Kritisch-reflexive Medienkompetenzförderung für alle
Wie eine kooperative kritische Politische (Medien)Bildung in einer Kultur der Digitalität die Demokratie stärkt
Abstract
Medienbildung und Politische Bildung sollten das gemeinsame Ziel verfolgen, einen selbstbestimmten kritischen und reflektierten Umgang mit Medien und digitalen Systemen zu fördern und zugleich Gemeinschaftlichkeit und demokratische Strukturen zu stärken. Die Polarisierung politischer Diskurse, Desinformation und Hass im Netz, erfordern eine solche kritische politische Bildungsarbeit. Diese ist allerdings mit außerschulischen Methoden und Ansätzen nur bedingt in die schulische Bildung implementierbar und adressiert mit ihren Ansätzen und Methoden nicht alle Kinder und Jugendlichen gleichermaßen. Der Beitrag geht der Frage nach, wie Ansätze einer zugleich kritisch-reflexiven wie niedrigschwelligen medienpädagogischen Praxis für alle Kinder und Jugendlichen angelegt sein müssten.
Hinweis: Dies ist eine Zweitveröffentlichung des Beitrags aus dem Sammelband Bildung und digitaler Kapitalismus, herausgegeben von Valentin Dander, Nina Grünberger, Horst Niesyto und Horst Pohlmann im kopaed-Verlag, München 2024. Kubi-online dankt dem Autor für diesen Beitrag und freut sich, diesen interessanten Artikel über das Dossier „Kulturelle Bildung und digitaler Kapitalismus“ (2025) der Wissensplattform Kulturelle Bildung Online breit teilen zu können.
1. Demokratische Kommunikation in einer Kultur der Digitalität
Als zentrale Zielstellungen einer Politischen (Medien)Bildung lassen sich gesellschaftliche Handlungsfähigkeit und Teilhabe konstatieren. Die Bedingungen, unter denen diese sich entfalten, haben sich im Laufe der letzten Jahrzehnte grundlegend verändert, so dass sich auch Inhalte und Methoden der Medienbildung und Medienpädagogik verändern müssen. In Anlehnung an die Denkanstöße des Medien- und Kulturphilosophen Vilém Flusser befinden wir uns zwischen zwei idealtypischen Gesellschafts- und Kommunikationsstrukturen (vgl. Flusser 1991c). Die einseitigen, massenmedialen Kommunikationsstrukturen der Gutenberg- und Massenmediengesellschaft verlieren an Bedeutung und werden zu Gunsten eines global vernetzen Dialogs verdrängt (vgl. Bröckling 2012). Der Netz-Dialog, der lange unter dem Begriff des Web 2.0 diskutiert wurde, ermöglicht zumindest theoretisch Vielfalt, Pluralismus und Intersubjektivität. Praktisch ist aber durch die Vernetzung aller mit allen keine globale Demokratisierung zu verzeichnen.
Ganz im Gegenteil: Wir sind in neue bündelnde Machtstrukturen, Filter-Bubbles und Echokammern geraten, die nicht mehr demokratische Diskurskultur und freiheitliche Momente bringen, sondern polarisieren und spalten. Das stellt eine kritisch-reflexive, am Ziel der Freiheit orientierte Medienbildung und Medienpädagogik, vor neue Herausforderungen. Es gilt zugleich die Souveränität und Selbstbestimmtheit der Einzelnen und die Gemeinschaft und das Gemeinwohl zu stärken. Dazu müssen die Bedingungen unter denen Wahrheiten und Wirklichkeiten heute konstruiert werden, aufgedeckt und jede*r Einzelne dazu befähigt und motiviert werden, sich einzubringen, selbst zum/r Produzierenden zu werden und damit die Bündel in Netze umzuschalten (vgl. Flusser 1991c; Bröckling 2012, S. 171ff.). Das verlangt allerdings mehr Initiative und Verantwortung als Rezeption und widerstandslosen und unreflektierten Konsum. So scheinen sich nur wenige dieser Aufgabe und Verantwortung für sich und andere stellen zu wollen (vgl. Paul 2001). Die zunehmende Nutzung digitaler, vernetzter Medien und die digital vernetzte Kommunikation allein haben zumindest nicht zum erhofften Demokratisierungsschub geführt, sie haben sogar mit Algorithmen und Künstlicher Intelligenz neue Formen sozialer Ungleichheit hervorgebracht, die uns vor neue Herausforderungen stellen, wie Nadia Kutscher bereits 2012 konstatiert (Kutscher 2012, S. 59).
Flusser hat uns mit seinem theoretischen Modell des Netz-Dialogs ein Modell an die Hand gegeben, welches den gegenwärtigen Zustand aus kommunikations- und informationstheoretischer Perspektive besser begreifen lässt (vgl. Flusser 1990; Flusser 1991b; Bröckling 2012). So beschreibt er bereits in den 1980er Jahren die sich gegenwärtig abzeichnende Vernetzung künstlicher und menschlicher Gedächtnisse als zentrale Herausforderung einer jeden künftigen Kulturkritik, von der aus alle weiteren Probleme zu fassen seien (vgl. Flusser 1985, S. 57). „Strukturale Disziplinen – wie Informatik, Kybernetik, Entscheidungs- und Spieltheorie – werden für Menschen weit wichtiger werden als gegenstandsbezogene“, so Flusser (ebd.1981, S. 111). Sie müssten an Bedeutung gewinnen und mit anderen Disziplinen zusammengedacht werden, um die Kommunikation im digitalen Zeitalter zu verstehen (vgl. Bröckling 2012, 2017). So bekommt der Ansatz Flussers eine neue Aktualität, weil er unter anderem aufzeigt, warum ein kritisch-reflexiver Umgang mit den Strukturen, in denen wir kommunizieren, eine wesentliche Voraussetzung für gesellschaftliche Teilhabe und Handlungsfähigkeit und damit für eine kritisch-reflexive und Politische Medienbildung und eine politische Medienpädagogik ist. Will Medienpädagogik ihre emanzipatorische Kraft trotz Desinformation, Hass und Hetze im Netz, der Polarisierung und eines ungeahnten Ausmaßes der Bedeutung algorithmischer Systeme und Künstlicher Intelligenz behaupten, muss sie sich auf Informations- und Kommunikationsprozesse fokussieren. Sie bedingen unser Handeln und durch sie werden Wahrheiten und Wirklichkeiten in einer „Kultur der Digitalität“ (Stalder 2016) konstruiert.
2. Politische (Medien)Bildung als Kooperationsaufgabe
Informations- und kommunikationstheoretische Überlegungen zur Struktur von kommunikativen Aushandlungsprozessen spielen in einer kritisch-reflexiven politischen Medienpädagogik eine zentrale Rolle. Um die Bedeutung von Medien und digitalen Systemen in demokratischen Meinungsbildungsprozessen und ihre Potentiale für gesellschaftliche Teilhabe zu verstehen und fördern zu können, rücken aber auch Inhalte, wie Desinformation, Hass im Netz und Verschwörungserzählungen in den Fokus. Zudem wird die Auseinandersetzung mit der Bedeutung medialer Räume bei der Radikalisierung und extremistischen Ansprache Jugendlicher immer zentraler. Eine besondere Aufmerksamkeit sollte in der präventiven Arbeit dabei Strukturen und Räumen gewidmet sein, in denen Kinder und Jugendliche aus sozial und kulturell benachteiligenden Strukturen handeln. Nur so kann Medienkompetenzförderung ihr inklusives und integratives und damit demokratisierendes Potential entfalten. Sie muss Demokratie für alle Kinder und Jugendlichen erfahrbar machen und diese darin bestärken, sich das politische Gestaltungspotential digitaler Medien und Systeme anzueignen (vgl. Bröckling 2018, 2022), um ihre Handlungsfähigkeit und Mündigkeit zu stärken und ihre Souveränität und Autonomie zu bewahren. Dazu müssen die kontextuellen Bedingungen des Medienhandelns, die Entgrenzung von Kommunikations- und Handlungsstrukturen und das persönliche Umfeld der Adressat*innen für die Konzeption von Bildungsangeboten ebenso berücksichtigt werden, wie gesellschaftliche und bildungspolitische Entwicklungen oder medienbezogene Gefährdungen (vgl. Bröckling 2019). Insbesondere in eher formalen, schulischen Bildungskontexten scheint Medienkompetenzförderung aber noch immer auf technisch-funktionale Dimensionen und auf die technische Handhabung und digitalisierte Lernumgebungen bezogene Digitalkompetenz reduziert zu werden, anstatt die Auswirkungen auf sich verändernde gesellschaftspolitische Entwicklungen und sich verändernden Bedingungen in Zeiten der Digitalität in den Blick zu nehmen.
Die Bedeutung der Nutzer*innen digitaler Technologie als soziale Akteur*innen, „[…] die mit ihren eigenen Bedürfnissen, Erfahrungen und Kompetenzen digitale Transformationsprozesse befördern und mitgestalten“ (Waldis 2022, zitiert in Kenner 2024, S. 207) werden allzu oft vernachlässigt. Ebenso werden die damit sich verschiebenden Macht- und Herrschaftsverhältnisse, nicht angemessen berücksichtigt (vgl. Kenner 2024, S.203f.). Dabei trägt insbesondere Schule eigentlich die Verantwortung für eine ganzheitliche kritische Medienkompetenzförderung. Schule ist ein wichtiger Ort, an dem sozial-emotionale, kulturelle und demokratische Kompetenzen für den Aufbau und das Leben von wertschätzenden Beziehungen – die Basis für demokratische Strukturen sind – gefördert werden könnten und hier potenziell alle Kinder und Jugendlichen erreicht werden. Zudem hat Schule explizit den Auftrag, kontroverse Positionen zu thematisieren und Kinder und Jugendliche zu befähigen, in politischen Situationen ihre Interessen zu analysieren, Entscheidungen zu treffen und danach zu handeln. Über die reine Wissensvermittlung und Analyse hinaus muss an Schulen dazu aber das aktive und partizipatorische, handelnde Lernen gestärkt werden (vgl. Bröckling 2020b, S. 229).
Eine so verstandene Politische Bildung an Schulen könnte die Basis für die außerschulische politische Jugendarbeit bilden. Das politische Engagement von Schüler*innen kommt aber eher aus der Freizeit und außerschulischen Jugendarbeit und wird von dort mit in das Schulleben eingebracht. Einen zentralen Einfluss auf die politische Haltung und das Engagement von Jugendlichen haben „offene Gespräche mit Erwachsenen, die Haltung zeigen und Position beziehen“ (Balnis 2013, S. 115). Und das sind häufig eher Bezugspersonen außerhalb der Schule. Zudem kann die Auseinandersetzung mit lebensweltnahen politischen Themen, wie medial vermittelten Rollenbildern und -erwartungen, die Reflexion der Bedingungen von Kommerzialisierung und digitalem Kapitalismus usw. in der außerschulischen Jugendarbeit stärker verankert und alltagsnäher thematisiert werden. Da aber Schule und Jugendarbeit jeweils wichtiger Bestandteil einer ganzheitlichen kritisch-reflexiven Medienkompetenzförderung sind, liegt es nahe, diese kooperativ zu denken. Damit ist aber die Schwierigkeit verbunden, Inhalte aus der Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen und nicht zuletzt außerschulische Ansätze und Methoden im Schulleben zu verankern oder umgekehrt die Schule in den Sozialraum zu öffnen, ohne dass ein System das andere vereinnahmt (vgl. Bröckling/Brüggen 2018, S. 163f.; Balnis 2013, S. 110ff.). Eine kooperative Politische (Medien)Bildung könnte eine gemeinsame Handlungsstrategie an sieben zentralen Zielvorstellungen orientieren (vgl. Bröckling 2022):
- Teilhabe gestalten und Demokratie erlebbar machen
- Orientierung bieten und Reflexion ermöglichen
- Informations- und Datensouveränität gewährleisten
- Kritik- und Urteilsfähigkeit fördern
- Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit fördern
- Meinungsbildung stärken
- Artikulations- und Dialogfähigkeit stärken
2.1 Teilhabe gestalten und Demokratie erlebbar machen
Die praktische medienpädagogische Bildungsarbeit macht Kindern und Jugendlichen Demokratie erlebbar und erfahrbar, indem sie darin gestärkt werden, sich in und mit Medien auszudrücken, politisch mitzugestalten, teilzuhaben. Dabei geht es nicht nur um Mitbestimmung und Partizipation an politischen Entscheidungen, sondern zunächst darum, konkrete Erfahrungen von Selbstbestimmung, Beteiligtsein und Selbstwirksamkeit zu machen. Das kann auch bedeuten, zu reflektieren und zu diskutieren, inwiefern Likes oder Dis-Likes in Social Media Formen der Partizipation darstellen. Solche Bezugnahmen auf die mediale Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen ermutigen sie, aktiv und selbstbestimmt zu entscheiden, in welchem Kontext und in welchen digitalen Räumen sie wie aktiv werden und teilhaben wollen. Aufbauend auf ihren eigenen alltäglichen Artikulations-, Kommunikations- und Beteiligungsformen können dann zielgruppengerechte Formate entwickelt werden, die sie zur Artikulation ihrer Interessen und zur selbstbestimmten gesellschaftlichen Teilhabe befähigen. Digitale Tools und Beteiligungsprozesse im Netz machen darüber hinaus demokratische Strukturen und Mitbestimmung erlebbar.
2.2 Orientierung bieten und Reflexion ermöglichen
Aufklärung über die Wirklichkeiten konstruierende Bedeutung von Medien und digitaler Vernetzung und Wissen zu den politischen Auswirkungen der digitalen Transformation können als zentrale medienpädagogische Orientierungsleistungen begriffen werden. Das betrifft in einer Kultur der Digitalität nicht mehr nur die Aufklärung über die manipulative Kraft von Massenmedien, Desinformation und Verschwörungsnarrativen, sondern auch die Mechanismen der Verarbeitung von Information und die dabei zunehmende Bedeutung von Algorithmen und Künstlicher Intelligenz. Darauf muss sich Bildungsarbeit ebenso einlassen, wie auf eine zunehmend individualisierte Orientierungssuche und Orientierungsfunktion von Influencer*innen, die sinnstiftende In-Beziehung-Setzung zu sich selbst und zu anderen in Social Media, die Aneignung politischen Wissens und das Verständnis der Funktionsweise politischer Debatten in Social Media und vieles mehr (vgl. Bröckling 2018; 2019).
2.3 Informations- und Datensouveränität gewährleisten
Das Handeln in einer Kultur der Digitalität ist unvermeidbar mit der Nutzung digitaler Dienste verbunden. Deren Datenerfassung beschränkt sich allerdings nicht auf das bewusst Veröffentlichte, sondern betrifft Verkehrs- und Metadaten, welche, ohne darauf Einfluss zu haben, Details über die eigene Lebensführung preisgeben. Politische Medienbildung muss die Themen rund um Datenerfassung und Datenanalyse und Fragen eines sozialen und demokratisch verantwortungsvollen Umgangs mit Technologie mitdenken und Menschen unterstützen, die Dilemmata zu erkennen, die mit der Nutzung digitaler Dienste immer verbunden sind. Eine kritisch-reflexive Medienpädagogik reflektiert darüber hinaus die Problemstellungen, die sich daraus für das soziale Miteinander und die Gesellschaft ergeben und macht die Folgen globaler Überwachung und Informationsasymmetrien im Datenkapitalismus transparent und erfahrbar (vgl. Brüggen/Bröckling 2017, S. 163; Gapski 2017; Bröckling 2018). Nicht zuletzt gilt es, grundlegende Kenntnisse der Online-Recherche, der Entschlüsselung von Informationen und deren Ideologiegehalt, algorithmenbasierte Funktionsweisen, ihr Diskriminierungspotenzial sowie die Bewertung der Anwendungsbezüge von Künstlicher Intelligenz unter ethischen und medienökonomischen Gesichtspunkten zu thematisieren und zu reflektieren. Das scheint besonders in spielerischen Settings, von Online-Spielen bis zu komplexen Planspielen, sinnvoll umsetzbar (vgl. Bröckling 2022, S. 78).
2.4 Kritik- und Urteilsfähigkeit fördern
Mit der Bearbeitung von Themen durch Themenzentrierte und Aktive Medienarbeit geht idealerweise auch die Förderung von Urteils- und Kritikfähigkeit einher, indem mediale und kommunikative Räume und Informationen und deren Verarbeitungsprozesse kritisch mit reflektiert werden. Kinder und Jugendliche werden damit u. a. befähigt, Desinformation und Verschwörungserzählungen als Ausdruck einer manipulativen Wirklichkeitskonstruktion zu begreifen, zu entschlüsseln und für sich zu bewerten. Dazu scheint es besonders hilfreich, Urheber*innen von Botschaften und deren Intentionen zu ergründen und sich mit kommunizierten Werthaltungen und Normen kritisch auseinanderzusetzen. Die kreative Gruppenarbeit bildet hier eine gute Grundlage, eigene Positionen zu entwickeln und zu vertreten. Darüber hinaus stärkt die Diskussion zu emotionalen und kontroversen Themen die Urteils- und Kritikfähigkeit, wenn Kinder und Jugendliche motiviert werden, auch Meinungskonflikte und Kritik spielerisch auszutragen. Dabei sollten ihnen stets die Vielfalt von Positionen und Interessenslagen, die Einschätzung von Meinungsklimata im Netz, die Auswirkungen von Hate Speech, die Beurteilung von (digitalen) Medienmonopolen und deren Konsequenzen für die Demokratie sowie Regulierungsbedarfe digitaler Transformationsprozesse nähergebracht werden (vgl. BAG Online 2022, S. 5; Bröckling 2022, S. 79).
2.5 Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit fördern
Im Kern geht es bei der kritisch-reflexiven Auseinandersetzung mit politischen Themen rund um die Netzkommunikation darum, Entscheidungen treffen zu können und danach verantwortungsvoll zu handeln (Bröckling 2020b, S. 231). Die sozial verantwortliche und medienökonomisch kritische Beteiligung durch Mediengestaltung und die Befähigung zu konstruktiver und lösungsorientierter Kommunikation sind dabei unumgänglich (BAG Online 2022, S. 5). Das kann auch die Vermeidung bestimmter Kommunikationskanäle oder -techniken umfassen. Die medienpädagogische Praxis muss die Potentiale und Möglichkeiten politischen Handelns in und mit Medien und digitalen Systemen sichtbar machen. Sie muss das Bewusstsein dafür fördern und Gelegenheitsstrukturen und mediale und außermediale Resonanzräume bieten, um mit politischen Akteur*innen zusammenzukommen, Selbstwirksamkeit zu erfahren und idealerweise an Entscheidungen mitwirken zu können. Das stärkt die Fähigkeit und Motivation, politisch zu handeln, die eigene Meinung zu vertreten und sich zu engagieren, fördert also das Demokratieverständnis. Mit der Zukunftsszenarien-Methode, in der sich Kinder und Jugendliche mit der Gesellschaft der Gegenwart beschäftigen, um davon ausgehend Ideen für eine zukünftige Gestaltung zu entwickeln, kann beispielsweise spielerisch politische Handlungsmotivation gestärkt werden.
2.6 Meinungsbildung stärken
Durch die Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Themen in Gruppenarbeit und die Aufarbeitung von Themen im Rahmen kreativer Medienarbeit, können Kinder und Jugendliche eigene Lebensbezüge zu gesellschaftlichen und politischen Themen entdecken, sich dazu in Beziehung setzen und so in der Meinungsbildung unterstützt werden. Dabei müssen der Respekt für Meinungsfreiheit und Meinungspluralismus und die Kenntnis von gesellschaftlichen Machtverhältnissen wesentliche Rollen spielen (vgl. BAG Online 2022, S. 4). Es gilt, die Informationsquellen und Kommunikationskanäle, die Kinder und Jugendliche zur Meinungsbildung nutzen, klassische Massenmedien und Nachrichtenportale aber auch Influencer*innen, ernst zu nehmen und mit ihnen zu arbeiten. Gerade wenn abstrakte politische Themen behandelt werden, bietet es sich zudem an, die subjektiven Erfahrungen, Perspektiven und Interessen der Beteiligten als Ausgangspunkt zu nehmen und in Bezug zu größeren politischen Phänomenen zu setzen. Die themenzentrierte Medienarbeit ist dazu besonders geeignet, weil die Teilnehmenden eigene Themen mitbringen und reflektieren. Um sich eine eigene Meinung zu bestimmten Fragen oder Themen zu bilden, ist der niedrigschwellige Barometer-Ansatz, bei dem sich Teilnehmende auf einer Skala zwischen zwei Polen, z.B. gerecht/ungerecht positionieren, besonders geeignet. Zudem können (digitale) Tools, Planspiele und Rollenspiele eingesetzt werden, die Kindern und Jugendlichen Perspektivwechsel und Meinungspluralität anschaulich machen.
2.7 Artikulations- und Dialogfähigkeit stärken
Weil Social Media nicht mit participatory media (Knight/Gandomi 2010) gleichzusetzen ist, führt die Kommunikation aller mit allen eben nicht automatisch zu mehr Teilhabe und Demokratie. Sie bietet aber Möglichkeiten, die eigenen Ansichten öffentlich zu artikulieren, insbesondere für marginalisierte Gruppen. Das kann durch klassische Aktive Medienarbeit und Digital Storytelling über Video, Audio, Bild, Text, Social Media oder journalistisches Arbeiten geschehen, passiert aber auch, indem Beteiligungsprozesse durch Minecraft oder neue, zeitgemäße und innovative Möglichkeiten für Gegenöffentlichkeiten über Making, Virtual Reality und Coding erprobt, angewandt und reflektiert werden. In Social Media Workshops kann darüber hinaus kritisch reflektiert werden, welche Strategien Akteur*innen nutzen, um Reichweiten zu generieren usw. Neben klassischen Medienproduktionstechniken müssen dafür heute also auch die Kommunikation und Distribution in Social Media, sowie das Programmieren als Kulturtechnik vermittelt werden. Im Fokus aber sollten stets die Artikulation stehen und die Potentiale, die vernetzte Medien bieten, um sich eine Stimme zu verschaffen (vgl. Bröckling 2022, S. 80f.).
3. Medienpädagogik für alle? Zwischen Bildungsanspruch und Lebensweltnähe
Wenn Kinder und Jugendliche befähigt werden, sich eine Meinung zu bilden und diese in den Diskurs zu stellen, müssen sie auch befähigt werden, das eigene Handeln zu verantworten, vom Like in Social Media bis zur politischen Kampagne oder politischem Aktivismus. Der Grad der Verantwortungsübernahme ist dabei geprägt durch sozial-moralische oder ethische Orientierungen, die Medienpädagogik berücksichtigen muss (vgl. Herzig/Tulodziecki 2001, S. 14f.). Eine medienpädagogische Perspektive Politischer Bildung zielt damit auf die analytische Fähigkeit, gesellschaftliche Prozesse erfassen und dieses analytische Wissen auf sich selbst, das eigene Verhalten und Handeln beziehen zu können. Bei dem damit verbundenen hohen Anspruch an die Bildungsarbeit besteht die besondere Herausforderung darin, zugleich kritisch-reflexiv und zielgruppensensibel, erfahrungs- und lebensweltorientiert zu arbeiten und sozialer Ungleichheit und Bildungsbenachteiligung entgegenzuwirken, statt sie durch unangemessene Bildungsangebote zu reproduzieren. So ist die Chance von medienpädagogischen Bildungsangeboten zu profitieren, gegenwärtig ganz klar ungleich zwischen privilegierten und weniger privilegierten Kindern und Jugendlichen verteilt. Kinder und Jugendliche aus bildungsmäßig, sozioökonomisch, sozial und kulturell benachteiligenden Verhältnissen nehmen von sich aus nur selten an medienpädagogischen Angeboten teil, obwohl es zahlreiche Förderprogramme gibt, diese Kinder und Jugendlichen adäquat zu erreichen. Gründe dafür liegen im Bildungsverständnis und Habitus der pädagogischen Fachkräfte und ihrer Disziplinen sowie in den Rahmenbedingungen medienpädagogischer Angebote.
3.1 Bildungsverständnis und Habitus
Das eigene Bildungsverständnis und die Normativität im Medienkompetenzverständnis einer kritisch-reflexiven Medienpädagogik spielt eine ebenso zentrale Rolle bei der Reproduktion sozialer Ungleichheit, wie die normative Verengung des Medienkompetenzbegriffs auf ökonomische Interessen, Ausbildungs- und Berufsfähigkeit oder technische Fertigkeiten. So sind kritisch-reflexive Angebote zwar nicht an Verwertungslogiken aber an gesellschaftliche Anforderungen und ein Bildungsverständnis geknüpft, welches für Kinder und Jugendliche aus sozial und kulturell benachteiligenden Strukturen wenig anschlussfähig erscheint. Angebote sind oft nicht an deren Mediennutzungsverhalten und den Vorstellungen eines angemessenen Medienumgangs ihres Umfeldes orientiert (vgl. Kutscher et al. 2009, S. 50).
Nicht zuletzt sind die implizierten Vorstellungen von Wissensaneignung und Informiertheit nicht der Vielfältigkeit von Bildungszugängen und Perspektiven angemessen und unterschiedliche lebenslagenbezogene Ressourcen (ökonomisches, soziales und kulturelles Kapital) werden nicht angemessen berücksichtigt (vgl. Schäfer/Lojewski 2007, S. 88f.; Bonfadelli 2005, S. 10; Niesyto 2008, S. 14f.). Zudem fehlt oft habituell bedingt eine Kultur positiver Anerkennung von (Selbst-)Bildung und Eigenverantwortlichkeit bei den Adressat*innen (vgl. Krüger 2008, S. 4). Der größere Teil medienpädagogischer Projekte wird wohl auch deshalb eher mit Kindern und Jugendlichen mit höherem sozialem, kulturellem und ökonomischem Kapital durchgeführt. Hier erscheinen Ergebnisse und Produkte aufgrund eines gemeinsamen Bildungsverständnisses und eines ausgeprägteren Leistungsverständnisses erfolgversprechender und zufriedenstellender für die Pädagog*innen (vgl. Niesyto 2000, S. 9; Bröckling 2020a, S. 35).
3.2 Pädagogische Haltung und Rahmenbedingungen
Die medienpädagogische Praxis ist in weiten Teilen durch eine eingeschränkte Erfahrungs- und Lebensweltorientierung, durch falsche Erwartungen, eine unzureichende Wahrnehmung und Akzeptanz der Handlungspraxen von Kindern und Jugendlichen aus sozial und kulturell benachteiligenden Strukturen und eine unzureichende Perspektivenübernahme der Fachkräfte gekennzeichnet (vgl. Welling/Brüggemann 2004; Kutscher et al. 2009, S. 54). Nicht zuletzt steckt die Medienpädagogik in einem Dilemma: Wenn medienpädagogische Angebote stärker am Habitus der Adressat*innen orientiert sind, kann kulturelles Kapital lediglich in den vom Habitus bedingten Grenzen angeeignet werden. Um die Reproduktionsmechanismen sozialer Ungleichheit abzuschwächen, müssten Angebote allerdings auf die Perspektivenerweiterung und Vielfalt der Möglichkeiten außerhalb des eigenen Habitus zielen und damit stärker am Habitus der Mittelschicht orientiert sein (vgl. Biermann 2009, S. 15f.; Biermann 2013, S. 10). Um das Dilemma aufzulösen, müssen differenzierte und zielgruppenspezifische Bildungszugänge und -prozesse gestaltet werden. Dazu braucht es eine flächendeckende Qualifizierung (medien)pädagogischer Fachkräfte in gesellschaftskritischen und zielgruppenspezifischen Ansätzen an der Schnittstelle von Sozialer Arbeit, Kultureller Bildung und Medienpädagogik (vgl. Bröckling 2020a).
3.3 Zielgruppenadäquate Formate und Settings
Formale Bildungssettings sind oft zu einseitig auf kognitive und planerische Arbeitsweisen zugeschnitten und bieten zu wenig Chancen für eine handlungsorientierte Arbeit und offene, prozessorientierte Formate. In der Offenen Kinder- und Jugendarbeit und Jugend(Sozial)Arbeit fehlt es dagegen häufig an finanziellen, zeitlichen und kompetenz-bezogenen Ressourcen für langfristig angelegte, curricular geprägte und regelmäßige Angebote, die zudem eine hohe Selbstverpflichtung und Verlässlichkeit erfordern, was oft eine zu große Herausforderung für die Adressat*innen darstellt (vgl. Niesyto 2000, S. 9).
Um Kinder und Jugendliche aus sozial und kulturell benachteiligenden Strukturen nachhaltig zu erreichen, scheinen die persönliche (und gezielte) Ansprache durch vertraute Personen und Institutionen im Sozialraum und die aufsuchende Medienarbeit im Sozialraum bzw. in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit erfolgversprechend. Zwar haben Kinder und Jugendliche in offenen Settings häufig wenig Interesse daran, an (medien-)pädagogischen Angeboten teilzunehmen, weil das gemeinsame Abhängen, die Freizeitgestaltung und das Bearbeiten von Entwicklungsaufgaben – völlig zu Recht – im Vordergrund stehen (vgl. Erdmann 2024, S. 68f.). Setzen Angebote allerdings im Sinne einer situativen Medienkompetenzförderung in offenen Settings an der Lebenswelt der Adressat*innen an, um situativ lebensweltliche Inhalte im Austausch aufzugreifen und auf der Basis professioneller Wissensbestände mit medienpädagogischen Themen zu verknüpfen (vgl. Erdmann 2024, S. 69f.), ermöglicht dies den Einstieg in eine zielgruppensensible, erfahrungs- und lebensweltorientierte medienpädagogische Arbeit (vgl. Niesyto 2000, S. 10).
Eine kooperative kritisch-reflexive Medienpädagogik für alle braucht situative Ansätze, flexible Rahmenbedingungen, Zeit für Beziehungsarbeit und gemeinsame Entwicklung (vgl. Niesyto 2007, S. 169), sowie viel Kommunikation, Zeit und Raum zum Ausprobieren. Ein zentraler Ansatz scheint hier die Verbindung aus Medienpädagogik und Streetwork. Beide Handlungsfelder bieten durch niedrigschwellige Zugänge sowie ein offenes und lebensweltnahes Setting große Potenziale und können direkt an zweckfreie Aktivitäten und lebensweltnahe Themen von Kindern und Jugendlichen anknüpfen und um diese herum niedrigschwellige medienpädagogische Projekte entwickeln (vgl. Erdmann 2024, S. 73f.).
Im Sinne der kontextuellen Steuerung des Medienhandelns könnte eine kritisch-reflexive Politische (Medien)Bildung ebenfalls situativ ansetzen. Auf Basis fallbezogener Aufgaben, Probleme oder Projekte und der aufmerksamen Beobachtung und zurückhaltenden Begleitung des Medienhandelns der Kinder und Jugendlichen, könnten weitergehende kritisch-reflexive Bildungsprozesse initiiert werden (vgl. Spanhel 2021, S. 266 und 273). Für ein situatives Vorgehen ist statt spezifischer Expertise allerdings ein breites Wissen über unterschiedliche medienpädagogische Themenfelder erforderlich, um situativ auf die Anforderungen der Adressat*innen angemessen eingehen zu können. Das stellt Fachkräfte vor große Herausforderungen und bedarf einer umfassenden Aus-, Fort- und Weiterbildung sowie Vernetzung verschiedener Bildungsbereiche. Schließlich müssen auch Auftraggeber*innen und Förderer*innen den Wert situativer Medienkompetenzförderung erkennen, damit sie die Rahmenbedingungen und den entsprechenden Freiraum ermöglichen können.
3.4 Zielgruppensensible Konzepte und Inhalte
Neben den Formaten sind es die Konzepte und Inhalte, die Kinder und Jugendliche aus bildungsmäßig, sozial und kulturell benachteiligenden Verhältnissen immer wieder aus medienpädagogischen Angeboten ausschließen und soziale Ungleichheit reproduzieren. Für eine stark produktorientierte Medienarbeit beispielsweise können und wollen viele Kinder und Jugendliche die damit einhergehende thematische, zeitliche und personelle Bindung nicht eingehen. Produktorientierte Projekte verlangen zudem oft kognitive Leistungen und theoretisch-planerische Vorgehensweisen statt ästhetischer Herangehensweisen, die für viele Kinder und Jugendliche viel naheliegender wären. Mit einer einseitigen Präferenz für kognitiv-planerische Arbeitsformen wird zudem das Zusammenspiel von wort- und schriftsprachlichen, bildhaften und multimedialen Ausdrucks- und Kommunikationsformen nicht in eine angemessene Balance gebracht (vgl. Niesyto 2004, S. 130; Niesyto 2000, S. 13). Die Diskrepanz zwischen Prozess- und Produktorientierung spiegelt auch eine Diskrepanz der Erwartungen von pädagogischen Fachkräften und ihren Adressat*innen wider (vgl. Welling/Brüggemann 2004, S. 46f.; Niesyto 2000, S. 9ff.; Kutscher et al. 2009, S. 54). Und nicht zuletzt stehen Themen im Mittelpunkt der Bildungsangebote, die nicht aus der Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen kommen. So müsste im Kontext der Auseinandersetzung mit demokratischen Aushandlungsstrukturen nicht der amerikanische Wahlkampf, sondern der Beef zwischen zwei Influencer*innen im Fokus stehen. Beispiele für einen undemokratischen Umgang miteinander, für Hass und Hetze, finden sich ja leider nicht nur in globalen Zusammenhängen, sondern im direkten Umfeld der Adressat*innen. Hier muss eine kritisch-reflexive Medienkompetenzförderung ansetzen. Welche Themen das sind, können die Kinder und Jugendlichen am besten selbst beantworten.