Kultur, Bildung und Nachhaltige Entwicklung

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von Eva Leipprand

Erscheinungsjahr: 2013/2012

Die kulturelle Dimension der Nachhaltigkeit

Nachhaltige Entwicklung ist eine der großen Aufgaben unserer Zeit. Die Menschheit steht in der Evolution an einem kritischen Scheideweg, an dem es ganz klar um ihr Überleben geht. Der fortschreitende Klimawandel und die sich verschärfende Ressourcenknappheit, aber auch die Armuts­- und Finanzkrise setzen das Wohl der kommenden Generationen aufs Spiel. Weltweit, aber auch in unserem Land, stellt Nachhaltige Entwicklung eine politische und gesellschaftliche Herausforderung ersten Ranges dar. Ohne eine grundlegende Transformation unserer Lebens-­ und Wirtschaftsweisen wird diese Aufgabe nicht zu leisten sein.

Technologisch-­naturwissenschaftliche Lösungsansätze reichen nicht aus. Gegen eine solche Transformation stehen die kulturellen Normen und Verhaltensweisen der Industrie­gesellschaft, die auf stetigem Wachstum, Beschleunigung und der Anhäufung materieller Güter gründen (Assadourian 2010). Tagtäglich werden diese Normen durch Botschaften aus Werbung und Politik verstärkt, Botschaften, die vor allem an den Eigennutz der Adressaten appellieren. Das Ständig­-mehr-haben-­Wollen treibt den Wachstumsmotor an.

Immer lauter wird daher der Ruf nach einem kulturellen Wandel (siehe: Max Fuchs „Kulturbe­griffe, Kultur der Moderne und kultureller Wandel“). In diesem Zusammenhang ist die vor kurzem neu entfachte Debatte um Wohlstand ohne Wachstum bemerkenswert (vgl. z.B. Jackson 2011). Das ständige Wachstum gefährdet die Existenz der Menschheit auf dem Planeten. Der Mythos Wachstum und damit auch die Konsumkultur müssen also auf ihre tatsächliche Tauglichkeit für das Wohl des Menschen hin überprüft werden. Was braucht der Mensch wirklich und was sind durch Wettbewerb und Werbung geschaffene Wünsche? Wie sieht ein gutes, gelingendes Leben aus? Wie kann sich die Gesellschaft von den untauglich gewordenen Bildern und Botschaften der Wachstumskultur befreien? Erprobte, aber lange vernachlässigte menschliche Fähigkeiten wie etwa Hilfsbereitschaft und Kooperation sind neu zu bewerten, Eigennutz und Gemeinnutz müssen wieder ausbalanciert werden, und zwar im Rahmen weltweiter Gerechtigkeit, im Sinne eines globalen Wir. Kulturelle Setzungen wie „Macht euch die Erde untertan“ oder „Seid fruchtbar und mehret euch“ haben sich als überholt erwiesen; dagegen lässt aufhorchen, wenn ein Staat wie Ecuador 2008 beschließt, die Rechte der Natur in die Verfassung aufzunehmen. Die Umweltbedingungen haben sich verändert, die alten Rezepte taugen nicht mehr, die Menschheit muss sich an die neue Situation anpassen, wenn sie ihr Überleben sichern will. Allerorten ist eine Suchbewegung zu beobachten. Gefragt sind neue Leitbilder und Menschen, die bereit sind, sich auf Unbekanntes einzulassen und neue kreative Wege in die Zukunft zu finden.

Das Aufbrechen alter Denkmuster, der gewachsenen mentalen Infrastrukturen (Welzer 2011) ist das Kerngeschäft von Kunst und Kultur. Hier eröffnet sich ein Raum der Möglichkei­ten, in dem das ganz Andere, das Unerwartete auftauchen kann, in dem auch das Ungewisse Platz hat und Optionen imaginiert und durchgespielt werden können.

Rückblick

Schon seit Jahren wird auf die Bedeutung der Kultur für das Leitbild Nachhaltige Entwicklung hingewiesen. Die Studie „Grenzen des Wachstums“ des Club of Rome hat im Jahr 1972 vor der ungebremsten Ausbeutung der Ressourcen und der Gefährdung der Ökosysteme gewarnt. Do­nella Meadows, eine der AutorInnen der Studie, hielt schon damals einen Paradigmenwechsel, also eine Veränderung der kulturellen Normen der westlichen Gesellschaften, für unerlässlich. Der Brundtland­-Bericht von 1987, mit dem weltweit der Diskurs über Nachhaltige Entwicklung begann, geht ebenfalls von einem umfassenden Wandlungsprozess aus. Entscheidend in diesem Zusammenhang ist die UNESCO­-Erklärung zur kulturellen Vielfalt von 2001, die die Vielfalt der Kulturen in ihrer Bedeutung als Ressource für die Zukunft der Menschen mit der biologischen Vielfalt gleichsetzt. Art. 13 der entsprechenden Konvention von 2005 verlangt die „Integration von Kultur in die nachhaltige Entwicklung“.

In Deutschland hat sich unter anderem die Kulturpolitische Gesellschaft frühzeitig mit der kulturellen Dimension der Nachhaltigkeit beschäftigt. 1998 versuchten sich die „Toblacher Thesen“ an einer Definition nachhaltiger Schönheit – „langsamer, weniger, besser, schöner“. Das „Tutzinger Manifest“ verstand die Kultur als „quer liegende Dimension“ zu der Nachhal­tigkeits­-Trias Ökonomie, Ökologie und Soziales. In engem Austausch mit KünstlerInnen wur­den behutsam Elemente einer Ästhetik der Nachhaltigkeit gesammelt – der souveräne und verantwortlich gestaltende Mensch, die selbstbegrenzungsfähige Zivilgesellschaft, kulturelle Vielfalt, das gute, gelingende Leben.

Im Fortschrittsbericht 2008 zur nationalen Nachhaltigkeitsstrategie (Bundesregierung 2008:188) fordert der Rat r Nachhaltige Entwicklung „die Idee der Nachhaltigkeit zum Thema für Stil, Sinn und Kultur des Lebens zu machen.“ Die 2010 eingesetzte Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität – Wege zu nachhaltigem Wirtschaften und gesellschaftlichem Fortschritt in der Sozialen Marktwirtschaft“ des Deutschen Bundestages untersucht derzeit intensiv die Zusammenhänge zwischen den Schlüsselbegriffen.

Wesentliche Akteure der wissenschaftlichen Diskussion zur kulturellen Dimension der Nachhaltigkeit sind in Deutschland unter anderem das Kulturwissenschaftliche Institut Essen KWI, die Universität Hildesheim, die Universität Lüneburg oder der Deutsche Kulturrat. Diese Diskussion muss naturgemäß interdisziplinär geführt werden und die Frage einschließen, ob und wie man den kulturellen Wandlungsprozess politisch befördern kann. Hier kommt die Kulturelle Bildung ins Spiel.

Kulturelle Bildung und Anschlussfähigkeit des Themas Nachhaltigkeit

Der Bereich Bildung befasst sich bereits intensiv mit dem Thema Nachhaltigkeit. „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ heißt die Weltdekade der Vereinten Nationen 2005-­2014. Bildung in diesem Sinne fördert Gestaltungskompetenz; sie „versetzt Menschen in die Lage, Entschei­dungen für die Zukunft zu treffen und dabei abzuschätzen, wie sich das eigene Handeln auf künftige Generationen oder das Leben in anderen Weltregionen auswirkt.“

Im März 2011 wurde im Auftrag des Umweltbundesamtes eine Studie erstellt mit dem Titel: „Einblick in die Jugendkultur. Das Thema Nachhaltigkeit bei der jungen Generation anschluss­fähig machen“ (Thio/Göll 2011). Wesentliche Ergebnisse der Studie sind: Jugendliche fühlen sich durch die Komplexität der globalen Probleme und durch die Fülle der Fakten überfordert. Verbunden mit dem Gefühl der Ohnmacht führt dies oft zu Resignation und Rückzug in den privaten Bereich. Nachhaltige Verhaltensweisen und Ideen sind bislang nicht in die jugend­lichen Lebenswelten integriert. Es fehlt an Bildern, Leitbildern, an positiven, mobilisierenden Emotionen. Mit der Ratio allein ist die Kluft zwischen Wissen und Handeln nicht zu überbrücken.

Die Studie bestätigt: will man Jugendliche (und das gilt auch für Kinder und Erwachsene) für die Mitarbeit an der Nachhaltigen Entwicklung gewinnen, dann darf die kulturelle Dimension nicht fehlen. Alle Sinne müssen einbezogen werden, das Emotionale, das Schöpferische. Die Frage der Werte, der Einstellungen, der Haltung zur Welt. Nur dann lassen sich Vorstellungen und Lebensstile tatsächlich verändern. Es geht um eine positive Zukunftsvision: nämlich für sich selbst ein gutes, gelingendes Leben zu entwerfen, das das gute, gelingende Leben der anderen (das möglicherweise ganz anders aussieht) nicht beeinträchtigt und auch den Erhalt der Ökosysteme für zukünftige Generationen mit einschließt. Dafür ist in der Tat Kreativität gefragt, die Fähigkeit, sich immer wieder neuen Bedingungen anzupassen. Das eigene Projekt ist dabei Teil eines großen, gemeinsamen Projektes. Es bietet die Möglichkeit, Verantwortung zu übernehmen und dies auch als Chance für die eigene Entfaltung und Erfüllung zu erleben. Die Erfahrung, ein sinnvoll mitgestaltender Teil der Gesellschaft zu sein, sich auch als Teil eines weltweiten Menschheits­-Wir zu erleben, das den Einsatz aller Kräfte lohnt. Derzeit diskutierte Vorstellungen von kollektiver oder Schwarmintelligenz können hier hilfreiche Bilder bieten. Auch wenn der Einzelne als kleiner Teil des großen Ganzen nicht den vollen Überblick hat, kommt es trotzdem darauf an, was er tut. Jeder kann mithelfen, und sei sein Beitrag noch so klein.

Kulturelle Bildung für „nachhaltige“ Kompetenzen

Es liegt deshalb auf der Hand, dass für eine Kulturelle Bildung, die sich der Nachhaltigen Entwicklung verschreibt, Partizipation (siehe: Larissa von Schwanenflügel/Andreas Walther „Partizipation und Teilhabe“) ein Kernelement sein muss. Der kulturelle Wan­del kann nur als zivilgesellschaftliches Projekt funktionieren. Es geht darum, im einzelnen Menschen und in der Gesellschaft, von der Kita bis zur Erwachsenenbildung, diejenigen Kom­petenzen zu stärken, die wir für den Übergang in die postindustrielle Gesellschaft brauchen.

Für eine Nachhaltige Entwicklung sind, wie dargelegt, neben Partizipation auch Koope­ration, Verantwortung, Aufbrechen von Denkmustern, Respekt vor der Natur sowie Respekt vor der Vielfalt der Kulturen unabdingbar. „Nachhaltige Kompetenzen“ könnte man also wie folgt formulieren:

>> die eigene Kultur als Teil der weltweiten Vielfalt und gleichzeitig als besonderen und unverwechselbaren Ort zu erleben, an dem man sich verwurzelt und zu Hause fühlt. Das Zuhausesein in der eigenen Kultur ist Voraussetzung für fruchtbare interkulturelle Erfahrung;

>> den Umgang mit der Natur auch als eine kulturelle Aufgabe wahrzunehmen und dabei überkommene Denkmuster (z.B. das Recht auf Ausbeutung der Natur) zu überprüfen. Das bedeutet, nach allen Seiten offen zu sein, sich auf das Unbekannte einzulassen, das Ungewisse auszuhalten;

>> sich anderen Kulturen zu öffnen und ihre Vielfalt als eine Ressource für die Zukunft der Menschheit zu erkennen, zu schützen und zu nutzen. Dies bedeutet auch, die kulturelle Bedingtheit des eigenen Handelns zu hinterfragen und Angebote anderer Kulturen in die Transformationsstrategien einzubeziehen;

>> Zufriedenheit, Glück, Erfüllung nicht nur im Materiellen zu suchen, sondern in den Möglich­keiten zum eigenen kreativen Tun und der Teilhabe am kulturellen Leben; Sinn zu finden in gemeinsamen Aufgaben.

>> die Perspektive auch des anderen einnehmen zu können, gerade auch in Fragen globaler Gerechtigkeit; vernetzt zu denken und zu fühlen; ein Wir­-Gefühl in der Gemeinschaft zu entwickeln bis hin zum globalen Wir der Menschheit insgesamt;

>> den Weg in die Zukunft in diesem Sinne als einen weltweiten Suchprozess zu begreifen, Anpassungsfähigkeit zu entwickeln und selbst Verantwortung für die Zukunft des Planeten zu übernehmen.

Bereits heute befasst sich die Kulturelle Bildung in vielen Projekten mit dem Thema Nach­haltigkeit (vgl. z.B. Bildung für Nachhaltige Entwicklung BNE; Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung (BKJ); das Projekt „Überlebenskunst“ der Kulturstiftung des Bundes; Goethe-Institut), die nun aber in systematische Prozesse überführt werden müssen. Voraussetzung hierfür sind Schulen, Kulturinstitutionen und Kulturschaffende, Akteure in Wirtschaft und Gesellschaft wie auf den politischen Ebenen, die bereit sind, sich dem interdiszi­plinären Arbeiten zu öffnen und das große Zukunftsprojekt zu ihrer eigenen Sache zu machen.

Verwendete Literatur

  • Assadourian, Erik (Hrsg.) (2010): 2010 State of the World. Transforming Cultures. From Consumerism to Sustainability. New York: W.W. Norton & Company.
  • Bundesregierung (Hrsg.) (2008): Fortschrittsbericht 2008 zur nationalen Nachhaltigkeitsstrategie. Berlin: Presse- und Informationsdienst der Bundesregierung.
  • Bildung für nachhaltige Entwicklung. Weltdekade der Vereinten Nationen 2005-2014 (2005-2014): www.bne-portal.de
  • Culture 21. Die Agenda 21 der Kultur (ohne Jahr): www.agenda21culture.net
  • Jackson, Tim (2011): Wohlstand ohne Wachstum. Leben und Wirtschaften in einer endlichen Welt. Herausgegeben von der Heinrich-Böll-Stiftung. München: oekom.
  • Köhler, Karl-Heinz (2006): Thesen zur Kulturellen Bildung: www.ups-schulen.de/forum/06-3-4/06.pdf (letzter Zugriff am 22.09.13)
  • Kulturpolitische Gesellschaft (1998): Toblacher Thesen: www.kupoge.de/ifk/tutzinger-manifest/pdf/toblach-d.pdf (letzter Zugriff am 22.09.13)
  • Kulturpolitische Gesellschaft (ohne Jahr): Tutzinger Manifest: www.kupoge.de/ifk/tutzinger-manifest (letzter Zugriff am 22.09.13)
  • Thio, Sie Liong/Göll, Edgar (2011): Einblick in die Jugendkultur. Das Thema Nachhaltigkeit bei der jungen Generation anschlussfähig machen. Im Auftrag des Umweltbundesamtes: www.uba.de/uba-info-medien/4078.html (letzter Zugriff am 22.09.13)

Anmerkungen

Dieser Text wurde erstmals im Handbuch Kulturelle Bildung (Hrsg. Bockhorst/ Reinwand/ Zacharias, 2012, München: kopaed) veröffentlicht.

Zitieren

Gerne dürfen Sie aus diesem Artikel zitieren. Folgende Angaben sind zusammenhängend mit dem Zitat zu nennen:

Eva Leipprand (2013/2012): Kultur, Bildung und Nachhaltige Entwicklung. In: KULTURELLE BILDUNG ONLINE: https://www.kubi-online.de/index.php/artikel/kultur-bildung-nachhaltige-entwicklung (letzter Zugriff am 16.07.2024).

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Dieser Artikel wurde dauerhaft referenzier- und zitierbar gesichert unter https://doi.org/10.25529/92552.356.

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