Kommunikation ohne konventionelle Zeichen? Zur Pragmatik experimenteller Gruppenimprovisation
Abstract
Eine vielversprechende Praxis Kultureller Bildung ist die Improvisation, die als Freie Improvisation anzusehen ist, wenn sie konsequent auf das Aufstellen stilistischer Regeln verzichtet und insoweit eine voraussetzungslose Teilnahme von Schülerinnen und Schülern zulässt. Diese Praxis wirft Fragen auf, die das kommunikative Handeln der Improvisierenden betreffen. Experimentelle Improvisation ist durch radikalen Verzicht auf konventionelle Elemente gekennzeichnet. Wie ist dann eine Verständigung innerhalb der Gruppe und mit dem Publikum möglich? Diese Frage zielt auf die Bedingungen der „Wahrnehmungssemiose“ (Umberto Eco), den Prozess der Zeichenbildung, bevor ein konventioneller Zeichenvorrat bereitsteht, und hier auf die Pragmatik, nämlich auf die Kooperationsbedingungen der improvisatorischen Kommunikation.
Am Beispiel einer experimentellen Improvisation des Ensembles Sarotti Instant wird dargestellt, wie ein solches Verständnis von Kooperationen der Improvisation zugrunde liegen und wie die Improvisierenden und ihr Publikum damit aufeinander eingestimmt werden können. Um die „Freiheit und Offenheit“ (Alessandro Bertinetto/Georg W. Bertram) improvisatorischen Handelns und Hörens nachzuvollziehen, könnte – so das abschließende Fazit – ein fluider Zeichenbegriff helfen, der die Bedingungen der Zeichenbildung in den Vordergrund stellt und damit Umdeutung, Neuabgrenzung, Neubestimmung zulässt.
Wie ist es möglich, dass man mit etwas Überraschendem konfrontiert wird, so dass dem intentionalen Handeln und Verstehen in unvorhergesehenen Kontexten eine Neuorientierung abverlangt wird? Die Antwort, die die Philosophen Alessandro Bertinetto und Georg Bertram geben, läuft auf eine alternative Erklärung dessen hinaus, wie sich Rationalität in der Welt realisiert: „an essential feature of human rational practice is its openness for practical–reflective reactions to unexpectedness and freedom, which, in turn, are not simply ‘externally’ presupposed givens, but are ‘internally’ generated by our practices.” Wenn Bertinetto und Bertram menschliche Praktiken als improvisatorisch verstehen, interpretieren sie Offenheit und Freiheit als etwas, das realisiert wird, und nicht als etwas, das im Voraus als Handlungs- oder Deutungsspielraum gegeben ist. (Bertinetto/Bertram 2020:218)
Was hat der so umrissene Begriff des Improvisierens für Rückwirkungen auf das Verständnis musikalischer Improvisationen? Nicht gemeint ist offensichtlich ein aleatorisches Konzept, bei dem ein Set von musikalischen Elementen fertig vorliegt, die im musikalischen Augenblick lediglich frei zu kombinieren wären. Dies ist auch nicht der systematische Ort, wo mit einem Verweis auf die Konstruktion der Wirklichkeit Offenheit und Freiheit im Auge des Betrachters von je gegeben sind. Musik inszeniert ein Zusammenwirken, das eine gemeinsame Bezugnahme der Mitspielenden wie auch der Zuhörenden auf musikalische Ereignisse und Gestaltungsprozesse voraussetzt – wenn auch die Bezugnahme für alle an der musikalischen Produktion und Rezeption Beteiligten nicht in gleicher Weise erfolgt. Es sollte geklärt werden, welche impliziten Voraussetzungen hierbei eine Rolle spielen. Das ist auch von Interesse, da Improvisation als eine Praxis Kultureller Bildung eingesetzt wird.
Wenn wir versuchen, die Bezugnahme als Verstehen zu begreifen, werden wir methodisch auf die Semiotik verwiesen. Im Folgenden wird Freie Improvisation als Beispiel gewählt, in der Annahme, dass die hierbei sich besonders offensichtlich aufdrängenden Fragen und Probleme auch für andere Musik Relevanz entfalten könnten. „Die Bezeichnung ‚Freie Improvisation‘ bedeutet dabei keineswegs, dass jeder oder jede tun kann, was er oder sie will. Der Begriff ‚frei ’heißt lediglich: frei von verbindlichen stilistischen Vorgaben […] Vielmehr liegt das musikalische Material frei verfügbar allen Interessierten offen zugänglich vor: der Klang an sich, jeder Klang, jedes Geräusch, alles was klingt, sofern ich es als Spieler als ‚passend‘ erachte.“ (Schwabe 2013:7f.)
Zeichenbildungsprozesse in der Musik?
Inwieweit die Zeichenlehre Semiotik einen Beitrag zum Verständnis von (improvisierter) Musik leistet, ist umstritten (Kaden 1998). Ein fester, kulturell vorgegebener Zeichenvorrat wird nur einen geringen Teil der Musik erfassen, die ja mit den Worten Christian Grünys eine „Kunst des Übergangs“
Der Semiotiker Umberto Eco beschäftigt sich in seinem Buch Kant und das Schnabeltier mit der Frage, wie ein unbekannter Gegenstand bezeichnet werden kann, beispielsweise wie Azteken die ersten Pferde wahrnahmen und darüber sprachen (Eco 2000:151 ff). Eco beschreibt die „Wahrnehmungssemiose“ so, dass sich in einem ersten Stadium jeweils individuell ein „kognitiver Typus“ (ebd.:154 ff) herausbildet, der Wahrnehmungen von Aussehen, Bewegungsabläufen, Klang, Geruch, Haptik zusammenfasst. Der Kognitive Typ wird allmählich mit weiteren Beobachtungen angereichert und ist so eine Voraussetzung für Wiedererkennen und Bezugnehmen. Man könnte von ‚Protozeichen‘ sprechen.
Aber beim Kognitiven Typ sind wir noch nicht, wenn wir Improvisationen vor uns haben, die uns abverlangen, „Alltagswahrnehmung und musikalisches Hören“ (Utz 2013:77) in Beziehung zu setzen. Eine weitere Voraussetzung dafür ist ein Framing, eine Rahmung in der Kommunikationssituation, die uns veranlasst, intentionales musikalisches Handeln zu unterstellen und unsere Aufmerksamkeit darauf zu lenken. Je weniger vertraute Elemente vorkommen, desto wichtiger wird die Erschließung der Vorgänge aus dem situativen Kontext. In der Einteilung der Semiotik in Syntax, Semantik und Pragmatik geht es also um Pragmatik. Dazu möchte ich ein Beispiel aus dem Berliner Exploratorium anführen.
Beispiel aus der freien Improvisation
Das Publikum erwartet das Ensemble Sarotti Instant. Die Tür öffnet sich, herein treten sechs Personen. Sie haben leere Plastikflaschen dabei. Eine wirft die Flasche geräuschvoll auf den harten Boden. Dem Nächsten fallen gleich mehrere aus der Hand, zwei entleeren einen Korb voll Flaschen. Nun bücken sich die Neuankömmlinge, die untereinander keinen Blickkontakt aufgenommen haben, stellen stumm die Flaschen auf, lassen sie dabei wenige Zentimeter über dem Boden los. Meistens federn die Flaschen ein wenig, ehe sie zum Stehen kommen, manche fallen erneut um.
Das Publikum, das zu einer freien Improvisation kommt und sicher schon manches erlebt hat, beobachtet einerseits etwas Alltägliches. Wem wäre noch nie eine leere Plastikflasche auf den Boden gefallen? Aber gehört das auf die Improvisationsbühne? Soll man schnell beim Aufräumen helfen, damit die Musik beginnen kann? Soll man die Neuankömmlinge zur Ruhe rufen, damit nichts das Konzert stört, das doch gleich beginnen soll?
In dieser Situation weisen unausgesprochene Regeln dem Publikum einen Platz und eine Rolle des stummen Zuschauens und Zuhörens an, was auch immer geschieht. Zu den Regeln gehört, dass nicht gesprochen wird, weder vom Publikum noch von den musikalisch Handelnden. Nach den augenfälligen Aktionen halten auch diese sich zurück, bewegen sich leise und unauffällig. Die Aufmerksamkeit richtet sich auf das Hörbare, nicht das Sichtbare.
Inzwischen sind nur wenige Minuten vergangen. Aber die Zeit genügte, um neue Klänge einzuführen, die Grenze von Alltag und Konzert verschwimmen zu lassen und damit doch auch wieder zu markieren. Es war nicht das Konzertritual, mit dem alles begann: Auftritt des Ensembles, Beifall, Verneigung, Einnehmen der Plätze, Moment der Stille, ehe die Musik anhebt. Lärmend, unfeierlich, ungeschickt Flaschen fallen lassend kamen sie herein. Dem Publikum verlangte die Szene eine Neuorientierung in der Situation ab, um das Geräusch der Flasche auf dem harten Boden als Beginn der musikalischen Darbietung zu deuten.
Ist diese Deutung erst vollzogen, nehmen die Geräusche eine neue Bedeutung an. Sie strukturieren Formverläufe, einen überwölbenden Spannungsbogen, der durch Lautstärke und Ereignisdichte Konturen gewinnt, dann aber mehr und mehr kleinste Binnenstrukturen rhythmisch-melodischer Art erkennen lässt. Die Rhythmik mit ihrer dicht prasselnden Folge differenziert sich allmählich aus. Das Ohr nimmt wahr, dass ein Ton in schnellem Rhythmus mehrfach auf einen vorangegangenen Bezug nimmt. Es kommt zu Gestaltbildungen. Währenddessen verringert sich die Ereignisdichte. Die Aufmerksamkeit wird in die Stille geführt.
So ungewohnt es ist, was in der Improvisation geschieht, es entzieht sich nicht vollständig der Verbalisierung. Aber der Hörer wird dabei auf elementare Formen der Wahrnehmung verwiesen: laut oder leise, dichter oder weniger dicht, crescendo und decrescendo bis zur fast völligen Stille, in die ein neues Instrument mit einem hohen Ton dringt.
Doch da ist es auch eine Selbstbegegnung mit dem Hören. War dem Publikum schon bewusst, dass jede leere Plastikflasche beim Fallen einen eigenen Ton von sich gibt? Erlebt es, wie aus Abfall Klangerzeuger erwachsen? Und beobachtet es an sich selbst, wie Töne gleicher Höhe als eine Ereigniskette wahrgenommen werden und daher eine Vielzahl von einander überlagernden Rhythmen zu entstehen scheinen?
Im glücklichsten Fall tritt die Frage: „ist das Musik?“ in den Hintergrund – ganz im Sinne der Überlegungen von Christian Höppner: „Frei von gesellschaftlicher oder individueller Bewertung lässt die Definition des organisierten Schalls – des „son organisé“ (Varèse 1983:106) Raum für jede erdenkliche Form des menschlichen Selbstausdrucks durch Klänge. Die Eröffnung dieser Form des Ausdrucks-, das Erlebbar-Machen von Klangerfahrungen und deren Verknüpfung mit den jeweils individuellen Lernerfahrungen stehen im Mittelpunkt der musikalischen Bildung.“ (Höppner 2013/2012)
Zur Pragmatik der Bezugnahme
Stellen wir uns das Bewusstsein als Knotenpunkt der unterschiedlichsten Wahrnehmungen vor, die verschiedenen Kontexten zugerechnet werden. Diese Vorstellung ist offen für alles, was wahrnehmbar geschieht, bleibt zugleich offen für Korrekturen, sollte sich eine Zuschreibung als fehlerhaft erweisen.
Das Publikum erlebt nicht zum ersten Mal ein Konzert. Es hätte Auftritt, Beifall, Verbeugung dem Konzertrahmen zugerechnet. Ein juckender Mückenstich und der Impuls, sich zu kratzen, wäre in diesem Rahmen zu ignorieren. Das rote Gesicht eines Musikers mag etwas über dessen momentane Verfassung oder Aufregung aussagen, doch auch diese wären – hoffentlich – nicht Gegenstand des Konzerts.
Wer seine Wahrnehmung auf die Musik lenkt, macht eine Unterscheidung, die man mit der „ikonischen Differenz“ vergleichen kann. In dem Prozess, die Grenze eines Bildes zu bestimmen, bildet sich eine Differenz zwischen dem Gegenstand der ästhetischen Wahrnehmung und seiner Umgebung. Christian Grüny (2014:36–38) hat den Begriff von Gottfried Boehm auf die Musik übertragen. Er beschreibt diesen Prozess der Abgrenzung zwischen musikalischen und außermusikalischen Hörereignissen weit differenzierter, als ich das in diesem Kontext tue.
Einfach auszublenden, was nicht zur Improvisation gehört, funktioniert nicht. Denn das ist ja erst herauszufinden. So nimmt man alles wahr und ordnet die Wahrnehmungen verschiedenen Sinnbereichen zu. Das leibliche Befinden, eine Beobachtung von Bewegungen im Publikum, die Rituale des Konzertbetriebs, das Erscheinungsbild der Musikerinnen und Musiker, die akustische Umgebung – das alles bleibt möglicherweise bewusst und mag gelegentlich (Stichwort: Gänsehaut) sogar ins Zentrum des Erlebens rücken, wird aber vermutlich außermusikalischen Sinnbereichen zugerechnet. Sicher ist das allerdings nicht, die Grenzen der improvisatorischen Performance ergeben sich erst in ihrem Verlauf, wenn erkennbar wird, was improvisatorisch aufgegriffen, verarbeitet, gestaltet wird. Die Frage ist also, was aus der Fülle der situativen Wahrnehmungen steht mit dem intentionalen musikalischen Handeln in Verbindung?
H. Paul Grice
Das ist auch für Überlegungen zur Freien Gruppenimprovisation von Interesse. Denn Kooperationsprinzipien wirken hier ebenfalls, wenn Matthias Schwabe schreibt: „Was folgt sinnvoller Weise aufeinander? Stimmiges und nicht Stimmiges lässt sich voneinander unterscheiden, durch praktisches Erproben entwickelt sich eine Art ‚musikalisches Sprachgefühl‘ und ein Gespür für musikalische Dramaturgie. Improvisieren lernen heißt in der Freien Improvisation eben gerade nicht ‚Alles ist möglich!‘, sondern vielmehr ‚Versuche wahrzunehmen, was jetzt sinnvoll wäre!‘“. (Schwabe 2013, S. 8) Was da „sinnvoll“ werden soll, ist offenbar nicht voraussetzunslos. Nur eben nicht auf der Ebene von gleichsam grammatischen Regeln. Hier hilft der Blick auf Grice’s Vorschläge. Grice sortiert die Maximen in Anlehnung an die Kantschen Kategorien. Zurückhaltend führte er die Systematik mit den Worten ein: „Unter der Annahme, daß [sic] irgend ein allgemeines Prinzip wie dies [i.e. Kooperationsprinzip] akzeptabel ist, kann man vielleicht vier Kategorien unterscheiden“ (Grice 1975/1979: 249). Es geht also nicht um einen starren Katalog von Regeln; die Maximen führen vor Augen, unter welchen Bedingungen in der Kommunikation eine Kooperation erfolgreich sein kann. Ich möchte im Folgenden versuchen, die Maximen auf musikalische Prozesse zu übertragen.
Konversationsmaximen
Quantität.
1. Mache deinen Beitrag so informativ wie (für die gegebenen Gesprächszwecke) nötig.
2. Mache deinen Beitrag nicht informativer als nötig (ebd.:248).
Hätten Zuhörende bei der ersten fallenden Flasche an ein Versehen denken können, weil sie ihre Aufmerksamkeit auf die relevanten musikalischen Ereignisse lenken, würden sie das Geräusch wahrnehmen, aber nicht der musikalischen Vorstellung zurechnen. Das ändert sich binnen weniger Augenblicke. So viele Flaschen fallen nicht versehentlich. Mit intentionalem Handeln konfrontiert, müssen sich die Hörenden umorientieren. Hier nun kann die „ikonische Differenz“ einsetzen, die Unterscheidung zwischen Musik und Stille bzw. nicht zur Musik gehörigen Geräuschen und bald darauf die Unterscheidung zwischen einer Stille, die zur Musik gehört und einer Stille, die das Ende der Musik bedeuten wird. (Das ist einer der Fälle, wo mit dem Nachlassen der Körperspannung ein darstellerisches Element konstitutiv für die musikalische Form wird.)
Die Maximen funktionieren, weil sie auch die Improvisierenden binden. Sie ermöglichen es, dass Menschen, die noch nie zusammengespielt haben, gemeinsam in einem Konzert auftreten.
Es geht nicht an, dass jemand aus dem Ensemble einfach dabeisitzt und nur hin und wieder einen Klang beisteuert oder – im umgekehrten Fall – alles mit seiner musikalischen Omnipräsenz dominiert.
Wie steht es um die Ausgeglichenheit und Homogenität der Ereignisdichte und den Klangfarbenwechsel? Wie viel Abwechslung ist notwendig? Wie viel Redundanz? Stellen wir uns einen Spieler vor, der ständig ein neues Instrument einsetzt, oder eine, die immer das Gleiche spielt. Irgendwann kippt die Verständnisbereitschaft um, und es entsteht der Eindruck, da wolle jemand gar nicht kooperieren – oder mindestens nicht ernsthaft.
Man kann – auch im gemeinsamen Spielen mit Jugendlichen – klären, wie die verschiedenen klanglichen Elemente ausbalanciert werden sollen. Dafür gibt es kein richtiges oder falsches Maß, aber mit jeder Einigung ergeben sich unterschiedliche Klänge und Klangentwicklungen. Und vielfach wird es einer verbalen Erörterung nicht bedürfen, weil es sich in musikalischen Gruppenprozessen klärt.
Qualität
1. Sage nichts, was du für falsch hältst.
2. Sage nichts, wofür dir angemessene Gründe fehlen (ebd.:249).
Es geht nicht an, eine Komposition originalgetreu anzustimmen oder Tonleitern und Etüden zu spielen. So frei ist keine freie Improvisation.
Auch ohne Verabredung entsteht ein ästhetischer Handlungsraum, aus dem man sich nicht zu weit entfernt. Das betrifft die Verortung der Klänge im Spektrum von Tonalität, Dissonanz, Geräuschhaftigkeit. Welches Dissonanzniveau wird angestrebt? Ist beispielsweise ein Septakkord auflösungsbedürftig oder Grundelement der Harmonik (im Blues) oder Klischee (in der freien Improvisation)? In unserem Beispiel: was ist zu hören? In der ersten Phase allein die Geräusche der Flaschen. Man mag feststellen, dass ein starkes Crescendo folgt. Immer mehr und immer lauter werden die Geräusche. Zusätzlich bemerkt man, dass mit dem Geräusch jeder Flasche auch ein Klang in einer bestimmten Tonhöhe einhergeht. Das Fallen, Zurückfedern, Aufgestellt-Werden erzeugt eine rhythmische Polyphonie, eine dichte Folge von kurzen rhythmischen Strukturen, verbunden mit Tönen unterschiedlicher Höhe; immer nur wenige Flaschen klingen in der Höhe gleich. Das Ohr, das Verbindungen herstellt zwischen den Ereignissen gleicher Tonhöhe, nimmt nun immer verschiedene Rhythmen wahr, überlagert von anderen, die durch die jeweils eigene Tonhöhe kenntlich werden. Das Fallen beginnt mit einem Akzent, das Hochfedern wird immer schneller, das Zurückfallen leiser. Allmählich stehen die meisten Flaschen ruhig da, es wird stiller und stiller.
Relation:
1. Sei relevant (ebd.:249).
Welche Arten von Aktionen sind möglich, welche sind es nicht? Vielfach ist Sprechen tabu. Das betrifft strikt jede Form von Rückfragen: „Ach, fängst Du schon an?“ „Ist es das, was du meintest?“ Es geht auch nicht an, einem Gruppenmitglied alles nachzuspielen, oder aus dem Spiel auszusteigen, ein Buch zu lesen, ein Brot zu essen. Ein Verstoß dagegen müsste zuvor vereinbart sein. Am Abend des Tages, an dem dieser Vortrag gehalten wurde, stand eine experimentelle Improvisation unter der Vorgabe: „Überrasche deine Mitspieler*innen!“ Daraufhin kam es zu mehreren der hier benannten Tabubrüche: Verlassen der Gruppe, Walzerbegleitung u.a.m. Die Anweisung ist bemerkenswert; sollte das Überraschen nicht als Bestandteil jeder experimentellen Improvisation zu erwarten sein? Selbst das Überraschen folgt normalerweise erwartbaren Regeln.
Berühmt geworden ist eine Liste der Verbote von der Gruppe Nuova Consonanza: „keine Priorität eines einzelnen Spielers zulassen, keinen an das tonale System gebundenen Klang hervorbringen, keine rhythmische Periodik gestalten, keine einprägsamen Motive einfügen, keine genaue Wiederholung des Gewesenen ausführen. Der Katalog war auf alle Klischees erweiterbar, auch auf die der Avantgarde: keinen Jargon der Negativität bilden, […]“ (Frisius 1998:36)
Ab wann werden bekannte Elemente als Klischees angesehen? Eine Walzerbegleitung wäre wohl selbst dann sträflich, wenn sie ins Atonale verfremdet würde, auch ein Walking Bass findet sich kaum in freier Improvisation. Der Sprachstil von Improvisierenden kennt kein: „Das gehört sich nicht.“ Aber dennoch verhält es sich so. Wenn aber noch kaum eine freie Improvisation mit Holzblasinstrumenten auf das tonlose Geräusch der Klappen verzichtet, gilt das anscheinend noch nicht als Klischee.
Modalität:
1. Vermeide Dunkelheit des Ausdrucks.
2. Vermeide Mehrdeutigkeit.
3. Sei kurz (vermeide unnötige Weitschweifigkeit).
4. Der Reihe nach! (ebd.:250)
Hier ist der Abstand zwischen musikalischer Kommunikation und alltagssprachlicher Rede, wie Grice sie untersucht, am größten. Modalität in der Musik verfolgt eher eine gegenteilige Zielsetzung:
Mehrdeutigkeit ist kein Problem, sondern eine Qualität. Und Dunkelheit des Ausdrucks wie Permutationen und unterschiedliche Längen wären durchaus mögliche Modalitäten des Spielens. Entscheidend ist beispielsweise, welche Rollen in der Interaktion eingenommen werden. Varianten der Präsenz (solistisch, pausierend, unmittelbar reagierend, abwartend) können verschiedene Situationen schaffen.
Freie Improvisation und Kulturelle Bildung
Bezogen auf die Unterscheidung zwischen Ästhetischer Bildung und Kultureller Bildung, wie Vanessa-Isabelle Reinwand-Weiss sie darstellt, geht es bei Freier Improvisation zunächst um Ästhetische Bildung. Sie kann „auch an Gegenständen erfolgen, die als ästhetisch wahrgenommen werden und erst einmal nicht als Kunstwerk klassifiziert sind. Es können Objekte und Gegenstände sein, bei denen die Betrachtungsweise sich auf ästhetische Kriterien richtet. So kann jeder Alltagsgegenstand zu einem Gegenstand ästhetischer Erziehung und Bildung werden, wenn er unter diesen Gesichtspunkten betrachtet wird.“ (Reinwand-Weiß 2013/2012)
Die Annahme, Gruppenimprovisation als Folge intentionalen Handelns ansehen zu können, wird gerade bei experimenteller Musik absichtsvoll auf eine harte Probe gestellt. So kann die Kreativität experimenteller Kommunikation nur dann im Austausch mit dem Publikum funktionieren, wenn dieses das musikalische Geschehen ebenfalls kreativ aufgreift, aus der Kommunikationssituation heraus spontan kognitive Typen ausbildet, die zum Ausgangspunkt für semiotische Prozesse werden. Aus diesem Grund wird freie Improvisation in der Kulturellen Bildung mit der eigenen praktischen Erfahrung der Schülerinnen und Schüler beginnen und nicht mit einem Konzertbesuch.
Auch eine stilistische Festlegung erspart es den Ensemblemitgliedern nicht, aufmerksam auf die verschiedenen Klangereignisse zu hören und sich jeweils auf ihren Kontext zu beziehen. Mit den anderen in Kontakt zu bleiben heißt auch, klangliche Nähe und Entfernung abzugleichen. Improvisation ergibt Kontexte, die zur Kooperation einladen: Situationen, Prozesse, Gestalten, Gesten. Auf Seiten der Zuhörenden stellt sich die Kooperation unter anderem als Entwicklung kognitiver Typen dar, die eine vergleichende und entwickelnde Bezugnahme auf die musikalischen Prozesse ermöglichen.
Die Annahme, wahrgenommene Klänge und Ereignisse intentionalem Handeln zuschreiben zu können, schließt die Intention ein, Prozesse ungesteuert ablaufen zu lassen und Zufällen Raum zu geben. Intentionalität kann sich auf den Rahmen beziehen, in dem auch unbeabsichtigte Ereignisse Platz haben – allerdings nicht alle. Schon durch das Zusammentreffen mehrerer Persönlichkeiten ist Kontingenz für Improvisationen konstitutiv. Je weniger die Klänge per se einen bestimmten Zusammenhang erzeugen, desto offener ist die Reaktionsmöglichkeit. Musik steuert gleichzeitig unterschiedliche Parameter und lässt auf mehreren Ebenen Gestaltbildungen zu.
So bleibt die Improvisationserfahrung nicht bei der aisthesis als sinnlicher Wahrnehmung stehen. Sie umfasst soziale Erfahrungen, die sich aus der Wahrnehmung kommunikativer Prozesse ergeben, und sie nimmt Teil an Zeichenbildungsprozessen. Dabei zeichnet sich für die semiotischen Prozesse zweierlei ab:
- Am Anfang von Zeichenbildungsprozessen nehmen Kognitive Typen als (Proto-)Zeichen Bezug auf musikalische Formen statt auf außermusikalische Bedeutungen. Ferdinand de Saussure (Saussure 1931/1967:78) hatte das Lautbild und die Vorstellung mit Vorder- und Rückseite eines Blatts Papier verglichen (ebd.:134), aber musikalische Formen entwickeln ihre Bedeutungen zunächst in Beziehungen zu anderen Formen. Erst im weiteren Verlauf dieses Prozesses kommen außermusikalische Bedeutungsebenen ins Spiel, auch wenn es didaktisch hilfreich sein kann, außermusikalische Bilder einzuführen, wenn diese geeignet erscheinen, die Bezugnahme auf bestimmte musikalische Kontexte und Klangentwicklungen zu fokussieren.
- Ehe sich aber zeigt, in welcher Beziehung musikalische Formen jeweils zueinanderstehen, ist die Herausbildung musikalischer Zeichen potenziell einem Prozess der Umdeutung, Neuabgrenzung, Neubestimmung unterworfen. Ich hatte am Anfang davon gesprochen, dass zunächst nicht Zeichensysteme, sondern Zeichenbildungsprozesse zu beschreiben sind, möglicherweise mit einem fluiden Zeichenbegriff. Das kann auch die Offenheit und Freiheit erklären, die für Bertinetto und Bertram mit Improvisation verbunden sind.
“Thus, we maintain, understanding human practices as improvisational means interpreting openness and freedom as something that is realized, and not as something that is given in advance. […] In other words, human rational life is improvisatory because the conditions of the practice are won within and by the practice itself – freedom maybe being the most important of them.” (Bertinetto/Bertram 2020:218)