Kultur als Dimension eines Bildungskonzepts für eine nachhaltige Entwicklung
Abstract
Um zukunftsfähige Entscheidungen – orientiert an den Werten einer nachhaltigen Entwicklung – abwägen und treffen zu können, sind neben der ökologischen, sozialen und ökonomischen Dimension gesellschaftlichen Handelns auch die kulturelle Dimension einzubeziehen. Über kulturelle Leitbilder, Praktiken, Produkte ebenso wie durch die Einbeziehung kultureller Akteure können das Potenzial von Kultur als kritische Wahrnehmung, Reflexion und Gestaltungskraft in den Blick kommen. Diese Sichtweise ist für Bildung für eine nachhaltige Entwicklung – also den Erwerb von Wissen, Sichtweisen, Fähigkeiten, die ermöglichen, sich an diesem Prozess zu beteiligen – fruchtbar zu machen.
Dieser Beitrag erschien erstmals 2010. Wegen seines Grundlagencharakters wird er für den Wissenstransfer im Themenfeld „Künste, Natur, Nachhaltigkeit" auf kubi-online erneut veröffentlicht.
Bildung ist Voraussetzung und zugleich Bestandteil nachhaltiger Entwicklung. Sie beteiligt sich an der Suche nach zukunftsfähigen Verhältnissen von Mensch und Natur und der Menschen untereinander in dieser Einen Welt – und damit auch nach neuen Gestaltungsmöglichkeiten in den verschiedenen Dimensionen gesellschaftlichen Handelns. Kultur wird – gemeinsam mit der ökologischen, ökonomischen und sozialen Dimension – als eine Dimension verstanden, in der nicht-nachhaltige Entwicklungen, aber auch Gestaltungsmöglichkeiten und zentrale Akteure für eine nachhaltige Entwicklung identifiziert werden können. Dabei wird mit einem Kulturverständnis gearbeitet, mit dem man das Verhältnis von Mensch und Natur in den Blick bekommt, und das Alltagspraktiken und zugrunde liegende Werte und Normen wie auch kulturelle Artefakte und das Potenzial von Kultur als kritische Wahrnehmung, Reflexion und Gestaltungskraft einschließt.
Bildung in ihrer Bedeutung für eine nachhaltige Entwicklung
Nachhaltige Entwicklung als Orientierung für Gegenwarts- und Zukunftsgestaltung ist die Antwort auf die in Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit übereinstimmend – wenn auch mit unterschiedlichen Akzenten – getroffene Feststellung, dass ein anderer Umgang mit unseren natürlichen Lebensgrundlagen und mit den Entwicklungsdisparitäten in dieser Einen Welt gefunden werden muss, um Menschen langfristig eine gute Lebensmöglichkeit zu sichern. Mit Respekt vor anderen Kreaturen und der Entwicklung von Leben auf der Erde wird in diese Diskussion auch der Erhalt der Natur um ihrer selbst willen einbezogen.
Es geht um nicht weniger als um einen Paradigmenwechsel im Verhältnis von Mensch und Natur und der Menschen untereinander. Grundlegend dafür ist eine Wertediskussion, in der Menschenwürde, Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen und Gerechtigkeit gegenüber den Menschen in dieser Einen Welt und gegenüber zukünftigen Generationen sowie auch eine Bewertung der Natur als Zusammenhang gesehen werden.
Eine Analyse und Kritik an nicht-nachhaltiger Entwicklung sowie eine kritische Auseinandersetzung mit bisherigem Wissen und bisherigen Denkweisen führen jedoch nicht unmittelbar zu verantwortlichen Zukunftsentwürfen. Vielmehr ist nachhaltige Entwicklung als individueller und gesellschaftlicher Lern-, Such- und Gestaltungsprozess zu verstehen, in dem über verantwortliche Wege öffentlich zu streiten ist. Die Interessengegensätze, die eine nachhaltige Entwicklung behindern, und die regionalen und globalen Kräfteverhältnisse sowie Machtstrukturen sind in Rechnung zu stellen. Diese Herausforderungen setzen komplexes Wissen, neues Wissen, Einschätzung von Nichtwissen und die Bereitschaft zum Umdenken und Neudenken voraus.
Das ist keine Aufgabe, die man an die künftige Generation delegieren kann; Umdenken und Neu-Denken-Lernen sind aktuelle Herausforderungen für alle Generationen und alle gesellschaftlichen Gruppen, weltweit. Bildung ist damit zugleich Voraussetzung als auch Bestandteil einer nachhaltigen Entwicklung.
Diese Aussage impliziert, dass Bildung neu gedacht werden muss. Nicht die Tradierung bisheriger kultureller Bestände steht im Mittelpunkt, sondern die Frage nach einem verantwortlichen Umgang mit bisherigen Wissensbeständen und die Suche nach neuen Wegen in der Gestaltung des Mensch-Natur-Verhältnisses und des Verhältnisses der Menschen untereinander. Damit wird auch eine Aussage über das Verhältnis von Bildung und Kultur getroffen: Bildungsprozesse setzen sich kritisch mit kulturellen Beständen, Werten und Normen sowie kulturellen Prozessen auseinander. Bildung ist beteiligt an der Ausbildung (auch neuer) kultureller Werthaltungen, Wissensbestände und Praktiken.
Vor diesem Hintergrund verändern sich auch die Ziele von Bildungsprozessen: Es sollen solche Kompetenzen gefördert werden, die beitragen können, neue Antworten auf die Herausforderungen des globalen Wandels zu finden. Menschen soll ermöglicht werden, gemeinsam mit anderen ihre Gegenwart und Zukunft unter dem Anspruch von Zukunftsfähigkeit zu gestalten. Dazu sind auch Einsichten in zentrale Problemzusammenhänge, die über die Zukunftsfähigkeit entscheiden – wie Ernährung, Klimawandel, Erhalt von Biodiversität und kulturelle Vielfalt – notwendig.
Bildung für eine nachhaltige Entwicklung – zentrale Elemente des Konzepts
Die Konsequenzen für Bildungsprozesse und -institutionen sollen hier knapp als Anforderungsprofil für eine Bildung für eine nachhaltige Entwicklung skizziert werden (vgl. ausführlicher dazu Stoltenberg 2009). Danach zeichnet sich Bildung für eine nachhaltige Entwicklung aus durch
- eine ethische Orientierung;
- ein integratives Naturverständnis;
- integrative Problembetrachtung, komplexes Denken und interdisziplinäres Arbeiten;
- Zusammenführung unterschiedlicher Wissensformen und Perspektiven; transdisziplinäres Arbeiten;
- Offenheit: Denken in Alternativen, visionäres, kreatives Denken;
- Einbeziehung von Gestaltungsmöglichkeiten einer nachhaltigen Entwicklung in Bildungsprozesse, also: Lernen an ernsthaften Aufgaben.
>> Ethische Orientierung
Das Leitbild einer nachhaltigen Entwicklung ist eine Antwort auf die Herausforderungen des globalen Wandels. Der Begriff „Globaler Wandel“ (WGBU) steht für die zunehmende Verflechtung von weltweiten Umweltveränderungen, grenzenlosem Wirtschaften (Globalisierung), kulturellem Wandel und einem wachsenden Nord-Süd-Gefälle. Die Kernprobleme des globalen Wandels zeigen, dass neue Strategien im Umgang mit Menschenwürde und Gerechtigkeit und damit in engem Zusammenhang mit den natürlichen Lebensgrundlagen gefunden werden müssen, um auch langfristig ein gutes Leben auf diesem Planeten zu ermöglichen.
Entsprechend versteht sich das Konzept einer Bildung für nachhaltige Entwicklung als ein Beitrag, Menschen in die Lage zu versetzen, sich an einer nachhaltigen Entwicklung zu beteiligen. Der Charakter einer nachhaltigen Entwicklung als offener Prozess, dessen Rahmenbedingungen wir zunehmend besser kennenlernen, der jedoch in seiner Komplexität weiterhin ein Such-, Lern- und offener Gestaltungsprozess bleibt, bestimmt auch den Charakter dieses Bildungskonzepts. Partizipation, Umgang mit Offenheit und Unsicherheit, Risikobewusstsein, eine reflexive Wertediskussion sind ebenso Bestandteile wie die Suche nach tragfähigem, belastbarem Wissen über den Handlungskorridor einer nachhaltigen Entwicklung.
>> Integratives Naturverständnis
Die Beachtung des Wirkungszusammenhangs von Umweltbelastungen, Verlust von Biodiversität, Degradation von Böden, Anzeichen eines Klimawandels – um nur einige Beispiele zu nennen – mit menschlichen Praktiken kann wieder in Erinnerung rufen, dass alle unsere Produkte und menschlichen Tätigkeiten auf natürlichen Lebensgrundlagen beruhen. Klingt im Verständnis von Umweltschutz ein eher distanziertes Verhältnis des Menschen zur Natur als Gegenüber mit, so rückt das Angewiesensein des Menschen auf Natur die Verhältnisse wieder zurecht. Mensch und Natur können – wie auch Kultur und Natur – nicht als Gegensätze betrachtet werden. Bildung für nachhaltige Entwicklung hat die Aufgabe, das Verhältnis von Mensch und Natur als auch von Kultur und Natur zu reflektieren, die „Naturvergessenheit“ (vgl. Altner 1991; Kruse 1974) bewusst zu machen, sich damit auseinanderzusetzen, dass sich „Naturbeherrschung existenzgefährdend zuspitzt“ (Hohnsträter 2004:35). Natur ist in seinen verschiedenen Bedeutungen für den Menschen sichtbar zu machen: als ein Lebenssystem mit Gesetzen und Zeiten, in die Menschen eingebunden sind; als Zusammenhang aller Kreaturen; als Lebensraum und Lebenselement für alle Kreaturen; als Quelle von Ökosystemleistungen, natürlichen Ressourcen; als Wissensschatz für medizinische, technologische, vielleicht auch soziale Entwicklungen; nicht zuletzt: als Ergebnis der Auseinandersetzungen des Menschen mit der Natur, also als kulturalisierte Natur. Es geht darum, durch Bildung dazu beizutragen, dass das Verhältnis von Mensch und Natur als gestaltbar erfasst und zukunftsfähig gestaltet werden kann. Die Reflexion über Kultur, die Auseinandersetzung mit „Kultur“ und kulturelle Gestaltung werden hier bereits als zentrale Elemente einer Bildung für nachhaltige Entwicklung sichtbar.
>> Integrative Problembetrachtung, komplexes Denken und interdisziplinäres Arbeiten
Bildung für nachhaltige Entwicklung erfolgt in Auseinandersetzung mit komplexen Problemstellungen, die Bezüge zu gesellschaftlicher Praxis und damit auch zum eigenen Leben haben. Dazu werden Wissensbestände und Arbeitsweisen unterschiedlicher Disziplinen herangezogen. So wird der Erwerb von Sachwissen eingebettet in relevante Kontexte, die zugleich den Erwerb von Orientierungswissen (Bewertungswissen) und Handlungswissen erlauben. Interdisziplinäre Arbeitsweisen ermöglichen neue Sichtweisen und Fragestellungen.
Um den komplexen Handlungszusammenhängen gerecht zu werden, die nachhaltigkeitsrelevante Entscheidungen beeinflussen, sind diese in Analysen und Gestaltungsideen einzubeziehen. Modelle wie das „Nachhaltigkeitsviereck“ (siehe Abbildung 1; vgl. Stoltenberg 2009; Stoltenberg/Michelsen 1999) ermöglichen einen systematischen Umgang mit Komplexität in der gesellschaftlichen Praxis ebenso wie in Bildungsprozessen.
Als Dimensionen gesellschaftlichen Handelns werden hier die ökonomische, die soziale, die ökologische und die kulturelle berücksichtigt. Ihnen sind jeweils eine eigene (dominante) Logik, spezifische Entwicklungsdynamiken, Interessen und Handlungsmöglichkeiten eigen, die von denen der anderen Dimensionen unterscheidbar sind (auch, wenn es innerhalb der Dimensionen durchaus unterschiedliche Positionen und Entwicklungsdynamiken gibt). In den Dimensionen lassen sich Handlungen erkennen, die zu einer nicht-nachhaltigen Entwicklung führen. Umgekehrt lassen sich Strategien finden, die dem Erhalt natürlicher Lebensgrundlagen dienen können und an einem gerechten Zusammenleben in dieser Einen Welt orientiert sind. Zugleich können damit Akteure in den verschiedenen Handlungsfeldern identifiziert und nach (gemeinsamen) Gestaltungsmöglichkeiten einer nachhaltigen Alternative für Frage- und Problemstellungen gesucht werden.
Die vier Dimensionen lassen sich jedoch auch als Konfliktfelder in der Auseinandersetzung um Entscheidungen für nachhaltige Entwicklung lesen. Interessensgegensätze, unterschiedliche Machtverhältnisse aber auch unterschiedliche Gewichtigkeit für eine nachhaltige Entwicklung sind zu analysieren. Zugleich wird deutlich, dass eine nachhaltige Entwicklung nur unter Beteiligung der Akteure in allen Dimensionen möglich ist.
Eine ökologische Nachhaltigkeit kann es ebenso wenig geben wie eine soziale; eine zukunftsfähige Entwicklung hat wirtschaftliches Auskommen, soziale Gerechtigkeit und Zusammenleben sowie kulturelle Identität mit ökosystemaren Grundbedingungen der Existenz zusammenzubringen.
Wenn im Folgenden von der kulturellen Dimension nachhaltiger Entwicklung die Rede ist, wird sie in diesem Zusammenhang und nicht als unabhängiges Handlungsfeld gesehen. Mit dem Konzept Nachhaltigkeit werden Sachverhalte, gewachsene und hergestellte Dinge also in ihre komplexen Kontexte gestellt: Die Stadt, der Lebensraum, den wir bewohnen, die belebte Natur, die soziale Umwelt sind durch ökonomische, ökologische, soziale und jeweilige kulturelle Ausprägungen zu erschließen. Verständlich sind Probleme und Handlungsmöglichkeiten in diesen Bereichen erst durch eine gemeinsame Sicht dieser Aspekte; es geht nicht um einzelne „Sachen“, sondern um „Verhältnisse“, um Beziehungen, um das, was hinter den Dingen steckt und was sie verbindet. Diese werden jedoch nicht beliebig befragt; in ihrer Aufklärung spielt die Frage nach dem Umgang mit den menschlichen Lebensgrundlagen jeweils eine leitende Rolle. Damit werden das Verhältnis von Mensch und Umwelt bzw. von Mensch und Natur als kultureller Prozess und die Umweltfragen als geschichtlich und aktuell von Menschen verantwortet gesehen.
Eine analytische Unterscheidung der Dimensionen einer nachhaltigen Entwicklung ist gleichwohl sinnvoll, da so das Potenzial der jeweiligen Dimensionen für nachhaltige Entwicklung, aber auch der spezifische Beitrag zu einer nicht-nachhaltigen Entwicklung herausgearbeitet werden kann. Genau dies ist ein Anliegen der folgenden Ausführungen.
>> Zusammenführung unterschiedlicher Wissensformen und Perspektiven; transdisziplinäres Arbeiten
Die Arbeit an komplexen Problemstellungen erfordert, das Wissen der Experten aus den verschiedenen gesellschaftlichen Handlungsfeldern einzubeziehen. Darüber hinaus sind in Nachhaltigkeitsstrategien Wissensformen zu berücksichtigen, die eine besondere Perspektive hinsichtlich sozialer respektive ökologischer Fragen einbringen können (z. B. von Kindern, Menschen mit Handicaps, Menschen mit Erfahrungen in globalen Lebenszusammenhängen oder Landwirten). Indigenes Wissen über Natur, Sichtweisen der Zusammenhänge von Natur und Kultur können zu neuen Nachhaltigkeitsentwürfen beitragen. Kulturelles Wissen, Werthaltungen und kulturelle Praktiken sind Ausdruck eines spezifischen Verhältnisses von Mensch und Natur, das hinsichtlich seiner Entstehungsbedingungen und heutigen Ausprägungen für den Entwurf einer nachhaltigen Entwicklung bedeutsam sein kann. Von Anderen lernen ermöglicht auch immer, eine neue Perspektive auf die eigene Situation einzunehmen.
In der Generierung neuen Wissens entwickelt sich unter Nachhaltigkeitsperspektiven eine neue Kultur der Kooperation zwischen Wissenschaft und Praxis: Transdisziplinarität. „Robuste Lösungen“ (vgl. Nowotny 1999) für Zukunftsfragen werden gefunden, indem man Fachwissen von Expertinnen und Experten der Praxis und wissenschaftliches Wissen in gemeinsamen Arbeitsprozessen zusammenführt.
>> Offenheit: Denken in Alternativen, visionäres, kreatives Denken
Wenn eine nachhaltige Entwicklung als individueller und gesellschaftlicher Such-, Lern- und Gestaltungsprozess verstanden wird, dann müssen Bildungsprozesse Raum geben für Visionen und für konkrete alternative Entwürfe für das Zusammenleben der Menschen und das Nutzen natürlicher Lebensgrundlagen. Wahrnehmung von Vielfalt, Sensibilität für komplexe Naturerfahrungen, die einen berühren, Kreativität und Experimentierfreude, Mut zum Querdenken sind als Potenziale für eine nachhaltige Entwicklung zu verstehen. Kulturelle Praktiken, auch Kunst, werden so zu Elementen einer Bildung für nachhaltige Entwicklung.
>> Einbeziehung von Gestaltungsmöglichkeiten einer nachhaltigen Entwicklung in Bildungsprozesse, also: Lernen an ernsthaften Aufgaben
Ziel einer Bildung für nachhaltige Entwicklung ist es, Menschen aufzuzeigen, dass sie sich an einer zukunftsfähigen Entwicklung beteiligen können, und ihnen zu ermöglichen, die Kompetenzen und das Wissen zu erwerben, die dafür erforderlich sind. Gestaltungskompetenzen (wie Partizipationskompetenz oder die Kompetenz zur distanzierten Reflexion über individuelle wie kulturelle Leitbilder; vgl. Haan 2008) erwirbt man nicht durch Buchwissen, sondern durch Bildungsprozesse, die diese Kompetenzen (und das erforderliche Wissen) als sinnvoll erweisen. Projektförmiges Arbeiten an ernsthaften Aufgaben entspricht daher am ehesten den Ansprüchen einer Bildung für nachhaltige Entwicklung.
In diesen Prozessen findet Aneignung von Welt statt, die aktive Auseinandersetzung des Menschen mit seiner Umwelt, durch die der Mensch seine Umwelt für seine Zwecke ändert oder definiert und sie dadurch zu einer menschlichen Umwelt macht (vgl. Kruse/Graumann 1978, 2002). Sie können so angelegt sein, dass ihre Ergebnisse Beiträge zu einer nachhaltigen Entwicklung sind. Und sie können dem Individuum ein Gefühl von Zugehörigkeit geben, ohne das Gestaltungswillen schwer vorstellbar ist. „Die Welt zur Heimat machen“ (vgl. Engelhardt/Stoltenberg 2002) kann auch auf der lokalen und regionalen Ebene angesiedelt werden.
Kulturelle Dimension einer nachhaltigen Entwicklung
In dem skizzierten Profil einer Bildung für nachhaltige Entwicklung wurde „Kultur“ als wichtiges Moment bereits herausgearbeitet. Im Folgenden wird mit Kultur als einer der Dimensionen nachhaltiger Entwicklung im Sinne eines Analyse- und Handlungsfelds einer (nicht-)nachhaltigen Entwicklung gearbeitet.
Für dieses Kapitel und die folgenden Ausführungen insgesamt soll deshalb das zugrunde gelegte Verständnis von Kultur umrissen werden. Kultur wird hier als Basis, als Bewegungskraft und Äußerungsform dessen, was den Menschen ausmacht, gesehen. Gearbeitet wird mit folgenden Unterscheidungen:
>> Kultur als materieller Ausdruck der Gestaltungskraft von Menschen
Dazu gerechnet werden Dinge, kulturelle Ausdrucksformen (Musik; Malerei, darstellende und bildende Kunst; Kulturlandschaft). In bzw. an ihnen sind das (geschichtliche) Verhältnis von Mensch und Natur und das (geschichtliche) Verhältnis der Menschen untereinander ablesbar. Sie repräsentieren ein Werte- und Bedeutungsfeld, das Ausdruck individueller und gesellschaftlicher Werthaltungen und Praktiken ist und die zugleich Individuen und Gesellschaft beeinflussen.
>> Kultur als System von Werten, Orientierungsmustern, Bedeutungen
Diese schlagen sich im individuellen Verhalten und in der Regulierung des sozialen Zusammenlebens als Werthaltungen, Handlungsmuster, symbolische Praktiken und Sprache nieder. Aus ihnen sprechen Antworten auf soziale und natürliche Umwelten. In ihnen sind Erfahrungen der Auseinandersetzung des Menschen mit der Natur und der Menschen untereinander aufgehoben. Die Eine-Welt-Perspektive hat die Pluralität der Kulturen als Reichtum menschlicher Evolution erkennbar werden lassen. Entsprechend muss von verschiedenen „kulturellen Ausprägungen der Moderne“ gesprochen werden (vgl. Barloewen 2008); es kommt darauf an, kulturspezifische Werte, Orientierungsmuster und Bedeutungen unter Beachtung von Werten universeller Gültigkeit anzuerkennen. Letztere muss man voraussetzen, denn „Jede Kultur liefert verschiedene Antworten auf im Grunde gleiche anthropologische Fragen. Es gibt folglich Kristallisationspunkte, die alle Kulturen durchdringen“ (Barloewen 2008:110).
>> Kultur als Prozess
Kultur kann nicht als statisches System verstanden werden, wenn die Beziehung von Mensch und Natur und die Beziehungen der Menschen untereinander als immer wieder zu gestaltendes Verhältnis begriffen werden. Kultur ist also zugleich immer ein Prozess. In diesem können sich Menschen reflexiv zu Kultur, also zu den kulturellen Artefakten, zu Werten, Orientierungsmustern und symbolischen Bedeutungen und deren Vergegenwärtigungen als Werthaltungen, Praktiken und Sprache verhalten. Sie können auch neue Entwürfe dagegensetzen.
Kultur als Analyserahmen einer nicht nachhaltigen Entwicklung
So kann ein Zugang zum Verständnis einer nicht-nachhaltigen Entwicklung auch über die kulturelle Dimension gesellschaftlichen Handelns gesucht werden. Die Bedeutung kultureller Artefakte, Werte und Orientierungen für nachhaltige Entwicklung erweist sich, wenn man den kulturellen Blick in Beziehung zu ökologischen, ökonomischen und sozialen Fragen setzt.
Kulturelle Artefakte wie Kirchen, Stadtmauern, Gärten, Kernkraftwerke, nicht kompostierbare Produkte, Trinkwasser verbrauchende Golfplätze, Medienmonopole oder Wäschetrockner können zum Anlass von Bildungsprozessen genommen werden. Sie lassen sich als Ausdruck des Mensch-Natur-Verhältnisses und des Verhältnisses der Menschen untereinander als auch in ihrer Wirkung auf diese, orientiert an den ethischen Prinzipien einer nachhaltigen Entwicklung, prüfen.
Nehmen wir den Wäschetrockner: Er ist Ausdruck eines komplexen Gemischs aus Rationalisierung des Alltags, technologischer Machbarkeitsorientierung und ökonomischen Interessen. Offenbar aber ist er kulturell auch Ausdruck einer sozialen Schicht, die sich die Abwendung von der Natur leisten kann. Wäscheleinen sind, so berichtet ein Artikel aus der „Süddeutschen Zeitung“ vom 12. November 2009, in Teilen des modernen Amerika ein ästhetisches Problem. „Wäscheleinen symbolisieren das Gegenteil des amerikanischen Traums vom Aufstieg.“ Deshalb sind Wäscheleinen in einigen Kommunen verboten, Wäschetrockner der kulturell in Wert gesetzte Ersatz (vgl. Steinberger 2009).
Klimaschützer haben diese Situation zum Anlass genommen, um auf die ökologischen Wirkungen von Wäschetrocknern zu verweisen, die neben einem erhöhten Energiebedarf auch zu einer hohen CO2-Belastung beitragen (vgl. www.dbu.de/projekt_08639/_db_1036.html). Es liegt auf der Hand, dass die symbolische Bedeutung von Wäscheleinen und Wäschetrocknern verändert werden muss, um einen Nachhaltigkeitsprozess zu unterstützen.
Gartenkultur ist ein weiteres dankbares Feld, um Ursachen einer nicht-nachhaltigen Entwicklung zu erkennen – bietet sich in ihnen doch die Chance, den Zusammenhang von kultureller und biologischer Vielfalt zu thematisieren und die Wirkung (normierter) kultureller Artefakte auf kulturelle Sichtweisen und Haltungen zu untersuchen. Vorgärten, in denen sich „deutsche Kultur“ durch Gartenzwerge manifestiert und in denen zugleich heimische Natur zugunsten von Neophyten wie Bambus oder Bärenklau verdrängt wurde, bieten vielfältige Bildungsanlässe (vgl. Eser 1999; Schmoll 2003).
Die kulturelle Dimension nachhaltiger Entwicklung manifestiert sich in kulturellen Praktiken, Werthaltungen oder Sprache von Menschen. Ein in Bildungsprozessen inzwischen etabliertes Themenfeld sind Konsummuster (vgl. u. a. Empacher/Stieß 2007; Weller/Hayn/Schultz 2002) und in sie einfließende Werthaltungen; die Sprache der Werbung ist ein Teilaspekt dieses Komplexes, dessen Analyse eine nicht-nachhaltige Entwicklung verständlicher macht.
Unterschiedliche kulturelle Werthaltungen und ihre Folgen lassen sich am Beispiel der Patentierung von Lebewesen und Lebensprozessen analysieren. Hier stehen das Verständnis von Natur als Quelle ökonomischen Profits, gerechtfertigt mit Eigentumsideologien, dem Verständnis von Natur als Gemeingut und kulturellem Erbe entgegen.
Als eine „Verdichtung“ von Werthaltungen und Orientierungsmustern lassen sich Lebensstile lesen. Ihre jeweiligen Ausprägungen können ein Zugang zu Hindernissen nachhaltiger Entwicklung sein, zumal, wenn man sie mit sozialen Bedingungen und dem Zugang zu Bildung in Beziehung setzt.
Betrachtet man Kultur als Prozess in einer nicht-nachhaltigen Entwicklung, lassen sich Strukturen freilegen, die man kennen muss, um in den Prozess im Sinne nachhaltiger Entwicklung eingreifen zu können. Ein instruktives Beispiel dafür ist ein umfassendes Projekt auf der Hochebene von Ecuador und Peru: das Paramo-Projekt, das die nachhaltige Regionalentwicklung auf ein breites Erkundungs- und Bildungsprojekt stützte. Das Problem der Hochland-Indianer ist ein völlig gestörter Wasserhaushalt, der keine Existenzgrundlage sichern kann. Durch die Analyse der „Wasser-Geschichte“, des Einflusses der spanischen Kolonialmacht auf die Zerstörung der traditionellen Wasserbewirtschaftung sowie der „Wasservergessenheit“ der Nachfolgegenerationen wurden Ansatzpunkte für die künftige Gestaltung der Wasserwirtschaft freigelegt (vgl. Rivadeneira et al. 2009). In ähnlicher Weise wird in Europa gefragt, warum „bis zum Ende des 18. Jahrhunderts der Mensch sich auf das Zusammenleben mit den Flüssen verstand“ (Gonzáles del Tanago/Garcia de Jalón 2004:188).
Die kulturelle Dimension nachhaltiger Entwicklung als Analyserahmen einer nicht-nachhaltigen Entwicklung bleibt nicht bei einer Beschreibung stehen. „Freilegen“ von kulturellen Strukturen bietet vielmehr die Chance,
- neue Zusammenhänge und damit Handlungsmöglichkeiten zu erschließen;
- Akteure und Strukturen einer nicht-nachhaltigen Entwicklung zu identifizieren;
- alternative Werte, Bedeutungszuschreibungen und Handlungsmuster zu entdecken.
Kulturelle Dimension einer nachhaltigen Entwicklung als Gestaltungsfeld: Kultur als Potenzial einer nachhaltigen Entwicklung
Im Sinne eines integrativen Nachhaltigkeitsverständnisses soll hier weiter gefragt werden, wie durch Reflexion und Aktivitäten bezogen auf kulturelle Artefakte, Werte und Orientierungsmuster und bezogen auf Kultur als Prozess für Bildung für nachhaltige Entwicklung ein Beitrag zu einer Bildung für nachhaltige Entwicklung erbracht werden kann. Die Akteure können, müssen aber nicht Künstler und Künstlerinnen sein. Aus einer Kooperation von Kunst, Wissenschaft und Bildungseinrichtungen kann ein besonderes Potenzial erwachsen. Beispiele dazu werden in die folgenden Ausführungen einfließen.
>> Kulturelle Artefakte
Kulturelle Artefakte können Anlass zur Vergewisserung eines verantwortbaren Verhältnisses der Menschen untereinander und von Mensch und Natur sein. Auf der Ebene der Reflexion bieten sie Einsichten, die heute zum Teil verschüttet sind. Ein nachhaltig bewirtschafteter Wald, der Natur und zugleich kulturelles Artefakt ist, kann zeigen, dass ein Arbeiten mit der Natur und nicht gegen sie ein kulturell, sozial, ökonomisch und ökologisch zufriedenstellendes Produkt hervorbringt (vgl. ausführlicher dazu Stoltenberg 2009). Geschichtliche Artefakte (wie die Menhire) können in ihrer Anordnung und Gestaltung als Ausdruck der Auseinandersetzung der Menschen mit der Natur verstanden werden. Autobahnen sind kulturelle Artefakte, an denen sich der Zusammenhang von Technologieentwicklung, ökonomischen Rationalitäten, Sicherheitsaspekten, ökologischen Eingriffen und ästhetisch-kulturellen Gestaltungsprinzipien ablesen lässt. Die Idee der „Kultivierung des Fahrens durch landschaftliche Perspektiven“ (vgl. Reitsam 2009) deutet an, wie die kulturelle Dimension des Autobahnbaus eine eigene Dynamik im Sinne nachhaltiger Entwicklung entfalten könnte.
Auf einer emotionalen Ebene können kulturelle Artefakte Kontext für Identitäts- und Zugehörigkeitsgefühle sein. Landschaften als kulturelle Artefakte bieten die Möglichkeit, Menschen für das Ziel einer nachhaltigen Entwicklung zu gewinnen. Ohne das kultivierte Bedürfnis von Menschen nach Zugehörigkeit, Schönheit und Vielfalt wird man kaum eine Strategie nachhaltiger Entwicklung verfolgen können, die Empathie, Denken in Zusammenhängen, Offenheit für Fremdes und Neues und auch uneigennütziges, solidarisches Verhalten fordert. Landschaften haben das Potenzial, uns berühren zu können, unser Interesse zu wecken für Gestaltungsmöglichkeiten und zugleich die Botschaft zu vermitteln, dass eine nachhaltige Entwicklung machbar ist (vgl. Eisel/Körner 2007). Landschaft, deren Produkte und die praktizierte Lebensweise sind ein Gestaltungsfeld nachhaltiger Entwicklung, das sich beispielsweise die Organisation Slow-Food erfolgreich als Ansatz gewählt hat, um zu einer nachhaltigen Entwicklung beizutragen.
Artefakte des Weltkulturerbes öffnen den Blick für kulturell unterschiedliche Gestaltungsmöglichkeiten im Zusammenhang mit den jeweils verfügbaren Naturmaterialien. Eine Analyse von in diesen Artefakten erkennbaren universellen Werten könnte Nachhaltigkeitsstrategien eröffnen.
Eine Kultur des Umgangs mit den Dingen entwickeln – mit dieser Forderung ließen sich zwei Einsichten zusammenfassen, die im Verhältnis zwischen Menschen und Dingen unter der Perspektive nachhaltiger Entwicklung von Bedeutung sind: Zum einen verfügen wir nicht endlos über natürliche Ressourcen, um beliebige Dinge produzieren zu können, und unser Ökosystem Erde ist auch nicht beliebig in der Lage, vernutzte, weggeworfene Dinge zu „verdauen“. Zum anderen fließen in die kulturelle Gestaltung erhebliche humane Ressourcen in der Auseinandersetzung des Menschen mit Dingen ein. Sich nicht von den Dingen beherrschen lassen, sondern ein Verhältnis zu ihnen herstellen, ist mehr als ein Bildungsinhalt; es ist eine Grundhaltung, die man in Bildungsprozessen fördern kann (vgl. Hübner in diesem Band; Stoltenberg 2000).
>> Werte, Orientierungsmuster, symbolische Bedeutungen und Sprache
Ulrich Grober kommt das Verdienst zu, das Nachhaltigkeitsverständnis selbst als „Weltkulturerbe“ beschrieben zu haben. Er ist den Wurzeln dieses Denkens in unserer europäischen Kultur- und Geistesgeschichte nachgegangen und hält die Auseinandersetzung mit ihr und außereuropäischen ähnlichen Entwicklungen für grundlegend: „Erst auf dieser Basis lässt sich Nachhaltigkeit zu einem neuen zivilisatorischen Entwurf weiterentwickeln. […] Dazu gehören neue Bilder des guten Lebens und Entwürfe der Lebenskunst ebenso wie Metaphern der ‚Wiederverzauberung’ der Welt“ (Grober 2002).
Die Reflexion– auch in unserer Gesellschaft – über kulturell unterschiedliche Werte, Orientierungsmuster, symbolische Bedeutungen und Sprache gehören in den Mittelpunkt einer Bildung für nachhaltige Entwicklung. Als Zugang zur Reflexion und zur Gestaltung einer nachhaltigen Entwicklung können hier nur einige zentrale Diskurse angesprochen werden, die vorkommen sollten, weil sie Grundideen einer nachhaltigen Entwicklung entsprechen.
Dazu gehört ein ganzheitliches Naturverständnis als Schlüssel zu einer nachhaltigen Entwicklung, wie weiter oben ausgeführt wurde. Die unterschiedlichen Sichtweisen, die mit dem Umwelt- und dem Mitwelt-Begriff verbunden sind, entscheiden über eigene Grundhaltungen zu einer nachhaltigen Entwicklung (vgl. Lersner 1997).
Nachhaltige Entwicklung wird durch die Beteiligung aller auch in ihrem unmittelbaren Lebensumfeld und in ihrem Alltag entschieden. Gemeinwohlorientierung und Gestaltungsverantwortung sind Werthaltungen, die in ihrer Bedeutung für das Individuum und die Gesellschaft erkannt werden müssen (vgl. Helfrich 2009).
Die kulturelle Dimension einer Bildung für nachhaltige Entwicklung ist auch Ausgangspunkt einer Verständigung über Gerechtigkeit im Sinne globaler Verantwortung und im Sinne von Zukunftsverantwortung. Die kodifizierten Menschenrechte, die Erdcharta (Verein Ökumenische Initiative Eine Welt e. V.) oder Menschenwürde in verschiedenen Religionen und Kulturen können Anlass dafür sein. So können auch kulturell unterschiedliche Konstruktionen von Gerechtigkeit und Zukunft beachtet werden.
Zugleich werden diese Reflexionsebenen die derzeit gegebene kulturelle Akzeptanz für Nachhaltigkeitswerte einbeziehen müssen. Welche Veränderungen „im Kopf“ möglich sind, welche Symbole und Orientierungsmuster geeignet sind, sich auf den unsicheren Weg veränderter Lebensgestaltung und Lebensentwürfe im Sinne nachhaltiger Entwicklung zu begeben, ist bewusst zu machen, um in Bildungsprozessen auch Gestaltungserfahrungen und Gestaltungskompetenzen für nachhaltige Entwicklung zu ermöglichen.
Das Potenzial von Sprache für Bildungsprozesse für nachhaltige Entwicklung lässt sich zum einen durch die Betrachtung von Sprache als „geronnene Erfahrung“, als Abbild geschichtlicher Strukturen oder als kulturelles Bedeutungsfeld nutzen. Sprache kann aktuell als Indikator agieren und kulturelle Entwicklungen zeitnah dokumentieren – u. U. schneller als andere Artefakte. Zum anderen ist Sprache als Mittel der kulturellen Verständigung, als Medium für Identität und Selbstverständigung bedeutsam. Ihr wird eine eigene Wirkungsmacht zugeschrieben (vgl. Austin 1962; Butler 1998), die in dem Titel eines Projekts der Goethe-Gesellschaft zum Ausdruck kommt, das die Bedeutung von Sprache in einer globalisierten Welt untersucht hat: „Die Macht der Sprache“ (vgl. Goethe-Institut 2008).
>> Kultur als Prozess
Unter dem Verständnis von nachhaltiger Entwicklung als individuellem und gesellschaftlichem Such-, Lern- und Gestaltungsprozess kommt der Beschäftigung mit „Kultur als Prozess“ herausragende Bedeutung zu. Lernen in kulturellen Prozessen eröffnet die Chance, kulturelle Werthaltungen, Orientierungsmuster und Praktiken in Frage zu stellen, sie als veränderbar im Sinne nachhaltiger Entwicklung zu erfahren. Die Erfahrung, dass nachhaltige Entwicklung machbar ist, vermag vielleicht am ehesten die Widersprüche zwischen Einsicht und Handlungsbarrieren aufzulösen. An Wissen über notwendige Schritte zu nachhaltiger Entwicklung mangelt es nicht (auch wenn wir mit zunehmendem Unwissen leben, wenn die Probleme komplex sind). Dennoch reicht unser heutiges Wissen für alternative Handlungsentwürfe. Um diese zu realisieren, bedarf es der Menschen, die sich berühren lassen von den Problemen, die sich emotional angesprochen fühlen, die (neuen) Sinn erfahren. Kulturelle Prozesse – und als eine Form Kunst – kann Potenziale wachrufen, um neue Wege zu gehen.
Lokale Öffentlichkeit ist ein wichtiger Ort für Bildungsprozesse in diesem Sinne. Dabei geht es um informelle Bildungsprozesse, die zwar der Reflexion zugänglich gemacht werden können, jedoch auch „nebenbei“ ablaufen. Zwei Beispiele mögen das illustrieren: Stadträume können als Begegnungsräume der Kulturen organisiert werden; Flohmärkte als regelmäßige Institution und Tauschbörsen bestärken ein Konsumverhalten, das Ressourcenverantwortung, wirtschaftliches Verhalten, soziales Miteinander und vielleicht auch Kreativität und Eigensinn eher fördert als normiertes Kaufverhalten. Regionale Wochenmärkte richten den Blick eher auf saisonale und regionale Produkte; sichtbare Handwerker im Stadtbild könnten auffordern, eher zu reparieren und zu restaurieren als wegzuwerfen und zu erneuern (in Bologna, das lange eine partizipative Quartiersentwicklung verfolgt hat, gibt es noch Spuren dieser Idee in der Altstadt).
Mit dem Konzept der Slow Cities wurde ein Anstoß für einen kulturellen Prozess gegeben, der für alle Beteiligten zugleich ein Gestaltungs- als auch ein Bildungsprozess sein kann. Dabei werden als ein Motor für eine neue Stadtgestaltung Menschen gesehen, die bereit sind, ihre Stadt neu zu erfahren, „die bereit sind, innezuhalten, um die Schönheit und Qualität eines Ortes wahrzunehmen“ (www.cittaslow.info/).
Ein weiteres Beispiel von städtischer Raumgestaltung als kultureller Prozess bezieht insbesondere auch die globale Perspektive mit ein: die verschiedenen Formen von Gemeinschaftsgärten. In dem unterschiedlichen Sprachgebrauch deuten sich bereits wichtige Botschaften an: Neben interkulturellen Gärten werden Nachbarschaftsgärten oder Piraten- und Guerilla-Gärten gegründet. Sie verdanken sich Bürgerinitiativen oder gezielten Regelübertretungen durch Inbesitznahme nicht genutzter Flächen. Auf ihnen wird durch Kultivierung (sic!) die Grundlage von Eigenversorgung geschaffen, soziales Miteinander praktiziert und – insbesondere in den internationalen Gärten – das Bewusstmachen und der Erhalt biologischer Vielfalt mit kultureller Vielfalt in Beziehung gesetzt.
Prozesse, in die Vertreter der Länder des Nordens und Südens einbezogen sind, bergen das Potenzial zur Entwicklung eines Weltbürgerbewusstseins. Allerdings sind sie durch theoretische Reflexionen, wie sie die postcolonial studies (vgl. Loomba 1998) anbieten, zu begleiten, um ethnozentristischen Wahrnehmungen entgegenwirken zu können. Kultureller Austausch von Studierenden kann einen solchen kulturellen Prozess befördern, wenn sie gemeinsame Zukunftsentwürfe mit den Gastländern beinhalten. Verständigung über gemeinsame Vergangenheiten – wie auf einer Tagung der „Werkstatt der Kulturen“ in Berlin 200 Jahre nach Aufhebung der Sklaverei mit Vertretern der Nachkommen der Sklaven – kann Ausgangspunkt für die Entwicklung hin zu einem Weltbürgerbewusstsein sein.
Dieser Prozesscharakter wird auch von Künstlern angestrebt, die Mensch-Natur-Verhältnisse nicht abbilden, illustrieren, sondern mit ästhetischen Mitteln auf globale und gesellschaftliche Bedingungen, Strukturen und Entwicklungen aufmerksam machen oder gar einen Beitrag zu nachhaltiger Entwicklung leisten wollen. Er kann darin bestehen, dass durch künstlerische Gestaltung Orte (wieder) in die Gesellschaft integriert werden (vgl. Derungs/Steinmann 2004), die Auskunft geben können über gelingende Mensch-Natur-Verhältnisse. „Eine Kunst, gründend auf Positionen einer ökologischen Ästhetik, entfaltet Zeichen und Orte in der Umwelt, die in ihrem formalen, materiellen und geschichtlichen Kontext einen Dialog über das Sein in der Natur kulturell dechiffrieren“ (Prigann 2004:181).
Kulturelle Gestaltungsformen können unsere soziale Phantasie mit neuen Bildern für eine lebenswerte Zukunft anregen. Jeder künstlerische Akt eröffnet neue Räume – und Räume sind übliche „ökologische Formen“ in zeitgenössischer Kunst (vgl. Hohnsträter 2004:103ff.). „Eine Arbeit ist dann gelungen, wenn ihre Komposition bzw. Anlage derart ist, dass sie neuen, überraschenden Assoziationen, Vorstellungen und Empfindungen Raum gibt“ (Rabe 2004). Diese Aussage ist unter dem Anspruch, zu einer nachhaltigen Entwicklung beizutragen, zu ergänzen: wenn dabei Räume sichtbar werden, in denen der Erhalt der Lebensgrundlagen, ein erfülltes kulturelles und soziales Leben, ökonomische Sicherheit und Gerechtigkeit möglich wären oder Wege dazu aufgezeigt werden. Dirk Hohnsträter sieht heute eine Aufgabe von Kunst in der „bewussten Hinwendung zur Natur“ (Hohnsträter 2004:88). „[…] das Bestehende zu irritieren, heißt heute, das verdeckte Gegebene freizulegen, Natur zu rehabilitieren, Leiblichkeit zu reetablieren“, einen neuen Umgang mit Natur zu praktizieren (Hohnsträter 2004:76).
Künstler fragen in ihren Arbeiten nach transkulturellen Elementen nachhaltiger Entwicklung, die zu einer „Kultur von Nachhaltigkeit“ beitragen können (vgl. Kagan/Dielemann 2008). Joseph Beuys hat diesen Ansatz der Thematisierung gesellschaftlicher Verhältnisse mit dem Anliegen, zu neuen demokratischen und zukunftsfähigen zu gelangen, in vielen Projekten unter der Idee der Sozialen Plastik realisiert, indem er damit gearbeitet hat, dass sich Kultur als widerständiger Bereich der Logik des Sozialen und der Wirtschaft ebenso wie der ökologischen Gesetze entzieht (vgl. Altner 2008). George Steinmann verfolgt mit seinem Konzept einer „Wachsenden Skulptur“ ähnliche Intentionen. Er selbst beschreibt seine Arbeitsweise so: „Es gibt die Sicht der wechselseitigen Abhängigkeit der Dinge. Was die Biodiversität den Biologen ist dem Künstler die Multifunktionalität: das Resultat von Ursache und Wirkung. Der Wert der Vielfalt. Wenn diese Kraft an Bedeutung gewinnt und als Gegenmittel wirkt, schwindet allmählich das, was ihr entgegensteht: die Monokultur, die Intoleranz, das Unflexible“ (Steinmann 2007:67). Damit können Strukturen einer Lebensweise, die eine nachhaltige Entwicklung möglich macht, sichtbar werden. Insbesondere eine neue Zeitkultur und eine neue Raumkultur könnten Schlüssel für einen anderen Umgang mit Menschen und Dingen sein. Steinmann entwickelt seine Projekte partizipativ mit den am jeweiligen Gestaltungsfeld Beteiligten. Harald Heinrichs spricht im Zusammenhang mit Partizipation und Nachhaltigkeit von Kultur-Evolution (vgl. Heinrichs 2007) – eine Formulierung, die unterstreicht, dass Partizipation in einer nachhaltigen Entwicklung und entsprechend in darauf bezogenen künstlerischen und Bildungsprozessen ein auch gesellschaftlich produktives Moment ist.
Die kulturelle Dimension einer nachhaltigen Entwicklung wird – wie die Beispiele gezeigt haben – bereits in formellen und informellen Bildungsprozessen genutzt. Sie wird Chancen haben, auch in andere als das hier vorgestellte Konzept einer Bildung für nachhaltige Entwicklung integriert zu werden, wenn daran gearbeitet wird, dass öffentliche Räume für die Verständigung über eine Kultur nachhaltiger Entwicklung und für Erfahrungen und Begegnungen mit kultureller Vielfalt als Moment dieser Einen Welt zur Verfügung stehen. Bildung für nachhaltige Entwicklung bedarf derartiger öffentlicher Räume, um nicht nur reflexive Aufklärung zu verfolgen, sondern mit an einer nachhaltigen Entwicklung zu arbeiten.