Künstlerische Praktiken als Wissensproduktion und künstlerische Forschung

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von Annemarie Matzke

Erscheinungsjahr: 2013/2012

Künstlerische Praktiken zeichnen sich durch eine spezifische Verflechtung kognitiver wie körperlich-­habitueller Wissensformen aus. Für das Feld Kultureller Bildung ist dies von besonderer Bedeutung, da hier eine Verschiebung hinsichtlich tradierter Wissensordnun­gen zu konstatieren ist. Dies entspricht jenen Konzepten von Wissenskultur kultur­- und wissenschaftshistorischer Studien, die darauf hinweisen, dass Wissen nicht als Korpus objektiver Wahrheiten verstanden werden kann, sondern durch soziale wie performative Handlungskontexte hervorgebracht wird (Lyotard 1986; Knorr­-Cetina 2002). Verbunden ist damit die Einsicht, dass die Erfassung von Welt und Konstruktion von Erkenntnis nicht rein kognitiv zu beschreiben ist, sondern es immer auch körperlicher Formen kultureller Praxis bedarf. Diese Verschiebung des Wissenskonzepts ist im Kontext des performative turn in den Kulturwissenschaften zu lesen, der den Fokus vom Text auf die Prozesse des Hervorbringens, Machens und Handelns legt. Der amerikanische Philosoph Gilbert Ryle unterscheidet 1949 zwischen zwei Formen des Wissens: dem „knowing how“ und dem „knowing that“. Während das erstere ein Alltags-­ und Handlungswissen meint, das die Handelnden anwenden ohne notwendig Kenntnis der Regeln ihrer Handlungen haben zu müssen, meint das zweite ein primär theoretisches Wissen, das sich benennen und in Regeln ausdrücken lässt. Ryle hie­rarchisiert nun beide Formen des Wissens nicht, sondern stellt sie gleichberechtigt nebeneinander. Das besondere Potential der Künste liegt nun darin, dass sich hier beide Formen des Wissens treffen und überlagern (Ryle 2002). Wissen wird in diesem Kontext in seiner besonderen Performativität reflektiert (siehe Malte Pfeiffer „Performativität und Kulturelle Bildung“): nicht als standardisiertes Wissen, sondern in seiner besonderen Dynamik, Relationalität und Subjektivität. Ein solches Konzept von Wissen, gebunden an dy­namische Strukturen und Handlungen, bezeichnet Michael Polany als „tacid knowledge“, d.h. praktiziertes oder impliziertes Wissen (Polany 1985), das als Regel-­ und Erfahrungswissen in besonderer Weise an (körperliche) Handlungen gebunden ist.

Künstlerische Forschung

Die Thematisierung und Reflexion der Kunst als einer solchen epistemischen Praxis wird in jüngerer Zeit unter Begriffen wie „Künstlerische Forschung“, „Kunst als Forschung“ oder „Forschung mit Kunst“ diskutiert (Bippus 2009). Mit diesen Konzepten wird aber die bisherige Abgrenzung von Kunst und Wissenschaft grundlegend in Frage gestellt mit dem Ziel, Hier­archisierungen von Wissensformen zu unterlaufen. Künstlerische Forschung zielt auf ein in und durch künstlerische Praktiken und ästhetische Darstellungsformen hervorgebrachtes Wissen, das sich in je eigenen Präsentationsweisen und Rezeptionsstrukturen vermittelt, die sich grundlegend von denen der anderen Wissenschaften unterscheiden. Ansätze zu einer solchen Praxis finden sich in verschiedenen Künsten: die Erforschung von Körper- und Bewegungskonzepten im Tanz; in Projekten der bildenden Kunst, die sich mit Archiven und dokumentarischen Verfahren beschäftigen; in Lecture-Performances der Performance­-Art. Vor allem aber wird die Frage nach der Wissensproduktion der Künste hinsichtlich der Neustruk­turierung der universitären Lehre im Zuge des Bologna­-Prozesses gestellt, die mit der Frage nach künstlerischen Promotionen auch die Diskussion aufwarf, ob forschende künstlerische Praktiken einen mit wissenschaftlicher Forschung vergleichbaren Status haben kann und soll.

Historische Dimension

Die Gegenüberstellung von Künsten und Wissenschaften und der ihnen eigenen Wissens­formen­ und Erkenntnisprozesse beginnt erst mit der Aufklärung (vgl. dazu Mersch/Ott 2007:9-31). In der Antike verbanden sich noch in der Vorstellung der „techné“ die „poeisis“ mit den „mathemata“, das heißt den Erkenntnissen von Wissenschaft und Mathematik. Die Akademien des 17. und 18. Jh. vereinen Künste wie Naturphilosophien unter ihrem Dach. Erst in der Neuzeit wird mit der Trennung der Künste und Wissenschaften der Bereich des Wissens aus den Künsten ausgelagert. Mit einer zunehmenden Technisierung versuchen die Wissenschaften, jede Form der Subjektivität aus ihrem Bereich auszuschließen. Im Kontext der Künste wird dagegen mit dem Konzept des Genies die künstlerische Praxis in den Bereich der Intuition verortet und nicht als ein Konzept des Wissens gefasst. Diese Abgrenzung im­pliziert die Annahme, dass mathematisches und (natur-)wissenschaftliches Wissen grund­sätzlich von den Erkenntnisformen in den Künsten zu unterscheiden seien. Allerdings wird bereits in der Romantik diese Aufspaltung in Frage gestellt: die Erkenntnis und Erfahrung der Wirklichkeit der Welt schien nicht allein über objektivierende Verfahren der Wissenschaften möglich, so dass von den KünstlerInnen der Romantik neben Verstand und Vernunft Fantasie und Vorstellungsvermögen als künstlerische Praktiken zu Instrumenten der Weltaneignung erklärt wurden. Die historischen Avantgarden Anfang des 20. Jh.s wiederum thematisieren diese Trennung von Kunst und Wissenschaft, indem sie sich auf wissenschaftliche Konzep­te berufen, diese zitieren und reflektieren. In der Selbstreflexion der Kunst wird auch deren Potential als spezifische Wissensform offensichtlich.

Aktuelle Situation: Beschreibung – Ansätze – Projekte

Zahlreiche Projekte im Bereich der Kulturellen Bildung verorten sich im Bereich künstlerischer Forschung oder verbinden künstlerische und wissenschaftliche Methoden miteinander. Re­flektiert wird dabei nicht nur die Form des Wissens und seine Hervorbringung sondern ebenso die Vermittlung von Erkenntnisprozessen (siehe Eva Maria Gauß/Kati Hannken-­Illjes „Vermitt­lung von wissenschaftlichen Erkenntnissen in künstlerischer Form“). Wenn die Wissenschaften sich auf Erkenntnistheorien berufen, die auf eine objektivierende Distanz zum Untersuchungsgegenstand zielen und in der Vermittlung von Wissen nach Objektivität suchen, dann zielen künstlerische Verfahren darauf ab, die Materialität und Performativität solcher Vermittlungsprozesse mitzureflektieren. In den Blick rücken damit auch die Verfahren von Aufzeichnung, Dokumentieren und Schreiben und die damit verbundene materielle und mediale Konstitution von Forschungsgegenständen. Dabei finden sich je eigene Ansätze in den verschiedenen Kunstsparten (vgl. Meyer/Sabisch 2009). Geprägt hat die Debatte das Konzept der ästhetischen Forschung von Helga Kämpf-­Jansen (Kämpf-­Jansen 2001). Ver­standen wird darunter die Erforschung von Dingen, Situationen, Menschen oder Orten, ohne konkrete Vorgaben und Richtlinien. Beschrieben wird damit ein Modell prozessorientierten Lernens, das auf eine künstlerische Präsentationsform zielt und Praktiken der gegenwärtigen Künste, meist aus dem Bereich der bildenden Kunst, sowohl in der Recherche wie auch in der Präsentation aufgreift. Für ein solches Vorgehen, das wissenschaftliche und künstlerische Methoden miteinander verbindet, ist eine Auseinandersetzung mit Formen und Praktiken gegenwärtiger Kunst Voraussetzung.

Im Bereich der Theaterpädagogik, beispielsweise am Theater an der Parkaue (Berlin), sind in jüngerer Zeit Formate entstanden, die nicht mehr auf das Produzieren von traditionellen künstlerischen Formaten zielen, sondern den forschenden Blick zum Ausgangspunkt der pädagogischen Arbeit machen. Dabei wird bewusst die Nähe von künstlerischer und wissen­schaftlicher Praxis unterstrichen, wie beispielsweise der Titel „Winterakademie“, die jährlich am Theater an der Parkaue stattfindet, schon unterstreicht. Mit dem Konzept einer „Thea­terpädagogik des Performativen“ wird eine spezifische Form der Wirklichkeitswahrnehmung und Wirklichkeitsaneignung verbunden. Performative Handlungen bringen Wirklichkeit immer erst hervor. Im Handeln selbst wird Realität geschaffen. Das Performative des künstlerischen Aktes ist das, was durch den gemeinsamen Prozess zwischen Akteur (Künstler, Schauspie­ler) und Zuschauer entsteht. Im Fokus steht eine veränderte Form der Wahrnehmung von Gesellschaft und Kunst. Grundlegend ist hierfür die Offenheit des ästhetisch-­forschenden Prozesses. Damit verändert sich auch die Betrachter­- und Handlungsposition: Nicht das bewusste Produzieren steht im Mittelpunkt, sondern die Aufmerksamkeit auf Situationen, in denen etwas geschieht. Ausgangspunkt der theaterpädagogischen Arbeit ist damit eine Recherche, deren Ergebnis nicht im Vorhinein feststeht. Aber auch die Position des Spielenden selbst verschiebt sich. Die klare Rollenzuweisung in Akteur und Betrachter löst sich auf: die Jugendlichen werden zu Betrachter der Gesellschaft wie auch zu Akteuren auf der Bühne. Dies bedeutet auch eine Hinwendung zu anderen Kunstformen und Verfahren der Wissenschaft selbst, die immer schon andere Wahrnehmungsformen auf Gesellschaft eröffnen: sei es der Film, das Schreiben oder die wissenschaftliche Recherche. Solche transdisziplinären Projekte verflechten verschiedene künstlerische und mediale Praktiken miteinander und arbeiten an der Hervorbringung verschiedener Wissensformen.

Perspektiven und Herausforderungen

Auch wenn sich für Bildungsprozesse neue Perspektiven aus dem Konzept der künstleri­schen Forschung ergeben, bleiben doch auch Fragen offen. Die Annäherung der Künste an die Wissenschaften kann auch als eine Legitimierungspraxis gelesen werden, durch welche die künstlerische Praxis aufgewertet werden soll. Aufgrund der Angst vor einer Akademisierung der Künste tritt verstärkt die Frage nach der Abgrenzung von wissenschaftlicher und künstlerischer Praxis in den Vordergrund. Denn anders als in der Wissenschaft gibt es in den Künsten keine standardisierten, kollektiv akzeptierten und vor allem allgemein anwendbaren (Forschungs-)Methoden. Dies gilt es nicht als Defizit, sondern als besonderes Potential der Künste zu erkennen. Nachdem vor allem nach Parallelen gesucht wurde, gilt es zukünftig auch an einer präzisen Differenzierung verschiedener Ansätze wie auch Wissensformen zu arbeiten, die das je eigene der Praktiken nicht unterschlägt. Dies gilt auch für eine genaue Differenzierung zwischen den Praktiken in den verschiedenen Kunstformen, die je eigene Fragen wie Potentiale für eine forschende Suche eröffnen.

Verwendete Literatur

  • Bippus, Elke (Hrsg.) (2009): Kunst des Forschens. Berlin/Zürich: Diaphanes.
  • Kämpf-Jansen, Helga (2001): Ästhetische Forschung. Wege durch Alltag, Kunst und Wissenschaft. Zu einem innovativen Konzept ästhetischer Bildung. Köln: Salon.
  • Knorr-Cetina, Karin (2002): Wissenskulturen. Ein Vergleich naturwissenschaftlicher Wissensformen. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
  • Lyotard, Jean-Francois (1986): Das postmoderne Wissen. Wien: Passagen.
  • Mersch, Dieter/Ott, Michaela (Hrsg.) (2007): Kunst und Wissenschaft. München: Wilhelm Fink.
  • Meyer, Torsten/Sabisch, Andrea (Hrsg.) (2009): Kunst Pädagogik Forschung. Aktuelle Zugänge und Perspektiven. Bielefeld: transcript.
  • Polany, Michael (1985): Implizites Wissens. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
  • Ryle, Gilbert (2002): Der Begriff des Geistes. Stuttgart: Reclam.

Anmerkungen

Dieser Text wurde erstmals im Handbuch Kulturelle Bildung (Hrsg. Bockhorst/ Reinwand/ Zacharias, 2012, München: kopaed) veröffentlicht.

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Annemarie Matzke (2013/2012): Künstlerische Praktiken als Wissensproduktion und künstlerische Forschung. In: KULTURELLE BILDUNG ONLINE: https://www.kubi-online.de/index.php/artikel/kuenstlerische-praktiken-wissensproduktion-kuenstlerische-forschung (letzter Zugriff am 14.09.2021).

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Dieser Artikel wurde dauerhaft referenzier- und zitierbar gesichert unter https://doi.org/10.25529/92552.333.

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