth 2016) die Gefahr des ‚Otherings’, der ‚Verbesonderung’. Dass die MigrantInnen auch Eltern, FreundInnen, ArbeitskollegInnen, UnternehmerInnen, GewerkschafterInnen, ZeitungsleserInnen sind, dass sie klug oder dumm, gebildet oder weniger gebildet, ärmer oder reicher sind und musikalisch mehr oder weniger begabt, tritt demgegenüber zurück. Diese Fokussierung auf die eigene ‚Volkszugehörigkeit’, der Ethnozentrismus, ist weit verbreitet, meist ohne böse Absicht und fast vorbewusst. Sie führt aber in die Irre. Es ist falsch, das formale Kriterium ‚Migrationshintergrund’ mit festen inhaltlichen Zuschreibungen zu verknüpfen. Das hat z.B. die Migranten-Milieu-Studie des SINUS-Instituts von 2007/2008 schon gezeigt:
„Der zentrale Befund ist, dass es in der Population der Menschen mit Migrationshintergrund (ebenso wie in der autochthonen bzw. einheimischen deutschen Bevölkerung) eine bemerkenswerte Vielfalt von Lebensauffassungen und Lebensweisen gibt. Es wird der empirischen Wirklichkeit nicht gerecht, diese Menschen weiterhin als ‚besondere’ Gruppe in unserer Gesellschaft zu betrachten. Vielmehr zeigen sie sich als integrierender Teil dieser multikulturellen, von Diversität geprägten Gesellschaft.“ (Wippermann/Flaig 2009:5).
Das in diesem Zitat aufscheinende Gesellschaftsbild fußt auf dem Befund, dass die Bevölkerung in Deutschland auch ganz unabhängig von den Gruppen mit Migrationshintergrund in sich schon eine enorme Spannbreite unterschiedlicher Milieus aufweist. Sie stehen für nebeneinander existierende unterschiedliche soziale Kulturen und Lebensstile, unterschiedliche normative Orientierungen und Verhaltensweisen und im Resultat für eine sozialkulturell diverse Situation.
Das muss uns als Laien nicht gefallen, widerstrebt auch der politischen Denkweise, die gerade in Deutschland lieber mit einem Bild der möglichst homogenen Leitkultur operiert, an der sich im Prinzip jeder zu orientieren habe, der dazugehören will. Die beschriebene Diversität ist aber nach soziologischen Erkenntnissen eine dauerhafte und gar nicht so neue Tatsache. Die Tendenz dazu wurde für die Bundesrepublik schon seit den 1970er und -80er Jahren konstatiert, für die Jugendkulturen z.B. von Thomas Ziehe (u.a. Ziehe 1983), unter dem Stichwort Wertewandel u.a. von Helmut Klages (Klages/Kmieciak 1979). In diesem Szenario von Multikulturalität ist das Merkmal ‚Migrationshintergrund’ nur noch eins von vielen. Gleiche Milieus stehen sich näher als gleiche Migrationshintergründe. Anders gesagt:
„Die Gesellschaft eines Einwanderungslandes, wie dies Deutschland mittlerweile ist, ist in ihrer Alltäglichkeit so kulturell vielfältig geprägt, dass jegliche Bildungsbemühung stets auf kulturell vielfältig geprägte Menschen gleichgültig welcher Herkunft trifft.“ (Kolland 2012:832)
Aus der Sicht der Betroffenen wird auf die Notwendigkeit zu differenzieren hingewiesen. „Menschen mit Migrationshintergrund stellen keine homogene Bevölkerungsgruppe dar, sondern sie sind so heterogen, wie es Menschen ohne Migrationshintergrund sind“, schreibt z.B. Athena Leotsakou, Bildungsreferentin bei der Bundesarbeitsgemeinschaft der Immigrantenverbände in der Bundesrepublik Deutschland (BAGIV) e.V. „Daher sind auch bei ihnen ebenso Zugänge und Barrieren zu kultureller Bildung vorhanden. Es gibt aber auch einige Besonderheiten […].“ (Leotsakou 2013) Sie nennt Aufenthaltsstatusfragen, Aufenthaltsdauer, Sprachkenntnisse, die Einfluss auf Partizipationsmöglichkeiten haben, vor allem aber die eigene oder familiäre Migrationsgeschichte:
„Es sind Themen wie Flucht, Heimweh, Verlassen, Initiative, Einsamkeit, Ankommen, Ausgrenzung, Fremdheit, Mehrsprachigkeit, kulturelle Identität, Diskriminierung, klimatische Anpassung, physische Andersartigkeit im Zusammenhang zu den eigenen Wanderungsgeschichten und der Immigration nach Deutschland, die hier von Bedeutung sind. Eine adäquate Repräsentanz bedeutet auch die allgemeine Anerkennung von Deutschland als Einwanderungsland und unterstreicht die Unumkehrbarkeit dieses Prozesses.“ (Leotsakou 2013)
Warum der Begriff ‚Transkulturalität’?
Arbeitet man in der Kulturellen Bildung, so auch in musikalischer Bildung und Kulturarbeit, stellt sich immer die Frage, auf welche Voraussetzungen die Vermittlung von Wissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten aufbauen kann bzw. welche sie berücksichtigen muss. Vor diesem Hintergrund entwickelte sich, beginnend in der Bundesrepublik der 1980er Jahre und in Abgrenzung zu damals gültigen Konzepten einer assimilationsbetonten ‚Ausländerpädagogik’, die ‚Interkulturelle Musikerziehung’ (IME) (oder auch ‚Interkulturelle Musikpädagogik’). Am Anfang stand Irmgard Merkt (1983). Die IME öffnete u.a. den Musikunterricht in Deutschland der Musik der Herkunftsländer von SchülerInnen mit Migrationshintergrund, um ihnen in ihrem ‚Anderssein’ ihren Respekt zu erweisen, aber ihnen auch über so vermittelte Teilhabe quasi eine Brücke in die deutsche Kultur zu bauen.
Die IME entwickelte sich im Laufe der Jahrzehnte weiter, verbunden mit Namen wie Irmgard Merkt, Wolfgang Martin Stroh, Volker Schütz, Jens Knigge, Dorothee Barth, Susanne Binas-Preisendörfer, Melanie Unseld. Zu Begriff und Geschichte der IME verweise ich auf den entsprechenden Wikipedia-Artikel sowie die von Wolfgang Martin Stroh aufgebaute einschlägige Webseite, auch mit vielen Basistexten zur IME (Stroh o. J.). Unter dem Stichwort Interkulturelle Musikpädagogik wird sie auch diskutiert in Barth 2016. Auch die IME hat inzwischen erkannt, dass das Wissen um gesellschaftlich bedingte Ungleichheiten und die Achtung unterschiedlicher Identitätsentwürfe in ein theoretisches Dilemma führt: Gerade indem das Andere erkannt und gewürdigt wird, werden diejenigen, denen dieses Merkmal zugeschrieben wird, zu ‚Anderen’ gemacht und also tendenziell ausgegrenzt (vgl. dazu Gaupp 2012, Barth 2016).
Das Konzept der Transkulturalität nach Wolfgang Welsch schlägt dagegen ein „Modell der Durchdringungen und Verflechtungen“ (Welsch 2010, auch weitere Zitate von dort) der Kulturen vor, mit dem Argument, damit den lebensweltlichen Bedingungen der Moderne besser gerecht zu werden. Jeder Mensch, nicht nur der Migrant, lebe spätestens im Zeitalter globaler Kommunikation in vielfältigen kulturellen Bezügen und sei auch in seiner Identität nicht mehr national oder ethnisch begrenzt vorzustellen:
„Unsere Kulturen haben de facto längst nicht mehr die Form der Homogenität und Separiertheit, sondern sie durchdringen einander, sie sind weithin durch Mischungen gekennzeichnet.“
Welsch spricht von „Hybridisierungen“: „Für jedes Land sind die kulturellen Gehalte anderer Länder tendenziell zu Binnengehalten geworden.“ Diese Vorstellung entspricht noch nicht dem Denken der Mehrheit in Deutschland. Sie gehört auch noch nicht überall zur praktischen Erfahrungswelt. Aber sie wird der zunehmenden lokalen, sozialen und kulturellen Binnendifferenzierung ebenso wie der globalen Verflechtung von Märkten, Politik und Kulturen besser gerecht als frühere Konzepte der grundsätzlichen Einheit von Kulturen in der Nachfolge Johann Gottfried Herders.
Was bedeutet das für musikalische Bildung und Kulturarbeit?
Musikalische Bildung und Kulturarbeit tritt, wenn sie sich in einer demokratischen Tradition begreift, mit der Absicht an, auch solche Bevölkerungsgruppen einzubeziehen, die bislang nicht in ausreichendem Maße erreicht werden. Zu diesen mögen auch Gruppen von ‚Menschen mit Migrationshintergrund’ gehören. Unter dem transkulturellen Ansatz meint Integration jetzt nicht mehr die immer noch vorherrschende Vorstellung von Integration als Einbahnstraße und im Kern Anpassung an die ‚Leitkultur’ der Mehrheitsgesellschaft. Sie meint auch nicht mehr ein notwendiges Hinzufügen vorgeblich fassbarer ‚anderer’ Kulturen der Zugewanderten zum eigenen kulturellen Kanon. Die Exotisierungsfalle wird am besten dadurch vermieden, dass jede ‚Sonderbehandlung’ unterbleibt. Integration funktioniert am besten, indem von Themen oder Projekten her gedacht wird, in die alle Beteiligten ihre eigenen Fähigkeiten, Vorlieben oder auch Betroffenheiten einbringen.
Das Thema heißt dann nicht: Lieder aus Syrien (oder Frankreich oder der Türkei), weil es in dem Chor Menschen aus diesen Ländern gibt. Das Thema heißt vielmehr – z.B.: Wie feiert man in Liedern die Liebe (in Deutschland, Frankreich, der Türkei, Syrien)? Oder: Wie begrüßen sich Menschen musikalisch? Oder: Wie klagen Menschen musikalisch? Oder: Wie klingt Heimweh? Oder: Wie wird Heimat in der (Chor-)Musik thematisiert? Das erscheint als zunächst nur kleine Veränderung, bedeutet aber eine im Grundsatz andere Haltung.
Integration kann, zumal in einer demokratischen Gesellschaft, nicht die verordnete Anpassung an eine vorgegebene Norm über die gesetzlichen Grundlagen hinaus sein. Die sinnvolle Alternative ist ein „teilhabeorientiertes Integrationskonzept“ (vgl. dazu Pries 2015:29ff.). Das zeigen auch Analysen von Integrationsvorgängen in klassischen Einwandererländern wie USA und Kanada (vgl. ebd.). Integration ist kein linearer Vorgang, sondern im Idealfall ein wechselseitiger Prozess zwischen ZuwanderInnen (zumal in ihren verschiedenen Generationen) und Aufnahmegesellschaft. Für die Darstellung verschiedener Integrationsmodelle wird auf Pries 2016 verwiesen. Integration ist dann erreicht, wenn – jedenfalls im Grundsatz – alle Gesellschaftsmitglieder unabhängig von Herkommen in den wichtigen Bereichen von Ökonomie, Politik, Sozialem und Kultur die gleichen Zugangs- und Teilhabechancen haben. Integration ist als Politik und praktisches Tun dann eine „Ermöglichungsstrategie“. Dann ist
„Integration […] vor allem ein wechselseitiger Verständigungsprozess und eine Einladung zur Teilnahme an allen für wichtig erachteten gesellschaftlichen Aktivitäten und Bereichen.“ (Pries 2015:26)
Schaut man sich den ‚Nationalen Aktionsplan Integration’ an, der seit 2007 jedenfalls in der Theorie regierungsamtliche Politik in Deutschland ist, wird man (mindestens in seinem Kapitel Kultur) weitgehende Übereinstimmungen zu diesem Ansatz finden, z.B. hier:
„Damit sich kulturelle Ausdrucksformen in ihrer Vielfalt entfalten, müssen sie sich frei, in einer für alle Seiten bereichernden Weise‚ entwickeln und austauschen können. Gleichwohl ist Integration kein harmonischer Prozess ohne Kontroversen und Probleme. Zu interkultureller Kompetenz gehört deshalb auch die Fähigkeit, mit Widersprüchen umzugehen.“ (Nationaler Aktionsplan Integration 2012:359)
Diese migrationssoziologische Einsicht auch in der Musik praktisch werden zu lassen, ist eine dauerhafte, lohnende und spannende Zukunftsaufgabe.
Für diejenigen, die musikkulturelle Vermittlungsprozesse gestalten, wie z.B. LehrerInnen, Ensembleleitungen, Chorleitungen, gehört auch kulturtheoretisches und -historisches Wissen dazu, das eine ‚sinnvolle’ Einordung, ein In-Beziehung-Setzen des Eigenen der verschiedenen Akteure erlaubt, z.B. in der Literatur, die gespielt und gesungen und gemocht wird, aber auch in Übungs- und Umgangsformen in Instrumentalensembles und Chören. Zuallererst aber brauchen wir Offenheit und Respekt unter allen Beteiligten, eine selbstbewusst offene Haltung, die die Furcht vor dem ‚Anderen’ verliert und den Wert des Eigenen, auch des eigenen Eigenen, nicht gering schätzt.
Darf man das?
Erst ziemlich spät spreche ich die Frage an, die uns im Laufe der Arbeit in dem Projekt immer wieder einmal und manchmal recht radikal begegnete: Wenn es dieses Dilemma gibt, dass man durch eigentlich gute Absichten problematische Wirkungen verursachen kann, dass man z.B. durch eigentlich respektgeleitete Aufmerksamkeit für Menschen mit Zuwanderungsgeschichte, vulgo ‚mit Migrationshintergrund’, diese sozialpsychologisch als ‚Andere’ quasi ausgrenzen kann, darf man dann eine solche Untersuchung durchführen, wie wir sie durchgeführt haben?
Mit dieser Frage sieht sich die Migrationssoziologie schon seit einiger Zeit konfrontiert. Allerdings, wie soll man feststellen, ob, wie in unserem Falle, Menschen mit Zuwanderungsgeschichte gleiche Partizipationschancen in Chören haben, wenn man die Sachverhalte nicht untersucht, weil man schon bei der Kategorienbildung zurückschreckt? Vermeintliche transkulturelle politische Korrektheit schlägt dann nicht nur in Zensur um, sondern verhindert womöglich genau das, was sie eigentlich fordert, nämlich Nicht-Diskriminierung von Menschen mit Zuwanderungsgeschichte. Der Verzicht auf (wissenschaftliche) Aufklärung von (wenn sie es denn sind) problematischen Sachverhalten verhindert sachlich begründete Gegenmaßnahmen. Andere Wissenschaften sind für ihre Gegenstände und Themen analogen Fragen ausgesetzt. Denken wir nur an die Genetik. Dazu gibt es z.B. unter dem Stichwort ‚Technikfolgenabschätzung‘ eine lange Diskussionstradition. Diese soll überhaupt nicht im Grundsatz in Frage gestellt werden. Eine ethische Reflexion über die möglichen Folgen des eigenen Tuns sollte selbstverständlicher Teil der Wissenschaften sein.
Das Problem liegt auch nicht vornehmlich in der Kategorienbildung, sondern daran, wie mit den gebrauchten Kategorien umgegangen wird, wie also die Mehrheit ihren in der jeweiligen Sache Minderheiten begegnet. Dieses Problem, wenn es eins gibt, wird man nicht durch Wegsehen lösen, nichts anderes wäre Kategorisierungsvermeidung in diesem Falle, sondern durch ein realistisches und aufgeklärtes Verstehen und Verständnis der vielen verschiedenen Besonderheiten, die in unserer Gesellschaft immer zu finden sind und unter denen eine ‚Zuwanderungsgeschichte’ oder ‚Migrationshintergrund’ heißt. Vgl. zu dieser Fragestellung ausführlicher Pries 2015:21ff. Er zeigt am Beispiel Frankreichs, der USA, der Niederlande oder auch Großbritanniens, wie unterschiedlich je nach gesellschaftlichem Selbstverständnis mit Zuwanderern und ihrer Wahrnehmung umgegangen wird.
Unsere Schlussfolgerung heißt: Man darf nicht nur untersuchen, wie die Teilhabe von Menschen mit Migrationshintergrund in Kinder- und Jugendchören in Deutschland sich quantitativ und qualitativ darstellt, es ist vielmehr ethisch geboten.
Macht die Kategorie ‚Migrationshintergrund’ inhaltlich Sinn?
Menschen haben (in Deutschland – in anderen Ländern wird der Sachverhalt anders gefasst) ‚Migrationshintergrund’, insoweit sie die Merkmale erfüllen, die nach den Regeln des Mikrozensus gelten: Sie oder mindestens ein Elternteil müssen nach 1949 aus einem Land außerhalb Deutschlands zugewandert sein, dessen Staatsangehörigkeit sie hatten oder haben. Die definitorische Abgrenzung und ihren Schwierigkeiten werden in Destatis 2015b:4ff. ausführlich diskutiert. In unserer Umfrage wurden 80 Länder aus nahezu allen Weltgegenden als ‚Migrationshintergründe’ von Mitgliedern der erfassten Kinder- und Jugendchöre genannt (vgl. den Beitrag Büdenbender 2016:201f.).
Damit wird ‚Migrationshintergrund’ zu einem umfassenden formalen Container-Begriff ohne darüber hinaus reichende Spezifizierung hinsichtlich weitergehender inhaltlicher Merkmale wie geografische Herkunft, Alter, Geschlecht, migrationsgenerationale Zugehörigkeit, Merkmale der Zuwanderungsgeschichte, ethnische Zugehörigkeit, geschweige denn religiöse Orientierung, soziale und kulturelle Traditionen. Insofern macht er nur eingeschränkt Sinn. In dem Projekt wurde trotzdem mit diesem Begriff gearbeitet, weil er der politisch und juristisch offiziell gebräuchliche ist und weil sonst – mangels statistischer Vergleichbarkeit – die Grundfrage nicht zu beantworten gewesen wäre, die dem gesamten Untersuchungsprojekt zugrunde lag. Auch hätten alle anderen Abgrenzungen wieder ihre eigenen Probleme gehabt, nicht zuletzt in der Datenlage.
Beobachtungen und Ergebnisse aus den durchgeführten Untersuchungen
1. Anlage der Untersuchung
Im Folgenden werden nur einige zentrale Ergebnisse der Untersuchungen und Diskurse im Rahmen des Projektes dargestellt. Neben den üblichen Recherchen zum Thema in der wissenschaftlichen Literatur waren drei Elemente operative Bestandteile des Projektes:
- Elf leitfadengestützte Interviews mit LeiterInnen von Kinder- und Jugendchören sowie weiteren ExpertInnen des Themas,
- Eine bundesweit angelegte standardisierte schriftliche und außerordentlich umfangreiche Umfrage unter LeiterInnen von Kinder- und Jugendchören, die von 173 Chorleitungen beantwortet wurde, sowie
- eine Tagung (in Kooperation mit der Bundesakademie für Kulturelle Bildung Wolfenbüttel), in der erste Ergebnisse der Umfrage der Fachöffentlichkeit vorgestellt und diskutiert sowie das Thema insgesamt in einer Reihe von Vorträgen und Arbeitsdiskussionen behandelt wurden.
Für Weiteres und für Einzelheiten verweise ich auf
- den Bericht von Niklas Büdenbender zu den Ergebnissen der Chorleitungen-Befragung (Büdenbender 2016),
- die Zusammenstellung der ExpertInnen-Aussagen aus den Interviews, die Niklas Büdenbender geführt hat, von Ulrike Frischen (Frischen/Büdenbender 2016) sowie
- auf die insgesamt 17 weiteren Beiträge aus der durchgeführten Tagung sowie der weiteren eingeladenen AutorInnen.
2. Sind Menschen mit Migrationshintergrund in den Kinder- und Jugendchören unterrepräsentiert?
Dass das so sei, war die Ausgangsvermutung, die den Anlass für das Untersuchungsprojekt bot. Wie sich zeigte, waren in 70 % der über ihre Leitungen erfassten Chöre Mitglieder mit Migrationshintergrund (Migrationshintergrund) zu verzeichnen, in 30 % nicht. Wir haben uns zur begrifflichen Unterscheidung zwischen diesen Chören dazu entschieden, von Chören mit und ohne „geografisch herkunftsbedingte Vielfalt“ (GHV) zu sprechen, um Kurzschlüsse auf kulturelle Diversität und damit Wertungen zu vermeiden, die sich gerne mit dem Begriff Migrationshintergrund verbinden.
Im Durchschnitt 79 %, also die überwiegende Mehrheit der durch die Umfrage beteiligten Chorleitungen waren davon überzeugt, dass Menschen mit Migrationshintergrund in Kinder- und Jugendchören unterrepräsentiert seien. Dabei stimmten Chorleitung von Chören ohne ´geografisch herkunftsbedingte Vielfalt´(GHV) sogar noch signifikant stärker zu, nämlich zu 88 %. Aber auch die Chorleitungen mit GHV in ihren Chören waren davon zu 75 % überzeugt (vgl. Büdenbender 2016:Kap. 5.1). Allerdings sprechen unsere tatsächlichen Befunde eine etwas andere Sprache, wie Abb. 1 zeigt).
In den Stadtstaaten liegen die Anteile der GHV-Mitglieder in den erfassten Chören viel höher als der der Menschen mit Migrationshintergrund der gleichen Altersgruppe in der Gesamtbevölkerung. Sogar in den meisten Flächenländern sind Menschen mit Zuwanderungsgeschichte in den erfassten Chören stärker vertreten als in der Gesamtbevölkerung. Nur in Hessen und Rheinland-Pfalz sind GHV-Chormitglieder deutlich unterrepräsentiert.
Wir können aufgrund unserer Erhebungen noch keine endgültige Antwort auf die Ausgangsfrage geben. Dafür ist die Datenlage noch zu unsicher. Zur Datenbasis folgende Erläuterung:
- Die Zahlen der Gesamtbevölkerung basieren auf den Ergebnissen des Mikrozensus von 2011.
- Alle Chorleitungen waren nach der Anzahl ihrer Chormitglieder befragt worden sowie für Chöre mit GHV nach der Anzahl ihrer Chormitglieder mit Migrationshintergrund. Daraus konnte der prozentuale Anteil von Mitgliedern mit Migrationshintergrund auch für die Chöre insgesamt festgestellt werden. Überdies war erhoben worden, in welchem Bundesland die Chorleitungen mit Schwerpunkt arbeiten. Die Kombination dieser Daten wird in Abb. 1 dargestellt und in Bezug gesetzt mit dem Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund bis 19 Jahren in den betreffenden Bundesländern. Um in der Datenlage bei den Chören Zufälligkeiten nicht zu sehr ausgesetzt zu sein, wurden nur Bundesländer mit einer Mindestanzahl von drei teilnehmenden Chorleitungen aufgeführt. Daher fehlen die Bundesländer Brandenburg, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen (jeweils zwei Teilnahmen), Bremen und Saarland (jeweils eine Teilnahme), sowie Mecklenburg-Vorpommern (ohne Teilnahme). Das erklärt, warum in der Abbildung ausschließlich „alte“ Bundesländer aufgeführt sind. Überdies haben sechzehn der befragten Chorleitungen keine Angaben zum Bundesland gemacht, in dem der Schwerpunkt ihrer Chorarbeit liegt. Diese Chöre mussten also unberücksichtigt bleiben.
Die Datenbasis ist speziell für diese Frage also noch schmal. Aber die Ergebnisse zeigen nach unserer Einschätzung, dass es wohl doch nicht richtig ist, umstandslos von einem generell zu geringen Vorkommen von Menschen mit Migrationshintergrund in unseren Chören zu sprechen.
Die InterviewpartnerInnen neigten, von ihrer Erfahrung ausgehend, zu einer differenzierten Aussage. Typisch: „Also es kommt darauf an, was es für Chöre sind.“ (IP 7) (s. Frischen/ Büdenbender 2016:Abschn. 1.2) In kirchlichen Chören kämen weniger MigrantInnen vor als in Schulchören. Oder:
„Das kommt auf den Ort an, an dem das stattfindet und was man macht. Also, wenn man an einem ländlichen Ort ist, der sowieso kaum irgendwelche Migranten beherbergt, dann findet das in den Chören weniger statt. […] Wenn ich ein Schulprojekt mache, in einer Schule, wo wir mehr als 30 Prozent Migrantenkinder haben, dann sind sie natürlich alle integriert. Dann habe ich vielleicht auch mal 40 Prozent Migrantenkinder in einem Chor […].“ (IP 5) (s. Frischen/Büdenbender 2016:Abschn. 1.2)
Die Aussagen werden bestätigt durch die Verteilung der verschiedenen Chorgruppen auf unterschiedlich dicht besiedelte Räume und in unterschiedlichen Trägerschaften nach den Befunden der Chorleitungsumfrage (vgl. Büdenbender 2016:Kap. 3.4 und 3.5):
- Kinder- und Jugendchöre mit GHV finden sich häufiger in Großstädten, Chöre ohne GHV häufiger im ländlichen Raum und in Kleinstädten (vgl. Abb. 2).
Abb. 2 : Siedlungsräumliche Verteilung der Kinder- und Jugendchöre Definition der Kategorien: Ländlicher Raum = unter 10.000 EinwohnerInnen (EW); Kleinstadt = 10.000 bis 20.000 EW; Mittelstadt = 20.000 bis 100.000 EW; Großstadt = über 100.000 EW - Chöre mit GHV finden sich häufiger in weltlicher Trägerschaft, vor allem an Schulen, Chöre ohne GHV relativ häufiger in kirchlicher Trägerschaft.
3. Was sind für Menschen mit Migrationshintergrund mögliche Zugangshindernisse zu Kinder- und Jugendchören?
Die Frage kann nur beantwortet werden, wenn man die Implikationen klärt. Sie könnten naiv so verstanden werden, als ob es spezifische Eigenschaften gebe, die allen Menschen mit Migrationshintergrund zu eigen sind. Das aber ist, abgesehen von formalen Sachverhalten (s.o. unter Abschnitt „Macht die Kategorie ‚Migrationshintergrund’ inhaltlich Sinn?“), eben nicht der Fall. Insofern kann man, wenn man von möglichen Zugangshindernissen für Menschen mit Migrationshintergrund spricht, nie eigentlich für alle formal dazu Gehörigen sprechen, sondern allenfalls über Untergruppen mit bestimmten Merkmalen, für die Zugangshindernisse gelten.
4. Religionszugehörigkeit der Chormitglieder versus weltanschauliche Orientierung der Träger
Das ist ein besonders sensibler Diskussionspunkt. Daher soll er hier ein wenig ausführlicher behandelt werden: Kinder- und Jugendchöre finden sich in großem Umfang in kirchlicher Trägerschaft. In unserer Umfrage galt das für 86 von 173 erfassten Chören, also rund 50 %. Sie wurden gefolgt von 66 Schulchören, die damit 38 Prozent der Chöre stellten. Die weiteren Chöre verteilten sich auf selbstständige Chorvereine, kommunale Trägerschaften und sonstige Trägerkonstruktionen in jeweils kleineren Anteilen. Unter den Chören ohne GHV war der Anteil der christlichen Kirchen als Träger mit 69 Prozent noch einmal deutlich höher, der Anteil der Schulchöre mit 19 % deutlich niedriger. Bei den Chören mit GHV lag dagegen der Anteil der Schulchöre (mit 46 %) über dem der kirchlichen Chöre (42 %). (Vgl. Büdenbender 2016:Kap. 3.5 und 3.6.)
Wirkt die kirchliche Trägerschaft, die im Allgemeinen mit einer entsprechenden Gestaltung des Repertoires, Auftritten in Kirchen und in Gottesdiensten verbunden ist, also zugangserschwerend oder gar ausschließend auf Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund im Allgemeinen und für Kinder nichtchristlicher Religionszugehörigkeit oder auch religionsloser Orientierung im Besonderen?
Tatsächlich finden sich in kirchlich getragenen Chören neben christlichen relativ weniger Kinder und Jugendliche aus den anderen beiden großen monotheistischen Religionen. Es scheint aber, dass der kirchliche Filter nicht im Sinne einer Exklusivität zu verstehen ist, z.B. gibt es hier fallweise überraschend hohe Anteile buddhistischer und hinduistischer Chormitglieder. Kirchliche Chöre schließen Mitglieder anderer religiöser Orientierung nicht aus. Das sagten übereinstimmend auch alle einschlägigen InterviewpartnerInnen. Anzunehmen ist, dass die Wahl von der Seite der MigrantInnen erfolgt. Je nach religiöser Bindung und deren Stärke suchen diese (bzw. ihre Eltern) sich Chöre mit passendem Programm aus (wie das auch die Herkunftsdeutschen selbstverständlich tun). Folgerichtig finden sich in Schulchören, aber auch in anderen Vereinschören mehr Kinder und Jugendliche nichtchristlicher religiöser Bekenntnisse oder auch ausdrücklich nichtreligiöser Orientierung. (Zum Themenkomplex „Stimme – Gesang – Religion“ sei hier noch auf Grüter 2016 verwiesen.)
Was hilft? Theoretisch vielleicht, was eine Chorleitung in einer Freitextantwort zum Schluss der Befragung formulierte:
„[…] glaube ich persönlich, dass viel mehr Kinder in Chören mitwirken würden, wenn es mehr außerkirchliche Chöre gäbe. In vielen Familien mit Migrationshintergrund singen die Väter, weil es dort zu der Kultur gehört. Hierin sehe ich eine große Chance, auch die Jungs für das Singen zu begeistern. Die Kinder tragen unsere Proben in die Familien, und manchmal wird dann gemeinsam gesungen. In deutschen Familien dagegen singen die Väter kaum.“
Praktisch werden dieser Überlegung die Grenzen gesetzt sein, die nun einmal der Aufwand mit sich bringt, einen Kinder- oder Jugendchor aufzubauen und organisatorisch, auch vom finanziellen Aufwand her, dauerhaft zu tragen.
Besteht zwischen Religionsorientierung und Migrationshintergrund ein Zusammenhang? Nur in Chören mit GHV war religiöse Vielfalt festzustellen. Für Chöre ohne GHV wurden keine Mitglieder gemeldet, die einer der nichtchristlichen großen Weltreligionen angehörten. Nur für rund 7 % wurde „religionslos“ und für 1 % „Sonstige Religion“ angegeben.
5. Kulturell motivierte Vorbehalte bei MigrantInnen
Wir haben bei den Chorleitungen mit GHV-Erfahrung nachgefragt, ob sie „bei Probenarbeit oder Auftritten des Chores schon einmal Vorbehalte von Kindern und Jugendlichen oder deren Eltern wahrgenommen haben, wo kultureller oder religiöser Hintergrund augenscheinlich eine Rolle gespielt hat“ (vgl. Büdenbender 2016:Kap. 5.6). Nur ein knappes Drittel der Chorleitungen (= 31 %) machten dazu Angaben. Überdies geht aus etlichen Zusatzerklärungen hervor, dass manche der Probleme eben keine spezifisch migrantisch-kulturellen oder -religiösen sind, sondern auch bei Herkunftsdeutschen vorkommen. Wenn es ‚Vorbehalte’ seitens der Menschen mit Migrationshintergrund gab, bezogen sie sich am häufigsten auf bestimmte Auftrittsorte (wie Kirchen) und auf ‚bestimmte kulturell/religiös geprägte Chorliteratur’. Generell wurden die Eltern häufiger als ‚Vorbehaltsquelle’ genannt als die Kinder. Festzuhalten ist: Bei den ‚Vorbehalten’ handelt es sich offenbar nicht um ein Massenphänomen. Freilich wäre auch ein Vorkommen bei einem Viertel der Befragten nicht Nichts, sondern zeigte, dass transkulturelle Kompetenz, Sensibilität und praktische Phantasie gefordert sind, um Komplikationen vorherzusehen und zu vermeiden.
6. Mangel an Sprachfähigkeiten
Mangel an deutschen Sprachkenntnissen wird bei Kindern mit Migrationshintergrund – nicht unerwartet – häufiger genannt als bei der Vergleichsgruppe. Dem entsprechend wird auch das Verstehen in der Chorarbeitssituation bei Kindern/Jugendlichen mit Migrationshintergrund – auf einem allerdings immer noch nicht schlechten Niveau – signifikant etwas schlechter beurteilt als bei herkunftsdeutschen. (Vgl. Büdenbender 2016:Kap. 5.4)
7. Niedrigerer Bildungsstand und geringerer Wohlstand
Etwas niedrigerer Bildungsstand und geringerer Wohlstand der Kinder/Jugendlichen mit Migrationshintergrund bzw. ihrer Familien gegenüber der herkunftsdeutschen Vergleichsgruppe (vgl. Büdenbender 2016:Kap. 3.12) lassen eine Zugangsschwelle vermuten. Es sind keine großen Unterschiede in der Befragung festzustellen. Aber wir haben eben auch nur Informationen über diejenigen, die schon in Chören sind. Es wäre, wie so oft im Kulturbereich, spannend, etwas über die Gründe für Nichtteilnahmen zu erfahren.
8. Defizite im Sozialverhalten
„Defizite im Sozialverhalten“ werden von den Chorleitungen bei den Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund etwas, allerdings nur wenig häufiger festgestellt als bei herkunftsdeutschen – und korrelierend mit niedrigerem Bildungs- und Wohlstandsniveau. Dieser Faktor scheint eher wirksam als das Merkmal Migrationshintergrund (vgl. Büdenbender 2016: Kap. 5.5).
9. Schwächerer musikalischer Ausbildungsstand von Chorleitungen
Schwächerer musikalischer Ausbildungsstand bei den Chorleitungen kann insofern als Hindernis der Aufnahme von Mitgliedern mit Migrationshintergrund vermutet werden, als der Ausbildungsstand bei Chorleitungen mit Chören ohne GHV etwas niedriger ist als bei ihren KollegInnen mit Chören mit GHV. (Vgl. Büdenbender 2016:Kap. 2.4.)
10. Was sind keine systematischen Zugangshindernisse für die Teilhabe von Kindern/Jugendlichen mit Zuwanderungsgeschichte?
Manchmal ist es – theoretisch wie praktisch – ebenso interessant, wenn sich bestimmte Vermutungen nicht bestätigen.
- Eine tiefgehende Kenntnis der Chorleitungen von „nicht-westlicher“ Chorliteratur ist offenbar keine Voraussetzung für eine engagierte Arbeit auch in Chören mit GHV. Deren Chorleitungen vermelden jedenfalls kaum bessere Kompetenzen auf diesem Feld als die Chorleitungen von Chören ohne GHV (vgl. Büdenbender 2016:Kap. 2.5). Ganz generell besteht aber in beiden Chorleitungsgruppen der Ehrgeiz, auch internationale Literatur zu singen.
- Relativ wenig werden auch im Repertoire der Chöre mit GHV Stücke aus den Herkunftsländern ihrer migrantischen Mitglieder ausdrücklich berücksichtigt. Im Durchschnitt zwei Drittel der Chorleitungen verneinen die entsprechende Frage (vgl. Büdenbender 2016:Kap. 4.6). Das ist in Schulchören übrigens nicht so ausgeprägt wie in Kirchenchören. Die Zurückhaltung der Chorleitungen hat vielleicht nicht nur damit zu tun, dass ihnen entsprechende Literatur nicht zur Verfügung steht, sondern auch in der – nur mehr oder weniger reflektierten – Einsicht, dass man damit auch in die ‚Exotisierungsfalle’ des ‚Otherings’ gehen könnte.
- Interessant, wenn auch nicht wirklich erklärbar, ist der Befund, dass Chorleitungen von Chören mit GHV ihre Mitglieder noch deutlich weniger in die Repertoiregestaltung einbeziehen als ihre KollegInnen von Chören ohne GHV (vgl. Büdenbender 2016:Kap. 4.5).
11. Erfahrung macht Mut
Tatsächlich höheren Aufwand durch den ‚Einsatz besonderer Methoden oder Arbeitsmittel’ für den Umgang mit Mitgliedern mit Migrationshintergrund stellen nur 22 % der Chorleitungen mit GHV-Erfahrung fest. Dies kann also objektiv kein großes Hindernis für Engagement sein. Allerdings vermutet eine gar nicht mehr kleine Minderheit von 38 % der Chorleitungen von Chören ohne GHV, dass man diesen Mehraufwand treiben müsse (vgl. Büdenbender 2016:Kap. 5.3). Diese Vermutung kann dann doch schon eine Schwelle darstellen.
Wir stellten die Frage, ob „unterschiedliche soziale, kulturelle, religiöse Normen und Werte“ schon einmal Hindernisse bei der Einbeziehung von jungen Menschen mit Migrationshintergrund in die Chöre erzeugt hätten. Abb. 3 zeigt: Nur 13 % der Chorleitungen mit GHV-Erfahrung in ihren Chören, sahen solche Hindernisse, aber 63 (!) % der Chorleitungen ohne GHV-Erfahrung vermuteten, dass es solche Hindernisse geben könnte (vgl. Büdenbender 2016:Kap. 5.5). Hier stellen sich also die Wahrnehmungen genau konträr dar.
Die beiden Befunde lassen erkennen, wie stark bei unserem Thema auch die Psychologie mitspielt. In der Praxis stellt sich die Situation des Umgangs mit GHV in den Chören offenbar nicht so schwierig dar wie in der Theorie bzw. in der Phantasie.
Wie positive Praxiserfahrung Einstellungen und Einschätzungen bestimmt, lässt sich noch an einigen weiteren Befunden zeigen:
- Chorleitungen mit GHV in ihren Chören sehen signifikant viel mehr „Förderpotenzial, das speziell Chorarbeit für die kulturelle Teilhabe und Integration von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund bietet“ als ihre KollegInnen ohne GHV-Erfahrung. In Summe kommen die GHV-erfahrenen Chorleitungen auf einen sehr guten Einschätzungsmittelwert von 1,52 auf einer 5er-Skala, die nicht GHV-erfahrenen Chorleitungen landen bei bescheideneren 2,18 (vgl. Büdenbender 2016: Kap. 5.7)
- Alle Chorleitungen wurden gefragt, wie sehr ihnen bestimmte inhaltliche Ziele ihrer Arbeit „am Herzen“ liegen. Eines der Ziele war die „Aufnahme von Kindern/Jugendlichen mit Migrationshintergrund“ in ihren Chor. Sie konnten ihre Bewertung auf einer Skala von „(1) Sehr“ bis „(6) Gar nicht“ ankreuzen. Der Mittelwert der Beurteilung von 2,00 bei den Chorleitungen von Chören mit GHV gegenüber 2,37 bei denen ohne GHV signalisiert einen signifikanten Unterschied (vgl. Büdenbender 2016:Kap. 5.11): Die GHV-erfahrenen Chorleitungen stehen dem Anliegen positiver gegenüber.
- Als letztes Beispiel der unterschiedlichen Einschätzung der Situation sollen die Meinungen der Chorleitungen darüber gezeigt werden, wie sie die „überwiegenden Einstellungen ihrer KollegInnen gegenüber Herausforderungen einschätzen, die die ‚Migrationsgesellschaft’ für die Chorarbeit mit sich bringt.“ Sie konnten auf einer 6-stufigen Skala von „sehr aufgeschlossen“ bis „sehr ablehnend“ wählen. Die Mittelwerte aus allen Einschätzungen bleiben verhalten. Die Chorleitungen mit GHV-Erfahrung in ihren Chören sind aber wieder etwas optimistischer mit 2,21, diejenigen ohne mit 2,50 etwas gedämpfter. Interessant ist hier wieder der Unterschied bei der besten Bewertung. Nicht einmal ein Zehntel (7 %) der nicht-GHV-erfahrenen Chorleitungen sehen ihre KollegInnen „sehr aufgeschlossen“, bei den GHV-erfahrenen sind es fast ein Viertel (23 %). (Vgl. Büdenbender 2016:Kap. 5.12)
Wenn wir auf den Zusammenhang von Erfahrung, Wahrnehmung und Motivation der Chorleitungen schauen, bestätigt sich der Eindruck: Die bereits mit der Teilhabe von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund Erfahrenen sehen die Herausforderungen, die damit schon auch gegeben sind, weniger kritisch als diejenigen, die diese Erfahrung noch nicht haben. Komplementär werden die Chancen, die die Einbeziehung bietet, erheblich positiver gesehen. Insgesamt sollte dieser Sachverhalt Mut machen, sich auf diese Erfahrungen einzulassen. Das wäre gut für die Kinder und Jugendlichen und eröffnete Chancen für Chöre und Chorleitungen. (Für eine ausführlichere Darstellung dieses Abschnittsthemas verweise ich auf Ermert 2015.)
Was brauchen wir?
Zunächst und vor allem: Keine Angst. Unter den jungen Menschen, die der, wie wir dargelegt haben, erst einmal nur äußerlichen Kategorie „Menschen mit Migrationshintergrund“ zugehören, finden sich vielerlei Herkünfte und ebenso viel Milieudiversität wie in der einheimischen Bevölkerung. Die „Migrationsgesellschaft“, insoweit sie für Kinder- und Jugendchöre eine Rolle spielt, birgt quantitativ nicht mehr und qualitativ nur wenige Herausforderungen, die über die hinausgehen, die in jeder Chorgruppe sowieso zu finden sind. Nur bei der Minderheit von Kindern und Jugendlichen, die noch nicht über genügend Sprachkenntnisse verfügen, ist noch etwas mehr pädagogisches Geschick gefordert, gegenüber der – kleinen – Minderheit, die noch einem konservativ islamischen Milieu verhaftet ist, sind gewisse Rücksichtnahmen und besondere Sensibilität in der Arbeit gefragt. Insbesondere spielt in jedem Falle der Aufbau von Vertrauen der Eltern eine große Rolle. Die bisher dominierende „Komm-Struktur“ muss ergänzt oder abgelöst werden durch eine „Geh-Struktur“.
Für Best-Practice-Beispiele transkulturell bewusster Kinderchorarbeit sei auf Hayat Chaoui 2016 und Christine Etzold 2016 verwiesen sowie auf vielerlei Aussagen der interviewten ExpertInnen (vgl. Frischen/Büdenbender 2016).
Wer als Chorleitung oder auch sonst Chorverantwortlicher schon bisher den Anspruch hatte, über das mehr bildungs- und kulturaffine Milieu hinaus zu kommen, das üblicherweise in Chören zu finden ist, wird mit Blick auf migrantische Kinder und Jugendliche keine wirklich neue Situation antreffen. Zumal erfolgreiche integrative Partizipation migrantischer Kinder und Jugendlicher offenbar nicht bedeutet, das Repertoire der Chöre nun grundsätzlich umzukrempeln. Auch diese Seite der Exotisierungsfalle muss vermieden werden. Ein gewisses Maß musikethnologischer Kompetenz schadet nicht, auch Neugier und Respekt vor anderen Musiktraditionen und die Ausweitung des Blicks über den ethnozentristischen Tellerrand. Aber das sind Tugenden, die in der generell transkulturellen Situation der globalisierten Gegenwart sowieso angesagt sind.
Dies vorausgesetzt im Folgenden einige Stichpunkte aus dem, was aus den Gesprächen mit den ExpertInnen, aus der Umfrage unter den Chorleitungen an Vorstellungen und Wüschen erkennbar wurde (Weiteres bei Büdenbender 2016:244ff.). Man kann sie sortieren in die Kategorien Theorie, Praxis, Aus-, Fort- und Weiterbildung, Politik und Verwaltung.
(1) Dringend nötig ist weitere Arbeit an der Theoriebildung über das, was die transkulturelle demografische Situation in einer Gesellschaft im Allgemeinen und in Deutschland im Besonderen bedeutet, und zwar nicht nur als wissenschaftliches Thema von Ethnologie bis Soziologie und Pädagogik und ihre Anwendungsfelder. Sie ist ebenso nötig als Theorie-Bildung, also als Bildungs- und Diskursthema für politisch und pädagogisch verantwortliche und handelnde Akteure, bis ein „offenes, plurales und aktivierendes Integrationsverständnis“ (Pries 2015:29, und Pries 2016:49) Allgemeingut geworden ist. Dies gilt für den gesamten Kulturbereich, aber natürlich auch für Musik und für musikalische Kulturarbeit, wie eben in Kinder- und Jugendchören.
Die in dem Projektband (Ermert 2016) dokumentierten Befunde, Einsichten und Diskursbeiträge mögen dazu beitragen. Aber sie beziehen sich mit Kinder- und Jugendchören auf einen spezifischen und – quantitativ betrachtet – noch nicht einmal sehr großen Ausschnitt des chormusikalischen Geschehens in Deutschland. Eine einfache Übertragung der daran gewonnenen Befunde auf die – in sich wiederum sehr vielgestaltige – Erwachsenenchorsituation und -szene ist nicht möglich. Insbesondere sollte man hier aus den Geschichten der Chormitglieder selbst viel lernen können. Warum singen sie, warum singen andere nicht? (Vgl. dazu z. B. die Ausführungen von Kreutz 2016). Welche Möglichkeiten gibt es, den Zugang zum Singen auch im Erwachsenenalter offener zu gestalten? Für alle.
(2) Die Praxis in den Chören, die Arbeit der Chorleitungen in dieser musikalischen Kulturarbeit, braucht musikalisch und vermittlungsmethodisch souverän kompetente Menschen. Das braucht sie immer. Aber gerade im Umgang mit musik- und sozialpädagogisch noch etwas anspruchsvolleren Situationen ist die musikalische Souveränität der Leitung hilfreich und ermöglicht flexibles Reagieren.
Ganz praktisch wünschen sich viele Chorleitungen eine größere Auswahl internationaler Lieder, altersstufenangemessen arrangiert und mit zweisprachigen Texten (Herkunftssprache und Deutsch).
Sehr hilfreich wäre – nach mehrfachen Aussagen – die Möglichkeit der Teamarbeit und der Zusammenarbeit mit MusikerInnen aus anderen Musiktraditionen.
Mehr Zeit für den Musikunterricht an Schulen war ein durchgängiger Wunsch. Insofern wurden die Bedingungen, die G8 an den Gymnasien produziert, kritisiert und wurden die Möglichkeiten der Ganztagsschule als Chance für mehr Musik an den Schulen und für mehr Chorarbeit begrüßt, auch wenn die Ganztagsschule für die außerschulische Chorarbeit höchst ambivalent daherkommt. Die Konsequenz wäre eine stärkere Kooperation zwischen Schule und außerschulischer Chorarbeit.
Nicht vergessen werden darf noch die altbekannte und begründete Forderung, freiberuflich arbeitende Chorleitungen angemessen zu honorieren, gerade auch dann, wenn sie, wie in unserem Falle unserer Thematik, mit ihrer künstlerischen und kulturvermittelnden Arbeit auch noch einen erheblichen gesellschaftlichen Mehrwert produzieren.
(3) Die Chorleitungsausbildung gerade für Kinder- und Jugendchöre an (Musik-)Hochschulen muss mehr auf die real existierenden Praxisbedingungen orientiert werden. Mehrfach wurden Curricula für die Grund- und HauptschulmusiklehrerInnenausbildung erwähnt und kritisiert, die sich an realitätsfernen künstlerischen Zielen orientieren. (Siehe als Beispiel die Aussagen der InterviewpartnerInnen in Frischen/Büdenbender 2016:313f., ferner die Ausführungen bei Riemer 2016:174ff., und Horst 2016:151ff.) Umso mehr sind Verbände und Weiterbildungseinrichtungen gefordert, mit ihren Fortbildungsangeboten die Mängel der Erstausbildung zu kompensieren. Und dies sollte sich nicht nur auf die künstlerische und im engeren Sinne musikpädagogische Kompetenzbildung beziehen, sondern auch auf die gerade in unserem Themenzusammenhang wichtigen quasi sozialpädagogischen Begleitumstände der Berufsausübung von Chorleitungen für Kinder- und Jugendchöre. (Siehe dazu insbesondere die Diskussionsberichte aus den Arbeitsgruppen der Tagung in Ermert 2016:166ff. und 179ff.)
(4) Aus der Notwendigkeit musikalischer und vermittlungsmethodischer Kompetenz ebenso wie der sozialpsychologisch und musikethnologisch reflexiven Grundlegung der Chorleitungsarbeit in der ‚Migrationsgesellschaft’ ergeben sich umfangreiche Anforderungen an Ausbildung, Weiter- und Fortbildung von Chorleitungen. Ich empfehle dazu die Ausführungen von Riemer 2016 (zur generellen Situation von Fort- und Weiterbildung in der Musikvermittlung vgl. Ermert/Riemer 2013). Naheliegende Sofortmaßnahmen in der Fortbildungsarbeit von Einrichtungen und Verbänden könnten im Angebot des Erfahrungsaustausches vermittels Best-Practice-Beispielen für erfolgreiche Teilhabe von Kindern und Jugendlichen mit Zuwanderungsgeschichte in Chören bestehen. Das würde den positiv Neugierigen unter den KollegInnen Chorleitungen Anregungen geben und Befürchtungen nehmen. Ein anderer Schritt: Das könnte und müsste, vielleicht für Fortgeschrittene, in der Sache auch noch auf tatsächlich exemplarisch schwierige Gruppen und Situationen hin konkretisiert werden. Der generelle Zugang über Zuwanderungsgeschichte bzw. Migrationshintergrund als Generalbegriff und Thema allein hilft noch nicht wirklich. Aber das erforderte ebenso viel Sensibilität wie Mut.
(5) Politik und Verwaltung sind natürlich, wie immer, stark gefragt. Als Geldgeber für entsprechende Projekte, aber auch, indem sie Rahmenbedingungen für die chormusikalische Kulturarbeit verbessern. Dazu gehört nicht nur eine angemessene personelle Ausstattung an den Schulen und in den betreffenden Einrichtungen. Wichtig ist auch ein positives Zusammenspiel der verschiedenen Behörden und Institutionen. Hayat Chaoui (2016) zeigt am Beispiel Wuppertal, was möglich ist an Erschließung von Teilhabe, wenn Schulbehörden, Jugendamt, Sozialwesen und schließlich auch Kirchen zusammenarbeiten. Es ist wie so oft: Die Probleme und auch die Lösungen von Problemen richten sich nicht nach behördlichen Zuständigkeitsgrenzen.