Klassismuskritische Kulturelle Bildung vor dem Horizont der Cultural Studies. Warum »Zugang schaffen« keine Lösung, sondern das eigentliche Problem ist
Abstract
Kulturelle Bildungsprojekte wollen häufig Zugänge schaffen. Aus klassismuskritischer Perspektive ist zu fragen: Zugang wozu? Der Beitrag problematisiert den affirmativen Kulturbegriff in Praxis und Theorie Kultureller Bildung. Denn Kultur ist ein Teil des Problems von Klassenungleichheit. Kulturelle Bildung ist gefordert, die enge Verwobenheit der ökonomischen und der kulturellen Dimension von Klassismus zu reflektieren und ihr Kulturverständnis radikal zu erweitern – im Sinne der Cultural Studies hin zu Kultur als einer »umkämpften Praxis«.
„Recently a women‘s magazine collective made the decision for one issue to print only prose, saying poetry was a less ‚rigorous‘ or ‚serious‘ art form. Yet even the form our creativity takes is often a class issue. Of all the art forms, poetry is the most economical. It is the one which is the most secret, which requires the least physical labor, the least material, and the one which can be done between shifts, in the hospital pantry, on the subway, and on scraps of surplus paper.”
(Audre Lorde [1984] 2007:109)
Was haben die kulturellen Produktionsbedingungen von Poesie mit Klassismus zu tun? Klassismus beschreibt das Herrschaftsverhältnis, über das Menschen aufgrund ihrer Klassenzugehörigkeit oder Klassenherkunft in Gesellschaften benachteiligt werden. Die aktuelle Klassenposition oder eine Klassenzugehörigkeit, welche aus der individuellen Herkunft erwachsen ist, hat enormen Einfluss auf die individuellen Handlungsmöglichkeiten und Vorstellungsrahmen. Das hat einerseits mit der ökonomischen Dimension von Klasse zu tun: Welche Bildungs-, Kultur- und Freizeiterfahrungen konnte sich meine Familie und kann ich mir heute selbst leisten? Welche finanziellen und zeitlichen Ressourcen habe ich für kulturelle Aktivitäten?
Andererseits spielt auch die kulturelle Dimension von Klasse eine Rolle: Wie werden unterschiedliche Formen der Kulturproduktion bewertet? Warum werden Kunstformen, die mit materiell schwächeren Hintergründen konnotiert werden, als weniger seriös gewertet? Und welche Abwertungsprozesse erfahren nicht nur Kulturprodukte, sondern vor allem Menschen aus ökonomisch weniger privilegierten Hintergründen? Welche Rolle spielt dabei die Auffassung von Kultur für Praxis und Diskurs der Kulturellen Bildung?
Kultur als Teil des Problems
Audre Lorde spricht im obigen Zitat die enge Verwobenheit der ökonomischen und kulturellen Dimension von Klassismus am Beispiel der Poesie an. Klasse ist ein sowohl ökonomisches wie ein kulturelles Phänomen (vgl. Holden 2010:19) und Kultur ist ein Teil des Problems von Klassenungleichheit (vgl. Holden 2010:38). In der Kulturellen Bildung ist es vor allem diese enge Verbindung zwischen Klasse und Kultur, die uns aufhorchen lassen sollte: Inwiefern sind wir als Kulturpädagog*innen selbst in Klassismus verstrickt? Welche Strukturlogiken der Kulturellen Bildung tragen dazu bei, die soziale Differenzierung Klasse zu reproduzieren? „Kulturpädagogik, die mit ihren ästhetisch-künstlerischen Arbeitsformen über ein zentrales Medium der Differenzierung der Gesellschaft verfügt, braucht [...] eine besondere Sensibilisierung für die soziale Wirksamkeit ihrer Arbeitsformen, will sie nicht – unbeabsichtigt – Ausgrenzung vergrößern oder zumindest stabilisieren“ (siehe: Max Fuchs „Kulturbegriffe, Kultur der Moderne, kultureller Wandel").
Klassismuskritische Kulturelle Bildung setzt sich daher kritisch u.a. mit den (impliziten) Kulturverständnissen dieser Bildungspraxis auseinander. In diesem Beitrag wird dies mittels der kulturwissenschaftlichen Perspektive der Cultural Studies reflektiert. Dabei wird die Zielsetzung Kultureller Bildung, Zugänge (zu Kultur) schaffen zu wollen in Zweifel gezogen und die Problematik eines affirmativen, objektivistischen Kulturbegriffs skizziert. Abschließend werden vor dem Horizont der Cultural Studies Ansatzpunkte einer klassismuskritischen Praxis wie Theorieentwicklung zu Kultureller Bildung diskutiert.
Klassismus als strukturelle Diskriminierung
Eine Kritik des Kulturverständnisses der Kulturellen Bildung adressiert Klassismus als strukturelle Diskriminierung. Das Konzept der strukturellen Diskriminierung betont, dass sich Diskriminierung „nicht nur in individuellen und intentionalen Handlungen und Entscheidungen von Einzelpersonen ausdrückt, sondern sich auch in weniger wahrnehmbaren alltäglichen kulturellen Praxen, institutionellen Abläufen, Gesetzen oder auch kapitalistischen Marktmechanismen manifestiert“ (Czollek et al. 2019:23), beispielsweise in den Metaphern von Zugang und Teilhabe, die in diesem Beitrag als Ausdruck der Strukturlogik eines affirmativen und objektivistischen Kulturbegriffs in der Kulturellen Bildung diskutiert werden.
Strukturelle Diskriminierung zu analysieren bedeutet, über die individuelle und zwischenmenschliche Dimension von Diskriminierung hinauszugehen und Diskriminierung nicht allein an Intentionalität festzumachen: Handlungen können auch diskriminierend sein, wenn sie nicht als solche intendiert sind. Denn „alle, die wir in dieser Gesellschaft leben, sind in das Netz der Diskriminierungsverhältnisse eingewoben – ob wir wollen oder nicht“ (Čupić 2021:31).
Als Kulturpädagogin mit Klassismuserfahrung will ich dieses Netz von Diskriminierungsverhältnissen kritisch hinterfragen. Auch wenn im Kulturbetrieb und im Bildungswesen ein gesellschaftskritisches und reflektiertes Selbstverständnis herrscht: Diskriminierungsfreie Räume gibt es nicht! Dabei ist gerade der Faktor Klasse im Kulturbetrieb bislang stark unterbelichtet (vgl. Al-Radwany 2021:26).
Klasse als ökonomisches und kulturelles Phänomen der Klassismuskritik
Zunächst einmal ist es notwendig, der engen Verwobenheit von Kultur und Klasse nachzuspüren. Die Klassismuskritik entstand in und durch soziale und politische Bewegungen (vgl. Kemper/Weinbach [2007] 2021:35ff). Ihr Begriff von Klasse geht über die soziologische Theorietradition zu Klasse hinaus: Neben der Marx’schen ökonomischen Definition wird hier auch die kulturelle Dimension fokussiert.
Dieser Klassenbegriff nimmt so einerseits die „ökonomische Stellung im Produktionsprozess zum Ausgangspunkt“ (Kemper/Weinbach [2007] 2021:15), gleichzeitig aber auch die kulturellen Ab-/Anerkennungsprozesse in den Blick, die mit einem bestimmten Klassenstatus einhergehen (ebd.). Klassistische Abwertung erfahren Menschen nicht nur durch fehlende finanzielle Möglichkeiten, sondern auch durch kulturelle Ausschlüsse, über Abwertungen bestimmter kultureller Praxen und Beschämungen aufgrund bestimmter Handlungsmuster.
Die passende Bezugsdisziplin erscheint mir daher die (britischen) Cultural Studies zu sein: hier wird immer wieder die „untrennbare Verschränkung von ökonomischen und kulturellen Verhältnissen postuliert“ (Marchart 2018:196) und intensiv empirisch analysiert. Zwar wird auch in den Sozialwissenschaften die fortschreitende Ästhetisierung aller Gesellschaftsbereiche seit den 1980er-Jahren durch „kulturell geprägte Denkmodelle“ aufgegriffen, die sich „mit den Begriffen wie Alltag, Lebenswelt, Lebensstil, Milieu und Lebenskunst“ verbinden (Jäger/Kuckhermann 2004:250). Diese Lebensstil- und Milieuforschung hat jedoch den Rückbezug auf die materiellen Ungleichheiten und damit einhergehende Ressourcenausstattung verloren (– wobei auch in der aktuellen Soziologie wieder eine vorsichtige Annäherung an den Klassenbegriff zu beobachten ist (vgl. Reckwitz 2019:67)). Die Cultural Studies hingegen wenden sich gegen eine Entkopplung der Frage nach der kulturellen von der ökonomischen Dimension. Dazu verwenden sie eben bewusst den Begriff der Klasse (class).
Die Cultural Studies entstanden in Großbritannien aus dem Kontext der emanzipatorischen Erwachsenenbildung und gingen als Theorieprojekt mit der Gründung des „Centre for Contemporay Cultural Studies“ (CCCS) 1964 in Birmingham einher. Wegbereiter waren der Soziologe Richard Hoggart (1957), der Kulturkritiker Raymond Williams (1958), der Historiker E.P. Thompson (1963) sowie der Kulturtheoretiker und spätere Leiter des CCCS Stuart Hall (1989). Mittlerweile gibt es diverse Forscher*innen, viele Paradigmen und Forschungsgegenstände der Cultural Studies – von Subcultural Studies, Media Studies, Diskursanalysen bis hin zu gesellschaftspolitischen Studien (vgl. Marchart 2018). Die Cultural Studies analysieren kulturelle Praxen und stellen über den Blick auf Produktionsverhältnisse soziale Ungleichheiten und Aushandlungen in den Mittelpunkt. „Das ‚Machen‘ ist [dabei] ein zentraler Aspekt. Er verweist auf eine bestimmte Form, wie man Individuen sehen kann, nämlich als aktiv handelnde Subjekte, die ihre Bedingungen zwar vorfinden, aber auch mitgestalten und nicht als passive Empfänger/innen oder Opfer der Verhältnisse“ (Kalpaka 2015:391). Die Gesellschaftsanalyse der Cultural Studies ist entsprechend auch nicht distanziert, sondern versteht sich als kritische Forschung und Praxis, die sich selbstverständlich einmischt und Möglichkeiten bereitstellen will, um gesellschaftliche Kontexte zu verändern.
Diese engagierte Analyseperspektive und das Zusammendenken von ökonomischer und kultureller Dimension von Klasse, wie es die Ansätze der Cultural Studies nahelegen, kann für klassismuskritische Arbeit auch – und vor allem – in der Kulturellen Bildung hilfreich sein.
Zugang schaffen? – Kritik des affirmativen Kulturverständnisses und Plädoyer für eine (radikale) Erweiterung des Kulturbegriffs
Zur Ursprungserzählung der Kulturellen Bildung in der BRD gehört, dass die Neue Kulturpolitik in den 1970er-Jahren die Losung „Kultur für alle!“ (Hoffmann 1979) ausgab (Zur Geschichte Kultureller Bildung in der DDR vgl. kubi-online Dossier: Kulturelle Teilhabe in der DDR). Mit dieser Reformprogrammatik in Westdeutschland sollten vor allem Zugänge geschaffen werden und eine „breite gesellschaftliche Teilhabe an Kunst und Kultur“ ermöglicht werden (Wagner 2010:54). Die Kulturelle Bildung heute steht in dieser Tradition, wenn sie programmatisch Zugänge schaffen will – wie bspw. vom überregionalen Kulturprogramm „Kultur macht stark“ formuliert (vgl. Bundesministerium für Forschung und Bildung (BMBF)). Mit „Kultur macht stark“ soll ökonomischen und sozialen Teilhabebarrieren entgegengewirkt und stattdessen Zugänge geschaffen werden.
Klassismuskritisch wäre hier zu fragen: Zugang wozu? Von welcher und wessen Kultur ist hier die Rede? Und hilft das Bild einer vorfindbaren Kultur, die von Barrieren umringt ist, der Kulturellen Bildung wirklich weiter? Was wäre alternativ ein angemessenes Kulturverständnis?
„Kultur für alle!“
Historisch sollte mit der Reformprogrammatik der 1970er-Jahre Kultur und Kunst für möglichst viele Menschen als Alltagspraxis geschaffen werden (vgl. Wagner 2010:50) – dazu gehörte der Abbau ökonomischer (und auch kultureller) Barrieren von Theater- und Museumsbesuchen oder des Musik- und Ballettunterrichts. Es ging dabei vorrangig um die „Erleichterung der Zugänge zu traditionellen und modernen Formen der Hochkultur“ (Zirfas 2015:25). Auch wenn mit der Neuen Kulturpolitik durchaus auch die „Aufwertung von Kinder- und Jugendkulturen“ und von Produkten alternativer Kulturinitiativen diskutiert wurde (Zacharias 2015:64ff), ging es „vielfach nicht um eine Popularisierung von Kultur, sondern um das Bestreben, über ein Angebot für alle den Weg in die Hochkultur zu ebnen“ (Zirfas 2015:25f).
Der Kulturbegriff für eine zeitgemäße Kulturelle Bildung sollte weiter gefasst sein. Und seit den 1970er-Jahren wurde in der Kulturpolitik das normativ geprägte Hochkulturmodell auch verlassen, unterstützt durch die Rezeption von empirischen Kulturverständnissen aus Kulturanthropologie, -soziologie und (in geringerem Maße auch) den Cultural Studies. Diese bieten Ansätze gerade für eine positive Affirmation alternativer Kulturen: Kultur im Sinne der Cultural Studies ist immer auch Jugend- und Popkultur, Arbeiter*innen- oder Mädchenkultur sowie verschiedenste Alltagskulturen wie Ess- und Trinkkulturen, Stadtteilkulturen etc. (u.a. Hall/Jefferson 1976; McRobbie 2010; Back/Crabbe/Solomos 2001; Krischke-Ramaswamy 2007).
Kultur als (umkämpfte) Praxis
Allerdings wird bei der Rezeption der Cultural Studies in Deutschland häufig die besondere Leistung des Kulturbegriffs der Cultural Studies übersehen – besteht sie doch gerade nicht nur in der Erweiterung des Gegenstandsbereichs von Kultur auf alternative Kulturen. Mit dem Ruf „Culture is ordinary“ wandte man sich zwar besonders in der Frühphase der Cultural Studies, den 1950er-Jahren, der Populärkultur zu – der Alltagskultur und der Massenmedienkultur, Moden und Stilen. Diese wurden dadurch gleichermaßen wertgeschätzte Gegenstände von Kulturanalysen. Bahnbrechend an der Perspektive der Cultural Studies ist jedoch nicht diese Erweiterung des Gegenstandsbereichs von Kulturforschung, sondern ihr Verständnis von Kultur als Praxis und insbesondere als umkämpfte Praxis.
Es geht hier also einerseits um eine Erweiterung des Kulturverständnisses über Artefakte oder Symbolsysteme hinaus: auf Praxis. Andererseits ist damit aber auch eine „politische Perspektive“ verbunden (Marchart 2018:26): als umkämpfte Praxis. Die Erweiterung des Kulturbegriffs bei den Cultural Studies bezieht sich also nicht nur auf zusätzliche alternative Gegenstände, sondern ist viel radikaler: Kultur aus der Perspektive der Cultural Studies steht immer in einem Feld von Machtbeziehungen, über Kultur werden soziale Identitäten und Machtverhältnisse entlang von Differenzen wie etwa race, class und gender ausgehandelt (vgl. Hall 2004). Kultur ist selbst der Austragungsort dieses Kampfes, und so betonen die Cultural Studies die Konflikte und Auseinandersetzungen in kulturellen Prozessen statt ihrer harmonisierenden Wirkungen. Kultur wird hier nicht affirmiert, sondern als Praxis kritisch befragt.
Diese politische Dimension des Kulturbegriffs in den Cultural Studies erwuchs durchaus auch aus persönlichen Erfahrungen, die mit Klassismus verbunden waren – wie ein biografischer Rückblick des frühen Cultural Studies Akteurs Raymond Williams zeigt: „Die Ungleichheit, die ich erfuhr, war für mich – für jemand, der aus der Arbeiterklasse kam und die höheren Bildungsinstitutionen durchlief – in erster Linie eine Ungleichheit der Kultur, des Bildungsgangs, des Umgangs mit der Literatur. Was von anderen in anderen Situationen direkt als ökonomische oder politische Ungleichheit erfahren wurde, war für mich, bedingt durch meinen Weg, die Ungleichheit, gewissermaßen sogar die Nicht-Gemeinsamkeit von Kultur. Von dieser Einsicht musste die Diskussion des Kulturbegriffs ihren Ausgang nehmen. Kultur war und ist nämlich, insbesondere in England, einer der Faktoren, über die sich die Klassenunterschiede zwischen den Menschen vermitteln.“ ( Williams 1983, zit. nach Marchart 2018:30)
Statt eines affirmativen Kulturbegriffs – im Sinne einer vorfindbaren Kultur, zu der z.B. durch Kulturelle Bildung emphatisch „Zugänge geschaffen“ werden sollen – wird Kultur in den Cultural Studies selbst als Sphäre von Aus- wie Eingrenzung benannt. Kultur erscheint hier als fortlaufend umkämpftes Feld und damit als Medium, durch das hindurch „Macht produziert und um sie gerungen wird“ (Grossberg 2000:56).
Cultural Democratization, Cultural Democracy, Soziokultur und Kulturelle Bildung
In der britischen Diskussion wird diese Perspektive mit dem kulturpolitischen Paradigma der Cultural Democracy benannt (Gesprächshinweis von Marion Haak-Schulenburg 2023). Dieses wird als Gegenvorschlag zum vorgängigen Cultural Democratization-Paradigma entworfen, das noch mit der Zielvorstellung verbunden war, Kultur einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen (vgl. 64 Million Artists with Arts Council England 2018), ähnlich den Forderungen einer Kultur für alle in Deutschland.
Das vorgängige normative Verständnis von Kultur – eine von wenigen (Eliten und Gatekeepern) legitimierte Kultur, die allen zugänglich gemacht werden sollte – weicht dem empirisch-kulturwissenschaftlichen Verständnis, dass alle Menschen bereits längst in Kultur involviert sind, dass es eine Vielfalt an Kulturen (im Plural) gibt und dass keine Kultur dominant sein sollte. Cultural Democracy will Demokratie durch Kultur erlangen, und das Kulturleben soll entsprechend unter einer demokratischen Aushandlung stehen. Cultural Democracy zielt also auf Beteiligung aller und sieht die Mitgestaltung und Aushandlung über Bedeutung und Wert kultureller Produkte selbst als Teil von Kultur und kultureller Praxis an.
Im deutschen Kontext gab es bereits in den 1970er-Jahren das ähnlich emanzipatorische Konzept der Soziokultur, welches die Mitbestimmung des Individuums durch Mitbestimmung in und an der Gemeinschaft [...] in den Spielräumen der Kultur“ einüben wollte (Glaser/Stahl 1974:141, zit. nach Zirfas 2015:26). Auch der Soziokultur-Ansatz stellt Kultur ins Feld von Anerkennung und Partizipation – seine gesellschaftlich transformative Programmatik wurde allerdings wenig aufgegriffen und heute wird mit dem Begriff eher ein bestimmter Praxisbereich der nicht-institutionellen Kulturarbeit und der soziokulturellen Zentren assoziiert (vgl. Wagner 2010:44ff). So erscheint Soziokultur heute als abgespaltener Gegenstandsbereich, in dem die Praxisfelder Kultur und Soziales verbunden sind, anstelle der ursprünglich kulturpolitischen Maxime, Kultur selbst als soziale Praxis zu adressieren.
Die Kulturelle Bildung in Deutschland ist seit den 2000er-Jahren auch ein Praxisfeld, in dem partizipative Zugänge großen Einfluss haben. Aber diese Partizipation bezieht sich selten auf den großen Kuchen – die Aushandlung dessen, was Kultur eigentlich ist oder sein sollte. Stattdessen zeigt sich in Metaphern wie Zugänge schaffen, Teilhabe ermöglichen oder barrierearmem und niedrigschwelligem Arbeiten ein affirmativer Kulturbegriff und objektivistisches Kulturverständnis, das Kultur als Objekt oder Gegenstand sieht, um den herum Barrieren oder Schwellen Zugang und Teilhabe verhindern. Die Cultural Studies hingegen postulieren, dass Kultur als Praxis von uns allen fortlaufend produziert und ausgehandelt wird – sie ist nicht auf bestimmte Gegenstände und Felder beschränkt, sondern dynamisch; nichts Festes oder Besitzbares, sondern ein Prozess (vgl. Gilroy 1993) der Aushandlung konfliktärer Interessen.
Dass Kulturelle Bildung sich auf kulturelle Praxis beziehen und sich nicht in der Vermittlung von kulturellen Gegenständen erschöpfen sollte, klingt eigentlich nach einer Selbstverständlichkeit. Was aber bedeutet die Verschiebung von Kultur auf kulturelle Praxis und umkämpfte Praxis für die Kulturelle Bildung wirklich?
Ästhetische und künstlerische Selbstartikulation als kulturelle Praxis
Wenn wir Kultur als umfassende Praxis verstehen, als „doing culture“ (Hörning/Reuter 2004), die eng mit dem Sozialen verbunden ist, rücken viele unterschiedliche Praxen in den Blick. Die Cultural Studies verstehen Menschen als „Cultural Producers“ (Klaus/Zobl 2020:2) – wobei sie nicht nur Kultur herstellen, sondern in diesem kulturellen Prozess auch ihre Identitäten verhandeln.
Ästhetische Selbstartikulation
In einer ästhetisierten Lebenswelt (vgl. Bubner 1989) sind potenziell alle Bereiche des täglichen Lebens von kultureller Praxis durchsetzt. Alltägliche Handlungen des Kleidens, der Körper- und Raumgestaltung, der Freizeitbeschäftigung, aber auch Bewegung und Sprache sind in ästhetisch-kulturelle Stile und Moden eingebunden. Die Cultural Studies nehmen diese Ästhetisierung des Alltags ernst. Sie untersuchen die Praktiken in der mediatisierten, sich globalisierenden Alltags- und Populärkultur als ästhetisch-kulturelle Praxis empirisch-neugierig und ohne philosophisches oder kulturkritisches Pauschalurteil (vgl. Willis [1978] 1981; McRobbie 1991).
Der erweiterte Kulturbegriff der Cultural Studies schließt daher nicht nur künstlerische oder im Alltag produzierte kulturelle Artefakte ein, sondern bezieht sich ganz bewusst auch auf ästhetische Selbstartikulationen – die ästhetische Praxis der Lebensführung, der Körper- und Kleidungsgestaltung und alltäglicher ästhetischer Performances von Subjekten; also Praxen der Selbst-Identifikation und -Repräsentation durch expressive Äußerungen, modische Selbststilisierungen, (Um-)Deutungen kultureller Artefakte und ästhetisierte Aufführungen des Selbst – auch in Abgrenzung zu gesellschaftlichen Zuweisungen und Fremdidentifizierungen.
Die Kulturelle Bildung legt zwar gelegentlich einen thematischen Fokus auf bspw. Lebenskunst (siehe: Hildegard Bockhorst 2012/2013 „"Lernziel Lebenskunst" in der Kulturellen Bildung") und hat auch im spezifischen Feld der Offenen Kinder- und Jugendarbeit die Bedeutung von ästhetischem Selbstausdruck erkannt (vgl. Sturzenhecker 2012/23; Schulz 2010; Müller 2021) – aber Selbstartikulation als ästhetische Praxis der Beteiligten sollte in jedem Bildungsprojekt eine zentrale Rolle spielen: Wie sind Kultur und Ästhetik in alltägliche Praxis eingewoben, wie sind sie beteiligt an Identitätsbildung und -Performance? In den selbsttätigen Gestaltungsweisen von Subjekten liegen grundsätzlich „Potentiale einer eigenständigen und reflexiven Bildung“ (siehe: Benedikt Sturzenhecker „Kulturelle Bildung in der Kinder- und Jugendarbeit"). Dazu müssen ästhetische Selbstartikulationen als kulturelle Praxis überhaupt erst einmal anerkannt werden. Teilweise werden sie aber nicht nur nicht beachtet, sondern sogar als defizitär gebrandmarkt. Das betrifft in ganz besonderer Weise den Selbstausdruck und die Medienpraxen von Kindern und Jugendlichen aus deprivilegierten Verhältnissen wie bspw. Stefan Welling (2008) für die Computermedienpraxis in Jugendzentren rekonstruiert: Der Praxis des Chattens bspw. wurde (und wird) von Jugendarbeiter*innen häufig mit Unverständnis und Ablehnung begegnet und die damit verbundenen spielerischen Inszenierungen eher negativ bewertet (Welling 2008:240f).
Die hier deutlich werdende abwertende Haltung von Pädagog*innen muss einem neugierigen, anerkennenden Beobachten weichen: d.h. auch ästhetische Selbstartikulationsweisen als kulturelle Praxis wahrzunehmen und ihnen in kulturellen Bildungsprojekten nachfrageorientiert zu folgen, sodass sich insgesamt der Fokus auf kulturelle Praxis als Aushandlung von Kultur verschiebt.
Künstlerische Selbstartikulation
Der ästhetische Selbstausdruck von Subjekten spielt auch im zeitgenössischen Kunstgeschehen eine große Rolle. Hier ist die künstlerische Selbstartikulation im Zusammenhang mit Fragen der Autorschaft des produzierenden Subjekts, den Produktionsbedingungen und der möglichen Positionierung von Kunstschaffenden in bzw. durch ihre Kulturproduktionen in den Mittelpunkt getreten.
Neben ethischen Fragen um das Eingebundensein in Machtverhältnisse (bspw. die Fragen nach Authentizität oder kultureller Aneignung) geht es dabei auch um ästhetische Fragen. Besonders deutlich ist das in der Popmusik, wo die Selbstartikulation im Werk schon immer kreativ und ästhetisch bespielt wird: Spielt der*die Sänger*in einen fiktionalen Charakter, drückt er*sie sich selbst aus oder die Töne und Worte eine*r Komponist*in oder spielt er*sie gar eine Starfigur? (vgl. Frith 1996:158ff.) Diese Präsenz (von Komponist*in, Interpret*in oder Starfigur) im Werk – die sogenannte „persona“ (vgl. Frith 1996; Auslander 2006) – ist in der Popmusik dezidierte Selbstartikulation und ein selbstverständlicher Teil der kreativen Produktion (vgl. Menrath 2018:59ff und 140ff), denn die mögliche De/Konstruktion dieser persona ist ein wesentliches Element des kommunikativen Prozesses mit den Rezipient*innen: Wie ist das Verhältnis der persona zur dahinterstehenden Kulturproduzent*in? Wer spricht hier? So werden Fragen von Identität – auch und gerade die von Klassenzugehörigkeit – in der Popmusik oft spielerisch verhandelt (siehe auch: Jonas Engelmann „A rich man's world. Klassizismus und (Pop-)Kulturelle Bildung" in diesem Dossier auf kubi-online).
Ästhetische Selbstartikulation spielt aber auch in anderen zeitgenössischen Künsten eine immer wichtigere Rolle, man denke an die Repräsentation von marginalisierten Lebenswelten und die Positionierung durch Kunstschaffende (siehe auch: Ute Pinkert „Transformation im Theater und Kultureller Bildung: Eine neues aktivistisches Paradigma?") oder den jüngsten Bedeutungszuwachs von autofiktionaler Literatur, z.B. den Literaturnobelpreis 2022 für Annie Ernaux. Ästhetische Selbstartikulation – sei es der alltägliche ästhetische Selbstausdruck von Subjekten oder die Präsenz von Kunstschaffenden, Literat*innen oder Popsänger*innen in ihren Werken – ist ein nicht mehr zu übersehendes Element zeitgenössischer kultureller Praxis und sollte thematisch in der Kulturellen Bildung stärker in den Fokus rücken und Gegenstand (auch kritischer) Auseinandersetzung werden.
Kulturelle Bildung im Kontext der Cultural Studies: Kritische kulturelle Lesefähigkeit statt Zugang
Vor dem Horizont der Cultural Studies kann es nicht darum gehen, emphatisch Teilhabe an einer objektivierten Kultur zu ermöglichen oder die Aneignung bestimmter Kulturgegenstände voranzutreiben. Was aber, wenn Zugang nicht mehr als Zielstellung Kultureller Bildung gelten soll?
Aus einer Cultural Studies Perspektive zielt Kulturelle Bildung darauf, durch Einsicht in die machtgebundene Konstruiertheit von Kulturgegenständen und Identitäten Mittel zur individuellen und kollektiven Selbstermächtigung bereitzustellen sowie zu (selbst-)kritischer Kulturproduktion anzuregen (vgl. Menrath 2022). Statt Barrieren beim Zugang zu einer vorfindbaren Kultur abzubauen, ist der Zielhorizont Kultureller Bildung im Kontext der Cultural Studies das Herstellen einer „kritischen Cultural Literacy“ – einer kritischen Lesefähigkeit kultureller bzw. hegemonialer Codes, wofür Carmen Mörsch (siehe: Carmen Mörsch „Critical Diversity Literacy an der Schnittstelle Bildung/Kunst: Einblicke in die immerwährende Werkstatt eines diskriminierungskritischen Curriculums") im Anschluss an Melissa Steyns „Critical Diversity Literacy“ (2007) sowie Daniel Krenz-Dewe (2017:420f) im Anschluss an die „Critical Literacy“ nach McLaren/Giroux (1997) bereits wichtige theoretische Ansatzpunkte formuliert haben.
Cultural Literacy und Ansatzpunkte für eine klassismuskritische Kulturelle Bildung
Die Cultural Studies stellen damit auch zentrale Ansatzpunkte für eine klassismuskritische kulturelle Bildungspraxis bereit: Kulturelle Bildungsprojekte können zunächst einmal die Auf- und Abwertungsprozesse bestimmter (klassenspezifischer) Kulturen oder auch die kulturelle Dimension von Klasse (medien-)spezifisch zum Thema machen. Als Ausgangspunkt dafür bieten sich u.a. kritische Auseinandersetzungen mit Kulturprodukten und ihren Produktionsbedingungen an (wie von Audre Lorde im Eingangszitat beispielhaft für Poesie aufgezeigt) – welche dann in Bildungsprojekten in neue ästhetisch-kulturelle Produktionen überführt werden können.
Außerdem stellen die Cultural Studies mit ihrem Kulturbegriff lange etablierte Selbstverständlichkeiten der Kulturellen Bildung infrage: Für eine klassismuskritische Kulturelle Bildung ist im Feld der Kulturellen Bildung eine radikale Erweiterung des Kulturbegriffs nötig. Das bedeutet nicht nur, ihre Gegenstände (bspw. in Curricula) immer wieder auf ihre Hegemonialität zu überprüfen und zu öffnen (siehe: Nora Leinen-Peters/ Johanna Borchert „Umgrenzung des Kulturbegriffs im Bildungsdiskurs"), sondern auch die Prozesse von Identitätsbildung und ästhetischer Selbstartikulation als kulturelle Praxis anzuerkennen und diese auf ihre ästhetisch-medialen sowie politischen Dimensionen zu befragen: Wie wird „Sprache genutzt [...] um bestimmte Subjektpositionen und Lebensweisen zu privilegieren und andere zu diskriminieren“ (Krenz-Dewe 2017:420)? Aber auch: Welche Möglichkeiten eröffnet „die Einsicht in die Veränderbarkeit von Subjektpositionen und Differenzordnungen“ (Krenz-Dewe 2017:423)? Und wie tragen Momente ästhetischer Erfahrung zur Selbstkonstitution bei bzw. wie kann kulturell-ästhetische Bildung durch „Erkundung und Befragen von Ordnungen“ (siehe: Paul Mecheril „Kulturell-ästhetische Bildung. Migrationspädagogische Anmerkungen") diese Ordnungen (auch im Fall von Klasse) verschieben?
Für das Vertiefen einer kritischen kulturellen Lesefähigkeit und das Hinterfragen hegemonialer Codes braucht es außerdem in kulturellen Bildungsprojekten vor allem divers aufgestellte Teams – divers auch was die sozialen Hintergründe angeht und mit entsprechender Sensibilität für Fragen von Hegemonie (siehe: Jan Niggemann „The State of Culture. Ist Kulturelle Bildung klassistisch? Eine kleine Übung in ,negativer Befähigung'" in diesem kubi-online Dossier). Auch sollte sich die Rolle der Projektanleitenden verstärkt zu einem Verständnis als Mentor*innen und sozialen Pat*innen (vgl. Čupić 2021:36) bzw. Moderator*innen (vgl. Josties 2008:22ff) oder ästhetischen Bildungsassistenzen (vgl. Sturzenhecker 2012/13) hin bewegen, um Selbstreflexion und Empowerment zu stärken.
Mit der Zielstellung einer kritischen Cultural Literacy verschiebt sich schließlich auch der Adressat*innenkreis Kultureller Bildung: Den Betroffenen von bspw. Klassismus sind hegemoniale Codes, zumindest latent, häufig bewusst. Wer klassistische Abwertung erfährt, entwickelt oft ein Gespür für die sprachlichen und symbolischen Differenzierungen, kann sie häufig nur nicht benennen. Kulturelle Bildung könnte dieses Gespür schärfen und Artikulationsmöglichkeiten schaffen. Zudem könnte und müsste Kulturelle Bildung diejenigen bilden, die selbst nicht für kulturelle Abwertungen sensibilisiert sind und wenig oder kaum von Diskriminierung betroffen sind oder waren. Deren kritische kulturelle Lesefähigkeit soll in der Kulturellen Bildung entwickelt werden. Kulturelle Bildung würde dann nicht mehr die regelmäßig gewaltvoll titulierten „Menschen mit Bildungsdefizit, Migrationshintergrund oder Sozialschwäche“ in den Blick nehmen, sondern Menschen mit Bildungsprivilegien, „Sesshaftigkeitshintergrund“ (Al-Radwany 2018:249) oder ökonomischen Privilegien.
Klassismuskritik im kulturellen Bildungsdiskurs
Zuletzt stellt sich noch die Frage, wie sich Klassismuskritik auf der Ebene des theoretischen Diskurses zu Kultureller Bildung abbilden könnte. Denn auch die diskriminierungskritische Analyse „FluDiKuBi“ zum Förderprogramm „Kultur macht stark“ (vgl. Baitamani et al. 2020) kommt zu dem Schluss, dass es für eine Veränderung der Praxis dringend einer kategorischen Überprüfung vorhandener Wissensbestände der Kulturellen Bildung bedarf. Eine derartige selbstkritische Dekonstruktion leitender Kategorien der Kulturellen Bildung erfordert jedoch „eine Bereitschaft aller am Diskurs Beteiligten, etablierte und privilegierende Wissensbestände konsequent in Frage zu stellen“ (Baitamani et al. 2020:207). Für eine derartige Bereitschaft zur theoretischen Weiterentwicklung der Kulturellen Bildung wäre es meiner Ansicht nach hilfreich, die Diskurse von Kultur- und Medienpädagogik stärker zu verschränken (siehe: Jule Korte/Lisa Unterberg „(re)united!? Neue Forschungsperspektiven im Schnittfeld von Kultureller Bildung und Medienpädagogik"), da in der Medienpädagogik die Gegenstände bereits weiter gefasst sind als in der Kulturpädagogik und breit zugängliche Massenmedien wie Fernsehen oder das Internet als selbstverständlicher Teil des Feldes betrachtet werden. Zwar gibt es hier in Teilen die problematische Unterscheidung zwischen guter Information und schlechter Unterhaltung (vgl. kritisch dazu Kutscher 2009) – die Geringschätzung der populären Medien ist jedoch insgesamt weit weniger ausgeprägt. Noch wichtiger jedoch ist, dass die Theorietradition der Cultural Studies in der deutschsprachigen Medienwissenschaft bereits rezipiert wird und von einem Austausch weitere Impulse für eine radikale Öffnung des Kulturverständnisses zu erwarten sind. Ein engerer Austausch der Kulturpädagogik insbesondere mit der Kulturanthropologie (als Feld, in dem viele Ansätze der Cultural Studies präsent sind), den Medienwissenschaften und der Medienpädagogik scheint hier äußerst vielversprechend. Ein machtreflexives Verständnis von Kultur als umkämpfter Praxis könnte so zu einem selbstverständlichen Teil des Diskurses über Kulturelle Bildung werden.