Das Klingen abseits urbaner Zentren: Wie Musikvereine ihre ländlichen Räume prägen und gestalten
Abstract
Ehrenamtlich geführte Musikvereine und ländliche Räume: Das scheint zusammen zu gehören. Die überwiegende Mehrzahl der Musikvereine der Bundesvereinigung Deutscher Musikverbände e.V. ist in Gemeinden unter 2.000 Einwohner*innen zu finden. Dort gestalten sie nicht nur kulturelle Bildungsangebote, sondern gehören zum Alltag und prägen auch das Leben der Menschen vor Ort. Dieser Artikel beschreibt ehrenamtlich geführte Musikvereine als Akteure in ländlichen Räumen und zeigt, wie sie dort kulturelle Bildungsangebote gestalten, benennt Zukunftsaufgaben und bietet Aussichten auf weitere Entwicklungen.
Musikvereine in Deutschland
In Deutschland sind 11.000 Musikvereine in der Bundesvereinigung Deutscher Musikverbände e.V., dem größten Dachverband der ehrenamtlich geführten Orchester, organisiert. Vereint sind 1,3 Mio. Musiker*innen in den Musikervereinen, davon sind etwa 350.000 Kinder und Jugendliche. Noch wesentlich mehr junge Menschen werden durch Schulkooperationen und andere Partnerschaften im Bereich der Kinder- und Jugendarbeit erreicht. Unter dem Dach der Bundesvereinigung Deutscher Musikverbände e.V. sind die Landesverbände der Blasmusik ebenso wie die Deutsche Bläserjugend vertreten. Zur Blasmusik zählen unter anderem Blaskapellen, Spielmannszüge, Fanfarenzüge, Showbands.
Die Dichte der Musikvereine ist innerhalb Deutschlands sehr verschieden. Sie nimmt von Südwesten nach Nordosten deutlich ab. Außerdem gibt es ein Stadt-Land-Gefälle. In den großen Städten sind kaum organisierte Musikvereine zu finden. In den Stadtstaaten Hamburg und Bremen existieren keine Landesverbände. Der Berliner Verband zählt zu den mitgliederschwächsten innerhalb des Bundesverbandes. Musikvereine sind eher ein Phänomen der kleinen Ortschaften, auch in den Verbänden der Flächenländer.
Die allgemein typischen Strukturen von Vereinen in den ländlichen Räumen prägen auch Musikvereine. Zu den wesentlichen Faktoren, die relativ gängig sind, gehören:
- die ehrenamtliche Tätigkeit auf der Leitungsebene – nur in Ausnahmen werden hauptamtliche musikalische Fachkräfte auf kommunaler Ebene bezahlt.
- die Dirigent*innen als Honorarkräfte – die zumeist im Rahmen der Übungsleiterpauschale honoriert werden.
Dies führt zu der Aufteilung, dass die Dirigent*innen nur die musikalischen Geschicke des Vereins verantworten, während der nichtmusikalische Teil der Vereinsarbeit ausschließlich in den Händen des Ehrenamts liegt. Die Suche nach Nachwuchs für das ehrenamtliche Engagement ist permanent präsent, weil nur so der Musikverein existent bleibt.
Diese Ehrenamtlichen arbeiten in aller Regel mit knappen finanziellen Ressourcen. Die Einnahmen setzen sich aus Auftrittshonoraren, Einnahmen aus eigenen Festen und natürlich den Mitgliedsbeiträgen zusammen. Die kommunalen Zuschüsse für Musikvereine sind in den letzten Jahren teils massiv zurückgegangen, wodurch die Orientierung auf Projektgelder, Sponsoring oder Fundraising zunimmt.
Musizieren ist ein teures Hobby: Die Ausbildung, Instrumente, Noten und Vereinskleidung, aber auch Probenräume und Lagermöglichkeiten kosten dem Verein und dessen Mitglieder viel Geld.
Die (musikalische) Vereinsarbeit orientiert sich vor allem auf Kinder und Jugendliche: Von der Nachwuchsgewinnung über die Ausgestaltung des Vereinsalltags bis hin zum Jahresprogramm. In einigen Musikvereinen bieten spezielle Jugend- oder Vororchester jungen Menschen den musikalischen Einstieg in das Musizieren und die Vereinsarbeit. In den letzten Jahren gründeten sich auch eigene Senior*innenorchester innerhalb der Vereine. Diese bilden jedoch eine Ausnahme.
Musikvereine sind ein Teil der Breitenkultur und die allermeisten Vereine sehen sich auch als Teil dessen. Zugleich haben sie einen musikalisch-pädagogischen Auftrag in Bezug auf die Nachwuchsförderung: Junge Musiker*innen können sich innerhalb des Systems der Bundesleistungsstufen – von D1 bis D3 – qualifizieren. Die Verbände des Blas- und Spielleutemusik bieten des Weiteren Qualifikationen zur Registerführung oder Ausbilder*in und Dirigent*in an. In den Strukturen der Deutschen Bläserjugend werden zudem Themen wie Gruppenarbeit oder die freie musikalische Arbeit im Jugendorchester vermittelt. Die jugendverbandliche Gruppenarbeit oder Aktionen wie Jugendcamps und Zeltlagern der Deutschen Bläserjugend eröffnen jungen Menschen zusätzlich Raum für Beteiligung. Für die Qualifizierung zur*m Gruppenleiter*innen wird in den Strukturen der Deutschen Bläserjugend der Erwerb der Jugendleiter*in-Card (JuleiCa) angeboten. So gelingt der Spagat zwischen der Orientierung auf die musikalische Bildung nach Lehrplänen und die pädagogische Gruppenarbeit, das die Musikvereine für ihre Arbeit vor Ort brauchen und schätzen.
Musikvereine in ländlichen Räumen
Ländliche Räume sind höchst unterschiedlich. Nicht alle ländlichen Räume tragen das Attribut „schrumpfende Region“. Viele Regionen können verlässliche, gewachsene Strukturen aufweisen.
Den Verantwortlichen in den Musikvereinen geht es nach eigenen Aussagen in aller Regel primär um das Ermöglichen der musikalischen Arbeit, weniger um die Betonung von Problemlagen, einer defizitorientierten Perspektive. Das Fehlen von Verkehrsmöglichkeiten oder der vermeintliche Mangel an Infrastruktur wird nicht, wie oftmals aus städtischer Perspektive, beklagt und kritisiert, sondern ist Teil der Rahmenbedingungen, in die die musikpädagogische Arbeit eingepasst wird.
Ein großes Thema für die Musikvereine ist besonders in den ländlichen Räumen der demografische Wandel, der sie vor Herausforderungen stellt. Dabei betrifft sie vor allem die deutliche Veränderung des Verhältnisses der Anzahl junger zur Anzahl älterer Menschen –denn gerade junge Menschen sind zentraler Fixpunkt für die Nachwuchsgewinnung – ebenso wie das Schrumpfen der Mittelschicht. Aus der Mittelschicht stammt das Gros der Mitglieder eines Musikverein (vgl. Berg:2010). Hinzu kommen die zeitaufwändigen Fahrtwege vieler Menschen in ländlichen Regionen, ob mit dem Schulbus oder dem eigenen Auto zur Arbeit.
Zugleich heben die Verantwortlichen die vielen positiven Seiten ihrer Regionen hervor. Sie beschreiben die enge Kommunikation als einen großen Vorteil: Man kennt sich und trifft sich regelmäßig oder ein kurzer Anruf genügt, um Themen zu besprechen oder einen Termin zu vereinbaren. Gewachsene Strukturen und eine Übersichtlichkeit auf Grund des kleineren Sozialraums werden als weitere Faktoren genannt. Die Perspektive, dass es „auf dem Land“ weniger cool sei als in der Stadt, teilen längst nicht so viele Menschen in den Musikvereinen wie Menschen mit städtischer Perspektive vielleicht meinen. Stattdessen werden die Freiheiten und Möglichkeitsräume gesehen, die für Musikvereine Herausforderung und Chance zugleich sind: Die kurzen Kommunikationswege und die Wertschätzung, die Musikvereine innerhalb der Gemeinde erhalten, offerieren einen guten Rahmen, um eigene Ideen vorzubringen und zu entwickeln. Gegeben sind einfache Zugänge zur Infrastruktur, zur Teilnahme an Festen oder die Möglichkeit eigene Räumlichkeiten zu bekommen. Diese Möglichkeitsräume schaffen eine Attraktivität, die Menschen zum Mitmachen animiert.
Wie Musikvereine arbeiten
Mit Blick auf die kultur- bzw. musikpädagogische Arbeit der Musikvereine in ländlichen Räumen lässt sich feststellen, dass sie konzeptionell nicht wesentlich anders arbeiten als das Musikvereine in urbanen Regionen tun. Musikalische Bildung in Musikvereinen versucht möglichst niedrigschwellig zu beginnen: Schnupperstunden in Schulen, Instrumentenkarussell, Bläserklassen an Schulen spielen dabei genauso eine Rolle wie die Elementare Musikpädagogik und die klassische Nachwuchsgewinnung über Familie, Freund*innen oder Bekannte.
Verschiedene, ausgereifte musikalische Konzepte wie in der Elementaren Musikpädagogik oder in der Bläserklassenarbeit ermöglichen eine individuelle, an die Gegebenheiten vor Ort angepasste musikpädagogische Arbeit. Zudem wird versucht, Kindern und Jugendlichen jeweils passende „Arenen“ für ihr Musikinstrumentelernen zur Verfügung zu stellen. Der idealtypische Werdegang könnte wie folgt aussehen: Elementare Musikpädagogik, Blockflötengruppe, Instrumentenkarussell, Einstieg ins Vororchester, Absolvieren der ersten Bundesleistungsstufen, Einstieg ins Hauptorchester. Die Alternative wäre ein musikalischer Zugang über die Bläserklasse. Jungen Musiker*innen kann somit eine langfristige Perspektive angeboten werden.
Festzuhalten ist, dass das Erlernen eines Instruments im Ensemble einen motivatorischen Gewinn darstellt. In der Peergroup ist das Musizieren spannender. Die jungen Musiker*innen können sich gegenseitig stützen. Die Musikvereine eröffnen diverse Möglichkeiten, eigene musikalische Zielsetzungen im Ensemble zu prüfen und über öffentliche Auftritte Erfolge sichtbar zu machen. Gerade die öffentliche Darbietung des Gelernten in der Gruppe stellt dabei einen hohen Wert dar. Allerdings unterscheiden sich die Ansätze kaum von den Musikvereinen in urbanen Räumen.
Konzeptionell spannend ist der Umgang mit den Gegebenheiten, um die vermeintlichen Vorteile in ländlichen Räumen für die eigene Arbeit zu nutzen oder den vermeintlichen Problemen zu begegnen. Der gefühlte ehrenamtliche – nicht unbedingt der finanzielle – Pro-Kopf-Aufwand kann dabei nicht als höher eingeschätzt werden als in urbanen Regionen. Er ist ein anderer: Während in urbanen Räumen z.B. die Sichtbarkeit, die Elternarbeit oder die Konkurrenz zu anderen (Bildungs-)Akteuren Ressourcen binden, sind es im ländlichen Raum die Fahrtwege, die Organisation von Ressourcen oder der demografische Wandel. Für den Umgang mit den Gegebenheiten ihres (ländlichen) Raumes entwickelten Musikvereine folgende Verfahren und passende „Werkzeuge“:
In ländlichen Räumen ist es völlig normal, ein Teil der engeren Vereinsarbeit zu sein, Fragestellungen mit Eigeninitiative zu lösen, in kleineren Zusammenhängen zu denken oder Zeitplanungen an die Ressourcen anzupassen. Diese Verhaltensweisen sind erlernt und werden bereits in jungen Jahren eingeübt. So ist die Mitgliedschaft im örtlichen Musikverein noch etwas Tradiertes. Für die Nachwuchsgewinnung setzen die Musikvereine auf den Familien- und Bekanntenkreis (vgl. Bundesvereinigung Deutscher Orchesterverbände:2010), auch wenn sich dies gerade ändert. Musikvereine sind für jüngere Menschen so etwas wie Selbstverständlichkeiten, mit denen sie aufwachsen. Im Musikverein werden nicht nur die Zugänge zur Musik, zur Kulturellen Bildung eingeübt, sondern auch die Zugänge zu ehrenamtlichem Engagement und den Selbstverständlichkeiten der Selbstorganisation.
Selbstorganisation beginnt damit, sich einen eigenen Raum für die musikalische Ausbildung anzueignen und diesen zu entwickeln. Das kann das ehemalige örtliche Schwimmbad sein, das durch die Vereinsmitglieder ausgestaltet und zum Probenraum umgebaut wird. Solche Räume bieten jungen Menschen Entwicklungsmöglichkeiten auch jenseits des Probenbetriebs und schaffen zugleich Identifikation. Die musikpädagogischen Angebote finden vor Ort, im eigenen Dorf statt, doch stets am dritten Ort, der nach Regeln bespielt wird, die die Mitglieder des Vereins gemeinsam festlegen. Das Vereinsheim wird zum Treffpunkt und zu einem Ort der Sozialisation, der auch nutzbar ist, wenn keine Probe stattfindet: Feste und gemeinsame Aktivitäten sind essentiell für die Bindung junger Menschen. Zugleich wird ein Identifikationsort für die lokale Region geschaffen.
Ehrenamtliche Organisation des Vereinsalltags bedeutet Zeitplanung, Finanzplanung, Kommunikation nach innen und nach außen, Konzerte – von der Auftragsannahme oder der Entscheidung selbst eins zu organisieren bis zum Abbau der Bühne – und vieles mehr, für dessen Gestaltung die angelernten Fähigkeiten eingebracht werden. Angelernt bedeutet dabei nicht inkompetent, sondern soll verdeutlichen, dass hier Amateure – im Wortsinne – die Arbeit selbstorganisiert gestalten. Für junge Menschen, die das Musizieren in den Vereinen erlernen, sind diese Erlebnisse prägend. Sie werden schnell einbezogen und erhalten nach und nach verantwortliche Aufgaben innerhalb dieses Gesamtgefüges.
Musikvereine sind Bildungsakteure (nicht nur) im ländlichen Raum, selbst wenn sie dies, das zeigen Gespräche mit Verantwortlichen, oftmals nicht direkt betonen. Ihre Attraktivität für Kinder und Jugendliche hängt wesentlich mit den breiten wie auch vielfältigen Engagement- und Lernsettings, mit dem ganzheitlichen Ansatz von Vereinsarbeit zusammen. Dabei werden neben der musikalischen Ausbildung insbesondere das Gruppenerlebnis, aber auch die außermusikalischen Aktivitäten betont. Auch das Erlernen grundsätzlicher Zugänge zum Ehrenamt wirkt positiv.
Das Erlernte zu präsentieren, den eigenen (musikalischen Lern-)Erfolg sichtbar zu machen, geschieht vor allem während der öffentlichen Auftritte im sozialen Nahraum. Diese Auftritte tragen – neben Anerkennung und persönlichem Erfolg – zur gemeinschaftlichen Identifikation und Identitätsbildung bei. In der Regel sind die Zuschauer*innen bekannt und kommen aus dem sozialen Umfeld. Auf diesem Wege betreiben die Vereine einen Teil ihrer Imagebildung, denn sie zeigen sich als wesentlicher Bestandteil der örtlichen Struktur, wenngleich der Auftritt vor Ort gerade für jüngere Menschen nicht immer der spannendste ist im Vergleich zum Konzert beim Landesmusikfest oder im Rahmen einer internationalen Jugendbegegnung. Für Vereinsverantwortliche dafür aber umso mehr. Sie stärken somit das Bild eines kommunal fest verankerten Akteurs: Spielt der Musikverein nicht beim Dorffest, dann fehlt da etwas und das fällt den Menschen auf.
Zukunftsaussichten
Vereine sind ein wichtiger Bildungsakteur und Gestalter im ländlichen Raum. Ihre Konzepte musikalischer Bildung konzentrierten sich über viele Jahre auf eine eingeschränkte Zielgruppe, welche der gesellschaftlichen Diversität – auch der ländlichen Räume – nicht entsprach (vgl. Berg:2010; Bundesvereinigung Deutscher Orchesterverbände:2011). Dass diese eingeschränkte Orientierung wenig zukunftsfähig sein wird, ist vielen Vereinen inzwischen klar. Daher werden vor allem über Partnerschaften z.B. mit Schulen Zugänge zu neuen Zielgruppen gesucht (vgl. Laurisch 2017b). Ziel der Musikvereine ist es vor allem ihre Spielfähigkeit zu erhalten. Zugleich wird damit die Durchlässigkeit erhöht, wobei dieser Prozess langsam vor sich geht und noch nicht überall konzeptionell untersetzt ist. Eine inklusiv arbeitende Bläserklasse ist ein Modell, dem sich die Träger erst seit kurzem intensiv widmen. Das Modellprojekt Vielfalt? Bläser? Klasse! der Deutschen Bläserjugend – in Kooperation mit dem Institut für Musik der Universität Koblenz-Landau, Campus Landau, der Abteilung Schulmusik der Hochschule für Musik an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz und Yamaha Music Europe – gibt hier erste Hinweise für die zukünftige Arbeit, zeigt aber auch, wie wenig dieses Feld bislang „bespielt“ wurde (Deutsche Bläserjugend:2016).
Tradierte Strukturen und feste, verlässliche Kommunikationswege sowie Partnerschaften machen Musikvereinsarbeit im ländlichen Raum fass- und operationalisierbar. Dieses Profil kann auf Dritte exkludierend wirken. Musikvereine in ländlichen Räumen werden zukünftig noch stärker dafür sorgen müssen, sich als offene Struktur weiter zu entwickeln. Das Förderprogramm Kultur macht stark setzt genau auf diesen Impuls: Strukturen vor Ort werden mit – für die Verhältnisse der meisten Musikvereine – umfangreichen finanziellen Mitteln versorgt, um Zielgruppen anzusprechen und für die musikalische Bildung im Ensemble zu interessieren, die bisher nicht erreicht wurden. Allerdings zeigt sich im Programm genau das, was schon beschrieben ist: Nicht alle ländlichen Räume stehen automatisch für Bildungsarmut und Benachteiligung. Somit wird der Impuls vor allem in benachteiligenden Regionen gesetzt. Hier haben die Verantwortlichen mit diversen Herausforderungen zu tun, sei es Abwanderung, fehlende öffentliche Infrastruktur oder antidemokratische Tendenzen. Hier ist Fördergeld gut aufgehoben, wenngleich diese Konzepte eher im Kleinen und lokal wirken.
Welche Formen der Ansprache zu wählen sind, um neue Zielgruppen zu gewinnen, ist keine Frage des ländlichen Raums. Nicht erst seit Kultur macht stark ist klar, dass es nicht ausreicht, das Angebot kostengünstig oder -frei zu gestalten, um Kinder und Jugendliche aus sozial benachteiligenden Lebenslagen einzubinden. Für ländliche Räume, in denen Verantwortliche stark über Identität, Bindung und gewachsene Strukturen argumentieren, wird es spannend, wie vor diesem Hintergrund eine stärkere Durchlässigkeit ermöglicht werden kann. Ein Weg, den erste Vereine beschreiten, ist eigene Selbstverständlichkeiten stärker ins Bewusstsein zu rücken: Was tun wir und warum? Sind unsere Anspracheformen und Beteiligungsformate teilhabegerecht und diversitätsbewusst? Hierfür ist die Entwicklung eines Vereinsleitbildes eine gute Methode, denn es stärkt den vereinsinternen Abgleich von Selbst- und Fremdbild. Mittlerweile wird diese Methode von immer mehr Musikvereinen genutzt, jedoch scheint diese in der Fläche noch längst nicht verankert zu sein. Dies zeigt sich in Workshops und innerhalb der Mitgliedsstrukturen der Deutschen Bläserjugend , dies wird auch während der Schulung zu „Vereinspilot*innen“ an der Bundesakademie für musikalische Jugendbildung Trossingen deutlich.
Inklusive Arbeit steckt noch in den Anfängen, wird aber verstärkt in den Fokus rücken. In ländlichen Räumen wird es eine Herausforderung für Musikvereine sein, ihre Ehrenamtlichen oder die wenigen Honorarkräfte fit für die musikpädagogische und ehrenamtliche inklusive Arbeit zu machen. Tradierte Strukturen und weniger Berührungspunkte mit den „zu inkludierenden“ Menschen machen diese Fragestellung vermeintlich weniger relevant. Zugleich können die Musikvereine auf Grundlagen aufbauen, die sie z.B. im Bereich Beteiligung längst verinnerlicht haben: Bedürfnisorientierung, Methodenkompetenz, flexible demokratische Verfahren, die Menschen einbinden. Dieser Prozess geht jedoch langsam voran und einige Überzeugungsarbeit ist nötig. Dachverbände und Akademien arbeiten an guten Instrumenten für Inklusion wie an einer inklusiven Ausgestaltung der Rahmenrichtlinie für die musikpädagogische Ausbildung (Bundesakademie für musikalische Jugendbildung Trossingen/Deutsche Bläserjugend:2017).
Ein weiterer wichtiger Themenkomplex wird die Gestaltung von Übergängen von projekthaften Zugängen zum Musizieren zur Mitgliedschaft im Musikverein und damit zur längerfristigen Beschäftigung mit Musik im Ensemble sein. Im Zuge der stärkeren Kooperation mit Partnern aus der formalen Bildung stellt sich die Frage, wie bei Schüler*innen der Übergang von der projektorganisierten Bläserklasse in die Mitgliedschaft im Verein gelingt. Während einige Vereine bereits Kinder der ersten und zweiten Klasse mit (eher basalen) musikalischen Projekten zur Nachwuchsgewinnung ansprechen, sind es in aller Regel Kinder aus der dritten und vierten Klasse, die erreicht werden (sollen). In diesem Alter ist eine erste tiefere Beschäftigung mit einem Instrument, Noten und dem Orchesterspiel möglich, weshalb die Bläserklassenschulen gerade diese Altersklasse ansprechen. In den meisten Bundesländern folgt nach Klasse vier allerdings der Schulwechsel, womit ein automatischer Übergang entsteht, der mit dem Abschluss der Bläserklasse einhergeht. In ländlichen Räumen ist dieser Wechsel zur weiterführenden Schule meist noch stärker mit einem Ortswechsel verbunden als in urbanen Räumen, weil weiterführende Schulen oftmals weniger am Wohnort der Kinder sind als die Grundschulen ohnehin schon. Wie die in der musikalischen Arbeit entstandenen Beziehungen und die Kommunikation zu halten sind, beschäftigt gerade viele Vereine. Eine Antwort darauf ist eine stärkere Einbindung der Eltern. Die Gedanken der Musikverbände, die hierfür eine Rolle als übergeordnete Entwicklungsinstanz wahrnehmen, stecken allerdings noch in den Kinderschuhen.
Musikvereine in ländlichen Räumen sind massiv auf ehrenamtliches Engagement angewiesen. Im Zuge gesellschaftlicher Veränderungsprozesse muss ein Ehrenamt, das vor allem auf langfristiger Bindung beruht (vgl. Berg:2010) neu gedacht und breiter konzeptioniert werden. Dazu gehören neue Formen der Ansprache eines Personenkreises, der über die eigene Vereinsstruktur hinaus gedacht wird sowie neue Formen der Anerkennungs- und Wertschätzungskultur jenseits des Systems von Orden und Urkunden, das in den Amateurmusikverbänden insgesamt verbreitet ist. Dieses System ist in erster Linie darauf aufgebaut, den Wert von Engagement nach Jahren zu bemessen – es gibt Orden, die je nach Dauer des Engagements umso „größer und wichtiger“ werden. Deshalb ist es von Bedeutung, ein aktives Erwartungsmanagement zwischen Verein und aktiven (insbesondere jungen) Menschen zu betreiben. Das heißt, die Vereine erstellen Ehrenamtsausschreibungen und suchen gezielt nach kompetenten Personen, denen sie ein klar beschriebenes Engagementangebot unterbreiten. So können unausgesprochene Annahmen über Ressourcen, Zeitaufwand, Kompetenzen und vielem mehr ausgeräumt werden. Diese Herausforderung haben Vereine bereits erkannt und auch Bundesinstitutionen wie die Bundesakademie für musikalische Jugendbildung Trossingen setzen neue Impulse (vgl. Bundesakademie für musikalische Jugendbildung:2017). Dazu gehören Fragen von Teamarbeit, Dauer von Ehrenämtern ebenso wie Fragen von Einarbeitung und Weiterbildungsmöglichkeiten.
In schrumpfenden ländlichen Räumen ist es wahrscheinlich, dass Vereine kleiner werden und damit das Gesamtangebot schrumpfen könnte. Das betrifft auch liebgewonnene Vereinsprojekte, die eventuell nicht mehr sinnvoll erscheinen, wenn zu wenige Menschen erreicht werden. Gefragt sind strukturierte Ausstiegsszenarien, die aktuell nur von wenigen Vereinen planvoll vorgehalten werden. Spielgemeinschaften aber auch neue Partnerschaften beim Betreiben des Vereinshauses oder der Veranstaltung des Dorffestes erscheinen angebracht. Jedoch müssen diese Akteure in ländlichen Räumen gefunden werden und bereit sein, neue Kooperationen einzugehen. Das bedeutet auch den „Kampf um die Köpfe“, als das gegenseitige Abwerben der verbliebenen – gerade jungen – Menschen einzustellen und ihnen ein gemeinsames Angebot zu unterbreiten. Eine besondere Herausforderung liegt in diesen neuen Kooperationen, da Musikvereine in ländlichen Räumen intensive Identitätsbildung betreiben, um Menschen zur Mitgliedschaft und zum Engagement zu motivieren. Planvoll heißt daher, dass Verantwortliche vor einer Entscheidung mitdenken, wie sich solche Strukturveränderungen auf den Gesamtverein und seine Mitglieder auswirken und was dies für das Selbstverständnis und das Selbstbild der Vereine bedeuten könnten.
Musikvereine in ländlichen Räumen zukunftsfähig aufstellen
Abschließend lassen sich fünf zentrale Punkte identifizieren, die Musikvereinen in ländlichen Räumen helfen, ihre Arbeit zukunftsfähig aufzustellen.
1. Im Bereich der musikpädagogischen Arbeit braucht es individuelle Ansprachen, gute Zielsetzungen und die Möglichkeit Erfolgserlebnisse im lokalen Raum zu gewährleisten. Inklusive Ansätze werden dabei zukünftig zuerst dort eine stärkere Rolle spielen, wo der Druck auf die Spielfähigkeit ehrenamtlicher Strukturen zunimmt und die Orientierung auf neue Konzepte durch die Ehrenamtlichen zugelassen wird.
2. Das eigene Vereinsheim und damit ein Ort zur Identitätsbildung sowie zur Selbstorganisation spielt für Musikvereine in ländlichen Räumen eine immense Rolle, gerade vor dem Hintergrund, dass oftmals kaum eine andere Infrastruktur vorhanden ist.
3. Darüber hinaus braucht es ein Mindestmaß an Ressourcen auf die Musikvereine zugreifen können müssen, um den besonderen Gegebenheiten im ländlichen Raum begegnen zu können. Dazu zählen ehrenamtliches Engagement der Mitglieder, Kommunikationskanäle in den lokalen Raum, Materialien für die musikpädagogische Arbeit und einiges mehr.
4. Das Ehrenamt in ländlichen Räumen muss sich öffnen und jenseits der tradierten Strukturen und Arbeitsweisen neu gedacht werden. Dies muss mit der Identitätsarbeit verbunden werden und vor dem Hintergrund sich ändernder gesellschaftlicher Rahmenbedingungen geschehen. Hierfür braucht es viel Selbstvergewisserung und zugleich weiterer fachlicher Impulse von außen.
5. In schrumpfenden Regionen braucht es gerade die Erkenntnis, dass die Arbeit der Vereine sich auch für wenige „Köpfe“ lohnt und daher trotz eventueller höherer finanzieller Pro-Kopf-Kosten gerechtfertigt ist. Das sollte in Förderprogrammen ebenso berücksichtigt werden, wie es die Verantwortlichen selbst erfassen müssen. Zudem braucht es eine höhere Förderung für ein strukturiertes Vereinsmanagement und eine Entwicklungsplanung, so dass geeignete Ausstiegsszenarien für Musikvereine und Spielgemeinschaften, eine von den Vereinsmitgliedern geteilte Abkehr von tradierten Vereinsaktivitäten und eine Hinwendung zu neuen Projekten und Prozessen gelingen können.