Kindorientierte Vermittlung im Museum. Zum Beispiel: ein mittelalterliches Reliquiar

Artikel-Metadaten

von Bettina Uhlig, Carolin Pauke

Erscheinungsjahr: 2021

Peer Reviewed

Abstract

Können Kinder historische Kunst erleben und verstehen? Finden sie einen Zugang zu Objekten, deren Herkunft außerhalb ihrer Lebenszusammenhänge liegt? Interessieren sich Kinder überhaupt für Kunstwerke und kulturelle Artefakte, die ihnen fremd erscheinen? Können sich Kinder in und an der Auseinandersetzung mit historischer Kunst und Kultur bilden – bieten diese Artefakte also Bildungspotenzial? Der Beitrag nimmt diese Fragen zum Anlass und Ausgangspunkt für die Konzeption und Diskussion einer kindorientierten Vermittlung, die sich auf kunst- und kulturhistorische Objekte im Museum bezieht und damit auch Fragen um eine kindorientierte Kulturvermittlung adressiert.

Kindheit – Kunst – Interesse 

Die neuere Bildpräferenz- und Interessenforschung (u.a. Kirchner 1999; Lieber 2008, 2009; Uhlig 2005, 2008) weist nach, dass Kinder bei der Auswahl an Kunstwerken, die sie interessant finden, eine hohe individuelle Varianz zeigen. Damit werden ältere Studien (v.a. Hinkel 1972) widerlegt, die davon ausgingen, dass Kinder einer Altersgruppe einen bestimmten Kanon an Bildern präferieren würden. Die Bandbreite der Bilder und Kunstwerke, die für das einzelne Kind interessant sein können, ist groß – sie umspannt alle Gattungen und Genres der Bildenden Kunst. Das Spektrum reicht von historischen bis zu zeitgenössischen Bildern/Kunstwerken; von existenziellen und ‚großen‘ Themen (Tod, Leben, Leid, Liebe, Freundschaften usw.) bis zu alltagsweltlichen Themen (Ernährungsweisen, Fahrzeuge, Hygiene, Mode usw.), von gemalten, gezeichneten, gedruckten, modellierten bis zu filmischen, digitalen und prozessbezogenen Arbeiten. Kindliche Bildinteressen sind different und vielseitig.  

Einfluss auf die interesseorientierten Präferenzen von Kindern haben lebensweltliche Bezüge, d.h. bereits gesammelte Erfahrungen im Umgang mit Bildern, aber auch verinnerlichte soziale und kulturelle Codes, die Resonanzen erzeugen.  

Was heißt das in Bezug auf historische Kunst? Das Alter eines Kunstwerkes – das zeigen Studien, die (auch) historische Kunst berücksichtigten (u.a. Hein 2010; Uhlig 2008) – ist für die Mehrheit der Kinder kein ausschlaggebendes Kriterium. Wenn sie sich für ein historisches Werk interessieren, dann nicht deshalb, weil das Kunstwerk ‚alt‘ oder ‚historisch‘ ist; diese Kategorie findet sich in den Aussagen der Kinder (in den vorliegenden Studien) nicht. Wenn sie ein historisches Kunstwerk wählen, dann deshalb, weil sie von konkreten abgebildeten Bildgegenständen und Motiven angesprochen werden und mit ihnen etwas verbinden können; weil sie sich für die Bilderzählung interessieren und sich fragen, was auf dem Bild geschieht; weil sie sich für Kopfbedeckungen interessieren und in diesem Bild besondere Kopfbedeckungen zu sehen sind; weil sie Bilder faszinierend finden, auf denen die Farbe dick aufgetragen ist, weil sie ein Interesse an der Materialität haben usw. 

Für die künftige Forschung in diesem Bereich stellen sich weitere Fragen: So ist z.B. zu fragen, inwiefern individuelle Interessen des einzelnen Kindes mit interindividuellen Einflüssen (sozial, kulturell u.a.) konvergieren bzw. divergieren und wie sich dies auf Präferenzentscheidungen auswirkt. Die bisherige Forschung zeigt, dass es eine große Varianz in Bezug auf die Auswahl an Bildern gibt, es fehlt jedoch an Differenzierungen, z.B. innerhalb einer Lerngruppe. So könnten mit Bezugnahme auf Gender- und Diversity Studies die Differenzlinien zwischen Kindern stärker in den Blick genommen und hinsichtlich der Wirksamkeit von Geschlechter- und Diversitätskonstruktionen in Auswahlprozessen befragt und reflektiert werden.

Kinder entwickeln und bilden ein Geschichtsbewusstsein

Es ist von Vermittler*innen in Vermittlungsgesprächen oft zu hören, dass ein historisches Objekt ‚sehr alt‘ sei. Eine derart unkonkrete zeitliche Einordnung basiert meist auf Unsicherheiten in Bezug auf die Fähigkeit von Kindern, zeitliche Einordnungen vorzunehmen. In der Geschichtsdidaktik befasst man sich u.a. mit der Entwicklung des historischen Bewusstseins von Kindern (u.a. Rohrbach 2009). Auch in der Kunstdidaktik spielt das historische Bewusstsein von Kindern zunehmend eine Rolle (u.a. Lieber 2020). Es gilt heute als anerkannt, dass Kinder (ebenso wie Erwachsene) sich Vergangenheit nicht linear vorstellen. Vielmehr stellen wir uns die vergangene Zeit als eine Art Netzwerk vor, in dem sich Ereignisse, Zeiträume, Epochen als ‚Punkte‘ festlegen und aufeinander beziehen lassen. Gibt es zunächst nur wenige ‚Knotenpunkte‘ und ‚Fäden‘, so verdichtet sich dieses Netzwerk nach und nach. Es ist ein dynamisches, bewegliches mentales Modell, das sich fortlaufend und ein Leben lang verändert. Erste Punkte, die Kinder im frühen Kindesalter in diesem Netzwerk markieren, sind für das Kind bedeutsame, biografische Ereignisse (... als ich in die Kita gekommen bin; ... als ich Geburtstag hatte; ... als meine Schwester geboren wurde u.a.). Im Alter von ca. fünf bis sechs Jahren entwickeln Kinder dann sogenannte Kernthemen (z.B. Saurier, Ägypten, Römer, Ritter) und bezeichnen Zeitabschnitte: Steinzeit, Ritterzeit u.a. In der Folge erarbeiten Kinder sich zum Teil erstaunlich umfängliches Expert*innenwissen in ausgewählten Bereichen. Ein siebenjähriges Kind kann zum Beispiel Expert*in für Saurierarten, römische Galeeren oder ägyptischen Pyramidenbau sein. In der zweiten Grundschulhälfte entsteht bei vielen Kindern das sogenannte stille Wissen  (tacit knowing) – über Themen wie Krieg, Tod, Sexualität u.a. Zu diesen Themen können und wollen Kinder oft nicht mit Erwachsenen kommunizieren, weil sie die Vorbehalte von Erwachsenen spüren (vgl. Rohrbach 2009:75). 

Mit dem Schuleintritt lernen Kinder, sich im Zahlenraum zu orientieren und können dann einen Zusammenhang zwischen physikalischer Zeit (100 Jahre, 1000 Jahr usw.) und ihren Kernthemen herstellen. Mit Einsicht in die Zusammenhänge der physikalischen Zeit strukturiert sich das innere Netzwerk um.  

Historische Objekte und Kunstwerke, die Gegenstand von Vermittlung sind, lassen sich in diesem eben beschriebenen Netzwerk einordnen und verknüpfen. Sie lassen sich etwa mit Kernthemen (z.B. Ritterzeit) und individuellen Expert*innenwissen (z.B. Kleidung in der Ritterzeit) verbinden. Je nach dem Zahlenraum, in dem sich Kinder bewegen (siehe Mathematikunterricht), können sie bereits einordnen, welchen Unterschied es macht, ob ein Objekt 20, 500 oder 1000 Jahre alt ist.

Eine kindorientierte Kunstvermittlung, die sich auf historische Kunst bezieht, kann nicht nur dazu beitragen, die Herausbildung des Geschichtsbewusstseins gezielt zu unterstützen. Sie kann auch Inspiration für neue Wissensbereiche und Phänomene sein und neugierig auf noch unbekannte ‚Welten‘ machen, die es zu entdecken gilt.

Historische Kunst im Museum 

Doch es geht nicht nur um das Erfahren der historischen Dimensionen von Kunst und Kultur. Die Herausforderung besteht vielmehr darin, das Vergangene mit der Gegenwart und Zukunft in Verbindung zu bringen. Ein Blick in die heutige Museumslandschaft zeigt, dass viele Museen eine enge Fokussierung auf ein historisches Zeitfenster bzw. einen historischen Sammlungsbereich gar nicht verfolgen, sondern vielmehr die ‚alte‘ Kunst auf gegenwärtige Objekte, Fragen und Deutungen beziehen. Das Spannende an der Auseinandersetzung mit historischen Objekten kann gerade darin bestehen, Bezüge zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu antizipieren und im Rahmen von Rezeption und Vermittlung reflexiv, d.h. fühlbar, denkbar, verstehbar zu machen. 

Kunst verstehen – Kunst erleben: Kinder verfügen über rezeptive Fähigkeiten

Rezeption (von Kunst und kulturhistorischen Objekten) ist kein passives Aufnehmen, sondern eine „aktive, anteilnehmende Verstehensbemühung“ (Krautz 2017:445). Wenn das kindliche Rezeptionsvermögen nicht mit dem von Erwachsenen kontrastiert wird, sondern Entwicklung als lebenslanger und dynamischer Prozess aufgefasst wird, der sowohl kognitive, emotionale als auch soziale Entwicklungsprozesse integriert und in kulturelle u.a. Rahmungen eingebunden ist, dann erscheint Kindheit nicht als Mangel- bzw. Defizitzustand, sondern als ein spezifischer Entwicklungsabschnitt mit bestimmten Merkmalen und Ressourcen, der hinsichtlich seiner kognitiven, emotionalen, sozialen und auch kulturellen Spezifika beschrieben werden kann.

Von Anfang an erkunden Kinder ihre Welt, um sie zu verstehen. Verstehen verdichtet, vertieft und erweitert sich im Verlaufe eines Lebens, deshalb ist Verstehen in jedem Alter und auf jeder Entwicklungsstufe möglich. Die Wissensbestände, Erfahrungen und Fähigkeiten zum Einfühlen, Nachdenken und Reflektieren bilden den Background und sind gleichermaßen der Horizont, in dem Verstehen möglich ist. Denn Verstehen bedeutet nicht, etwas exakt so zu verstehen, wie es ein anderer – z.B. ein historischer Künstler – gemeint hat. Eine Sache zu verstehen, heißt, sich ihr zuzuwenden, sie zu erkunden und zu befragen, sich zu informieren, sich einzufühlen, mit anderen Menschen ins Gespräch zu kommen und all diese Elemente mit dem zu verknüpfen, was man bereits weiß, erfahren und erlebt hat. So entsteht eine Sichtweise auf die Sache: Wir verstehen etwas als etwas. Dieses als etwas beschreibt eine Perspektive auf die zu verstehende Sache. Es bleiben notwendigerweise Leerstellen und Unschärfen. Wesentlich ist das Bemühen, eine Sache ‚sachangemessen‘ zu verstehen.  

In diesem Sinne verfügen Kinder über rezeptive Fähigkeiten, die ihnen verstehende Zugänge zu Kunstwerken eröffnen (vgl. dazu u.a. Kirchner 1999; Uhlig 2005, 2020). Jedoch sind die individuellen rezeptiven Fähigkeitsprofile zwischen Kindern verschieden. Wenn die Differenzlinie/n nicht zwischen Kindern und Erwachsenen gezogen werden, sondern die Varianzen innerhalb einer Gruppe von Kindern in den Blick rücken, dann kann es gelingen, die individuellen rezeptiven Fähigkeitsprofile für eine Vermittlungssituation fruchtbar zu machen, indem Kinder ihre Fähigkeiten nicht nur für den eigenen, sondern für den Verstehensprozess der ganzen Gruppe einbringen können. Ein Kind hat vielleicht einen sensiblen Zugang zu den Befindlichkeiten von Bildfiguren und kann dafür auch eine einfühlsame Sprache finden. Ein anderes Kind kann sich aufgrund seines Expert*innenwissens erklären, warum im Mittelalter bestimmte Verhaltensnormen und Kleidungsvarianten Verwendung fanden. Ein drittes Kind hat Erfahrungen mit philosophischen Gesprächen und fragt nach ethischen Aspekten einer Bildhandlung. Ein viertes Kind kann seinen kulturellen Hintergrund reflektieren und zum Verstehen ‚fremder‘ kultureller Objekte beitragen. 

Die individuellen Rezeptionsfähigkeiten treffen auf die in einer Vermittlungssituation gegebene Herausforderung, ein Kunstwerk oder kulturelles Objekt ‚sachangemessen‘ zu verstehen – diese Art der Sachangemessenheit gilt auch als ‚kunstgemäß‘. Gefragt ist deshalb eine Vermittlungsdidaktik, die der Diversität rezeptiver Fähigkeiten von Kindern ebenso Rechnung trägt wie den Ansprüchen, die Kunstwerke an das Verstehen stellen. 

Konzept einer kindorientierten Kunstvermittlung

Eine an Kindern orientierte Vermittlung setzt an den Interessen, Fragen, Erfahrungen, Wissenskonzepten und Verstehenshorizonten von Kindern an und entwickelt auf diesem Hintergrund Vermittlungsformate, mit denen kindliche Perspektiven und Weltsichten ernst genommen, herausgefordert und als Resonanzraum für eine sachangemessene Rezeption und Vermittlung verstanden werden. Kulturhistorische Objekte bieten vielfältige Möglichkeiten einer anspruchsvollen Auseinandersetzung mit historischer Kunst und Kultur, die Vergangenheit verständlicher macht und gleichsam über die Vergangenheit hinaus auf Gegenwart und Zukunft zu weisen vermag.

Das Konzept einer kindorientierten Kunstvermittlung (u.a. Uhlig 2005, 2017a, 2017b, 2020) basiert auf folgenden Grundannahmen: 

  • Kunst ist für alle Kinder, egal welchen Alters, welcher Herkunft und welcher Bildungsvoraussetzungen u.a. zugänglich und im Rahmen des individuellen Verstehenshorizontes verstehbar.  
  • Kindorientierte Kunstvermittlung hat einen Bildungsauftrag, der darin besteht, an und von Kunst zu lernen. In einer verständnisintensiven Auseinandersetzung mit Kunst – als einer besonderen und für die Bildung jedes Menschen unverzichtbaren Sache – lernen Kinder nicht nur etwas über Kunst und Kultur sowie die Sichtweisen auf sie, sondern vor allem, dass sie durch die intensive Beschäftigung mit einer Sache mehr über sich selbst, ihre Mitmenschen und die Welt lernen und erfahren können. 
  • Kindorientierte Kunstvermittlung basiert auf der Grundidee, dass shared intentionality – eine gemeinsame Aufmerksamkeit und Hinwendung zu einem Kunstwerk – die Basis jeder Vermittlungssituation ist. Damit verbunden ist einerseits eine Didaktik, die Vermittlung als dialogischen Prozess versteht, der dann erfolgreich ist, wenn alle Kinder eine Form der Beteiligung finden und andererseits das Praktizieren dialogorientierter Vermittlungsformate wie z.B. das Philosophieren mit Kindern oder dialogische Bildgespräche. 
  • Kindorientierte Kunstvermittlung macht keinen Unterschied zwischen dem Alter, der Gattung, dem Genre oder anderen Kategorien denen Kunstwerke zugehörig sind bzw. die ihnen zugeschrieben werden. Sie adressiert alle Formen und Arten von Kunst in ihren jeweiligen kulturellen Kontexten.  
  • Kindorientierte Vermittlung ist eine sachangemessene Vermittlung; in diesem Sinne ist sie ‚kunstgemäß‘. Kunstwerke stellen Herausforderungen für das Verstehen dar, die weder zu unterschätzen noch zu überschätzen sind. Bezugspunkt für eine sachangemessene Vermittlung ist der Verstehenshorizont eines Kindes bzw. einer Lerngruppe.  
  • Kunstpädagog*innen verstehen sich als pädagogisch und didaktisch reflektierende Dialogpartner*innen, die einen Vermittlungsprozess so konzipieren und leiten, dass die gemeinsame Suche nach Sinn und Bedeutung im Mittelpunkt steht. Sie sind weder ‚Alleswisser‘ noch ‚Besserwisser‘, deshalb ziehen sie weitere Expert*innen hinzu (Kunsthistoriker*innen, Kurator*innen, Handwerker*innen u.a.), die ihr Wissen und ihre Perspektiven in eine Vermittlungssituation einbringen können.

Als didaktische Referenz hat sich das dreiphasige Rezeptions- und Vermittlungsmodell (Uhlig 2005) bewährt: In der Einstiegsphase findet eine erste, offene Begegnung mit einem Kunstwerk statt, die Kinder dazu auffordert, Fragen, Vermutungen, Assoziationen zu äußern, um erste ‚Ankerpunkte‘ zu markieren. Die Einstiegsphase ist noch deutlich an den individuellen, lebensweltlichen Bezüge eines Kinders angelagert. Die zweite Phase begibt sich als vertiefte Rezeption stärker auf die Seite des Kunstwerkes und erkundet Inhalt-Form-Zusammenhänge, Kontexte, Diskurse. Die Fragen der Kinder leiten und begleiten diese Phase. Hier werden auch gestalterisch-praktische Formen der Auseinandersetzung, wie das Zeichnen, einbezogen. Es ist wichtig zu betonen, dass die gestalterische Praxis keine spielerische Nachahmung eines Kunstwerks ist. Vielmehr sollen bestimmte Aspekte zum Gegenstand einer handlungsorientierten Auseinandersetzung werden, in deren Verlauf sich etwas klärt oder besser verstehbar wird. Auch bietet die gestalterische Praxis die Auslegung und Umdeutung einer Sache an und kann so die Schnittstelle zur eigenen Lebenswelt verdeutlichen. In der dritten Phase, dem Transfer, wird die Brücke in die eigenen Lebenszusammenhänge (zurück) geschlagen. In dieser finalen Phase stellt sich die Frage, was das an einem Kunstwerk Entdeckte, Gefühlte, Verstandene mit ihnen, den Kindern, zu tun hat und inwiefern die Auseinandersetzung mit Kunst etwas in ihnen bewegt und bewirkt, das ihre Selbst- und Weltsicht zu verändern vermag.

Gespräche über Bilder und Kunstwerke – Spezifika der gemeinsamen Interaktion  

Im vorhergehenden Abschnitt wurden Grundannahmen einer kindorientierten Vermittlungskonzeption vorgestellt. Eine solche Vermittlungskonzeption realisiert sich vor allem dann, wenn dialogische Prozesse fokussiert und alle Beteiligten nach Möglichkeit in das Setting eingebunden werden. Für Gespräche über Bilder und Kunstwerke lassen sich demzufolge zwei elementare Komponenten benennen, die bei der Konzeption und Durchführung gleichermaßen zu berücksichtigen sind und in einem interdependenten Verhältnis stehen: das Bild/Kunstwerk und der gemeinsame Austausch darüber. Unabhängig davon, um was für ein Objekt es sich handelt und welche Art des Gespräches sich entwickelt – etwa ein ‚philosophisches Bildgespräch‘ oder ein Gespräch mit ‚nachdenklichen‘ Momenten (vgl. Müller 1999; Duncker 2012; Michalik 2012; Uhlig 2012, 2016) – sind einige methodische Gesichtspunkte von Relevanz, die als Prämissen und Gelingensbedingungen zu betrachten und zu berücksichtigen sind. Denn für das Gespräch über Bilder oder Kunstwerke bedeutet das zunächst, dass die Rezipierenden ihre Aufmerksamkeit einer gemeinsamen Sache zuwenden und infolge korrelativer Anreicherung und Modellierung bestehender Wissensbestände kooperativ agieren und Erkenntnisse teilen (vgl. Tomasello 2017:12).

Ziel der gemeinsamen Aufmerksamkeit und des Dialogs ist es, ein Bild oder Kunstwerk im Prozess aus verschiedenen Perspektiven zu beleuchten, Irritierendes gemeinsam zu durchdringen, Denkwege aufzuzeigen, diverse Sichtweisen zuzulassen, eigene und andere Standpunkte kritisch zu hinterfragen sowie Annahmen zu modifizieren. Ludwig Duncker stellt heraus, dass derartige Konversationen einen entsprechenden Gesprächsrahmen voraussetzen, der sich durch eine angenehme Atmosphäre und einen achtungsvollen Umgang zwischen den Gesprächspartner*innen auszeichnet (vgl. Duncker 2012:139).

Für die moderierende Person bedeutet das, auf Augenhöhe mit Kindern zu sein und eine geeignete, reflexive Balance zwischen Zurückhaltung und der Einbindung gesprächsfördernder Stimuli zu finden (vgl. ebd.:140). Derartige Gesprächsimpulse, die sich etwa in Form von durchdachten Fragestellungen dosiert einspielen lassen, dienen dazu, als „imaginative Brücken“ (Sowa 2016:255) zunächst in das Gespräch einzuführen und im Verlauf Denkwege und Verstehensprozesse zu intensivieren und zu dynamisieren (vgl. Sowa 2016; Uhlig 2016) sowie auch einem möglichen Stagnieren konstruktiv entgegenzuwirken. Im gesamten Vermittlungsprozess sind die Fragen der Kinder von großer Bedeutsamkeit. Eine fragende Grundhaltung gehört zu den essenziellen Attributen einer solchen Gesprächskultur (vgl. Uhlig 2011:359 f.). Für die vermittelnde Person ist es hilfreich, bereits im Vorfeld gesprächschoreografische Überlegungen zu treffen, die durch eine Offenheit gegenüber Kunst und Kindern geprägt sein sollten und zuvorderst Raum für die Fragen der Kinder (z. B. in Form von ‚Frageblitzlichtern‘) vorsehen. Die Erfahrungen aus Bildgesprächen zeigen, dass sich neben einer wertschätzenden Umgebung gleichermaßen die Wahl der Organisationsform als zuträglich erweist. So ist es von Wichtigkeit, dass sich im Rahmen solcher Gespräche die Teilnehmer*innen und vermittelnde Person in unmittelbarer Nähe befinden (wie etwa in der Formation eines Halbsitzkreises), um nicht nur einen adäquaten Blick auf das Bild/Kunstwerk einzunehmen, sondern sich zugleich wechselseitig mimisch und gestisch wahrnehmen können.  

Vermittlungsprojekt: Original oder Fälschung?

Im Rahmen eines drei Semester umfassenden Projektes mit Master-Studierenden des Lehramtes Kunst an der Universität Hildesheim wurden in Zusammenarbeit mit dem Hildesheimer Dommuseum Vermittlungssettings erarbeitet, erprobt, diskutiert und dokumentiert. Am Projekt nahmen Kindergruppen aus Schulen und Kindergärten teil. Jedes Vermittlungssetting wurde federführend von einer Studentin konzipiert und durchgeführt. Carolin Funke entschied sich für das sogenannte „Gründungsreliquiar“ (Abb. 1).

Bild des "Gründungsreliquiar"
Abb. 1: „Heiligtum unserer lieben Frau" (Brandt 1989:10)
Gründungsreliquiar (Original), Höhe 28,6 cm, Durchmesser des Fußes 15,8 cm // Reliquienkapsel: karolingisch, 9. Jhd., Breite 15,2 cm, Höhe 9,1 cm, Tiefe 5,2 cm // Edelsteinbänder und Fassung: 13. Jhd. // Fassung und Fuß: 14. Jhd.

Bereits im Zuge der ersten kurzen Begegnung im Dommuseum warf das Objekt aufgrund seiner seltsamen Gestalt viele Fragen bei der Lehramtsstudentin auf. Ein äußerst irritierendes Moment stellte zu Beginn die Verbindung aus Form und Materialität dar. Das Objekt erinnert auf den ersten Blick, infolge des verzierten Schaftes und Fußes sowie der rundlichen Form des oberen Teils, an eine sehr wertvolle Tischleuchte –  die massive Beschaffenheit des vermeintlichen Schirms würde eine Lichtdurchlässigkeit allerdings verhindern. Wozu dient also ein derartiges Objekt? Woher stammt es und wie alt mag es wohl sein? Diese und weitere Fragen fungierten als erster Zugang und weckten das verstärkte Interesse zu einer intensiven Auseinandersetzung.

„Heiligtum Unserer Lieben Frau“ – Das Gründungsreliquiar

Das Reliquiar „Heiligtum Unserer Lieben Frau“ (vgl. Abb. 1) besteht aus einer ca. neun cm hohen Silberkapsel, in der bis heute Reliquien aufbewahrt sind, aus edelsteinbesetzten Bändern als Fassung sowie einem wertvoll geschmückten Schaft und Fuß, um die kostbare Silberkapsel erhaben präsentieren zu können. Die Besonderheit des Objektes liegt jedoch nicht nur in der außergewöhnlichen Gestalt, dem wertvollen Schmuck und den enthaltenen Reliquien, sondern vielmehr in der zweimaligen Ausführung der mit Rankenornamenten verzierten Kapsel. Die aus Silber gegossene Originalkapsel stammt aus dem 9. Jahrhundert (Abb. 2, Brandt 1989:12) und ist mit Blick auf die Entstehungsgeschichte des Hildesheimer Bistums von fundamentaler Bedeutsamkeit (vgl. Brandt 1989:11f.). Die aus einem Holzkern und Silberblechbeschlag bestehende Nachbildung lässt sich – wie auch der edelsteinbesetzte Fuß – schätzungsweise auf das Ende des 14. Jahrhunderts datieren (Abb. 3, Brand 1989:19) und weist gleichermaßen ein Rankendekor auf, das jedoch im Vergleich zu der Originalkapsel präziser zu erkennen ist (vgl. Brandt 1989; Brandt/Höhl/Uhlig 2017). Das Original, das starke Gebrauchsspuren aufweist, steht nach alter Überlieferung mit der Gründungsgeschichte des Hildesheimer Bistums in Zusammenhang (vgl. Brandt 1989:11). 

Original der Reliquienkapsel
Abb. 2: Original der Reliquienkapsel aus dem 9. Jhd. (Brandt 1989:12)

 

Bild von der Kopie
Abb. 3: Kopie der Reliquienkapsel aus dem 14. Jhd. (Brandt 1989:19)

 

Die Gründungsgeschichte besagt, Ludwig der Fromme habe in Elze einen Bischofssitz errichten wollen. Während einer seiner Besuche gelangte er auch in die Umgebung des zukünftigen Hildesheims. An jenem Platz, an dem heute der Dom emporstrebt, wurde einst Gottesdienst gefeiert. Das mitgeführte Reliquiar, das man während der Messe an einen Ast hängte, wurde anschließend von dem kaiserlichen Kaplan vergessen. Erst am nachfolgenden Tag fiel der Verlust auf. Der kaiserliche Kaplan kehrte von Sorge erfüllt an diesen Ort zurück und fand die Kapsel – so die Überlieferung – nach wie vor hängend an dem Geäst, konnte sie aber wie durch ein Wunder nicht mehr von dem Ast nehmen. (Vgl. Brandt 1989:13) Dieses Ereignis, das der Kaiser als „einen Fingerzeig Gottes“ verstand, veranlasste die Verlegung des Bischofssitzes nach Hildesheim, wo „zu Ehren der Gottesmutter“ eine Kapelle erbaut wurde (ebd.). 

Bei den enthaltenen Reliquien des Originals handelt es sich nach Überlieferung um Marien- und Christusreliquien, die im Jahr 1680 aufgrund eines Raubs verschwanden und folgend ersetzt werden mussten (vgl. Brandt 1989:14). Die Nachbildung enthält drei kleine Reliquienbündel sowie eine Authentik mit folgendem übersetzen Inhalt: „Diese Kapsel enthält Reliquien vom Haar der heiligen Jungfrau Maria, vom heiligen Nikolaus, von den Kleidern der Jungfrau Maria, auch von den 11 000 Jungfrauen, vom heiligen Laurentius und von den Märtyrern Kosmas und Damian“ (ebd.:18).
Das Gründungsreliquiar gibt eine Vielzahl möglicher Fragen auf (vgl. Abb. 4). Über die Fragen erschließen sich nicht nur Sachzusammenhänge, sie können auch als Basis für die Entwicklung eines Vermittlungskonzeptes dienen. Eine besonders interessante und vermittlungsdidaktisch inspirierende Frage ist die, warum eine Replik des Objektes angefertigt wurde und was es bedeutet, wenn von einem wertvollen Objekt eine Nachbildung existiert. Der Kunsthistoriker Michael Brandt (1989) vermutet, dass die Kopie angefertigt wurde, um die wertvolle Urfassung nicht zu strapazieren. Es spreche vieles dafür, dass die Replik in der liturgischen Praxis der damaligen Zeit verwendet wurde, um das Original zu schonen, sodass dieses nur zu besonderen Gelegenheiten zum Einsatz kam (vgl. ebd.:18).

Fragen an das Objekt
Abb. 4: Fragen an das Objekt im Zuge der ersten Begegnung sowie Ausgangspunkt für die anschließende Erarbeitung eines Vermittlungskonzeptes

 

Abb. 5 Grafische Skizze des Vermittlungsfahrplans
Abb. 5: Entwurf des Vermittlungssettings: „Gesprächschoreografischer Fahrplan"

Beispiel eines kindorientierten Vermittlungsprozesses 

Das Vermittlungssetting (Abb. 5) fand mit einer vierten Grundschulklasse im Hildesheimer Dom sowie im angrenzenden Dommuseum statt und gliederte sich in drei Phasen (vgl. Uhlig 2005):

In der Einstiegsphase begegneten die Schülerinnen und Schüler dem originalen Reliquiar in der Domkrypta. Sie wurden aufgefordert, das Objekt für einen Moment zu betrachten und anschließend zu beschreiben sowie erste Vermutungen und Assoziationen zu äußern, um was für einen Gegenstand es sich hierbei handeln könnte. Die erste Begegnung mit dem Objekt brachte ganz unterschiedliche Aussagen und Annahmen hervor, die sich auf die individuellen, lebensweltlichen Bezüge der Kinder stützen:

- Es ist aus Silber! 
- Ich glaube, man hat es gefunden, als man den Dom wieder aufgebaut hat! 
- Das sieht aus wie ein Stein! 
- Die Zeichnungen da sind bestimmt reingeritzt! 
- Es könnte ein angemalter Stein sein! 
- Das sieht aus wie eine Schale, aber verkehrt herum! 
- Das was da reingeritzt ist, sieht aus wie ein Baum!

Unmittelbar nachfolgend fand die Begegnung mit der Replik statt, welche auf dem edelsteinbesetzten Fuß im Dommuseum (in einer Vitrine) präsentiert wird. Die Verwunderung der Schülerinnen und Schüler war zunächst groß, dass es das Objekt noch einmal gibt. Die Impulsfrage der Gesprächsleiterin „Gibt es etwas, das euch auffällt oder irritiert, wenn ihr dieses Objekt betrachtet?“ führte erneut zu aufschlussreichen gedanklichen Verbindungen, die sich in den Fragen und Vermutungen der Kinder widerspiegelten:  

 - Ist das die andere Hälfte? 
- Das ist aus Plastik, weil da ein Riss ist! 
- Da sind Löwen, Geier und Engel! 
- Mit Edelsteinen und Diamanten! 
- Auf diesem Ding ist der Stein, den wir vorhin schon im Dom gesehen haben! 
- Die Verzierungen sind aber ganz anders als im Dom! 
- Da ist ein Halter aus Gold! 
- Wie teuer sind die Steine wohl? 
- Oder ist das vielleicht gefälscht und gar nicht echt?  

Bild einer Gesprächssituation im Dommuseum
Abb. 6: Gesprächssituation in unmittelbarer Nähe des Objektes im Hildesheimer Dommuseum

Die daran anknüpfende Phase der vertieften Rezeption beschäftige sich unter Berücksichtigung dieser ersten Auseinandersetzung mit den Inhalt-Form-Zusammenhängen und dem Kontext der beiden Objekte (Abb. 6). So wurde die gemeinsame Interaktion zunächst durch die Information angereichert, dass es sich in der Tat um zwei Reliquiare handelt. Doch was ist ein Reliquiar und was ist darin?

- Ist das vielleicht ein Pokal? 
- Das Silberne kann man rausnehmen. Da ist ein Scharnier! 
- Sind die Reliquien in der Dose versteinert? 
- Wie kommen die Reliquien denn nach Hildesheim? 
- Heißt das, dass Jesus mal hier war? 
- Ich habe auch eine Kette von meiner Oma zur Kommunion bekommen! Meine Oma lebt aber noch!  

Neben der Information über die Inhalte der Behältnisse, über Reliquiare und deren religiöse Funktion sowie über die Gründungsgeschichte, mit der ein Teil der Hildesheimer Kinder bereits vertraut war, wurde mit dem Gesprächsimpuls „Habt ihr Dinge, die ihr sammelt oder die wertvoll sind?“ sukzessiv eine Schnittstelle zu kindlichen Lebenswelten evoziert. Die Schülerinnen und Schüler erzählten von ihren Sammlungen, dabei zeigte sich ein vielfältiges Spektrum zwischen wertvollen Erinnerungsstücken, besonderen Fundsachen unterschiedlichster Art und anderen sammlungswürdigen Objekten:

- Eine Kette von meiner Oma! 
- Fell von meinem Hasen! 
- Bilder von Cupcakes!  - Ich sammele Kristalle und die sind sehr wertvoll! 
- Ich sammele CDs von den ‚drei ???‘. Ich habe 176 und sogar mehr! 
- Ich habe mal ein Hirschgeweih gefunden und das habe ich jetzt auch zu Hause! 
- Ich sammele Silbermünzen aus anderen Ländern! 
- Mein Hase ist gestorben und ich habe auch noch Fell von ihm! 
- Ich habe von meinem Uropa eine Uhr und der ist gestorben! 
- Ich habe eine Kette, die ist von meiner Ururoma! 
- Ich sammele gar nichts außer ein paar Videos! 
- Alle vier Wochen fliegen wir zu meinem Opa in die Türkei und da bekomme ich immer einen Ball und das ist dann meine Erinnerung, dass ich an ihn denken kann!

Im weiteren Verlauf des Bildgesprächs stellten die Schülerinnen und Schüler Überlegungen in Bezug auf das Alter der Reliquiare und die Begründung  ihrer zweimaligen Existenz an. Sie fragten sich,  ob beide Objekte, Original und Kopie, gleichermaßen wertvoll sind. 

  • Was vermutet ihr, wie alt die Kapseln wohl sind?  

- Zwei Millionen Jahre! 
- Über ein paar Hundert Jahre! 
- Über 400 Jahre! 

  • Welches ist älter?

- Das im Museum, weil es kaputt ist! 
- Das im Dom, weil es keinen Ständer hat!  

  • Findet ihr das nicht merkwürdig, dass es ein Original gibt und eine Kopie? Warum könnte das wohl so sein?  

- Wenn eins geklaut wird, hat man immer noch das Andere als Andenken!  

  • Warum sieht man das Muster auf dem Original nicht mehr so gut?  

- Weil es alt und abgenutzt ist! 
- Wenn man eine alte Hose hat und immer auf den Knien rutscht, dann nutzt sich das ja auch ab! 

Um die Überlegungen hinsichtlich der Bedeutsamkeit von Original und Kopie weiterhin zu schärfen und konkrete lebensweltliche Bezüge herzustellen, wurde ein Beispiel aus der Lebenswelt eines siebenjährigen Kindes eingebracht (Abb. 7).

Bei den beiden dargestellten Bärenfiguren handelt es sich ebenfalls um ein Original und eine Kopie. Der originalen Figur, die bereits starke Gebrauchsspuren aufweist, kommt dabei ein äußerst hoher Stellenwert zu –  sie begleitet das Kind seit seiner Geburt und übernimmt als Gefährte beispielsweise während des Spielens und Einschlafens eine wichtige Funktion. Die Kopie wird hingegen verwendet, wenn das Original gereinigt oder geschont werden soll, sodass sie vorübergehend als adäquater Ersatz fungiert. Dieses Beispiel aus der kindlichen Lebenswelt führte zu einer weiteren Vertiefung des Gespräches und der Frage, ob eine Replikation (mit Blick auf das Gründungsreliquiar) überhaupt wertvoll sein kann.

Abbildung mit Original und Kopie
Abb. 7: Original und Kopie aus der Lebenswelt eines Kindes
  • Kann denn eine Kopie überhaupt wertvoll sein? Hier im Museum gibt es ja auch eine Kopie ...  

- Es kann nicht wertvoll sein, weil es ja kopiert wurde! Vielleicht gibt es immer zwei, falls eins geklaut wird und dann tauschen sie das einfach aus!
- Die Kopie ist trotzdem wertvoll, aber das Original ist immer das Wertvollere. Es ist nicht wertlos, deshalb ist es ja auch in so einem teuren Kasten mit Alarmanlage. Das Material ist ja auch an sich schon wertvoll, aber das Original ist IMMER das Wertvollere!
 
- Für mich ist beides wertvoll! 

An die Überlegungen hinsichtlich der Signifikanz von Original und Kopie schloss sich in dieser Phase eine bildnerisch-praktische Auseinandersetzung an, um individuelle Bezüge herzustellen und mit Blick auf das Gründungsreliquiar des Dommuseums folglich ein vertieftes Verständnis zu generieren. So beinhaltete die praktische Aufgabe zunächst die Bearbeitung von jeweils zwei Glasbehältnissen (Abb. 8), die mit Blattmetall in Silber oder Gold sowie einem besonderen Kristallstein veredelt wurden, um eigene wertvolle Dinge darin aufbewahren zu können. Ein essenzielles Moment stellte die Anzahl der Objekte dar: Jedes Kind bearbeitete zwei Glasbehältnisse, um nach der Befüllung festlegen zu können, welches der beiden das echte und möglicherweise wertvollere Behältnis ist und welches hingegen als Ersatz behandelt wird. Diese Überlegungen fokussierten erneut die Frage „Kann denn eine Kopie überhaupt wertvoll sein?“ und bildeten bereits den fließenden Übergang zu der Phase des Transfers. 

Bild der Glasbehältnisse, die Kinder bearbeiten
Abb. 8: Glasbehältnisse werden von den Kindern mit Schlagmetall (in Gold oder Silber) bearbeitet

In der Phase des Transfers erfolgte auf Grundlage der eigens gestalteten Behältnisse und in Anbindung an das gemeinsame Gespräch über die Bedeutsamkeit von Original und Kopie eine Rückkopplung an die individuellen Lebensweltzusammenhänge. Diese dritte Phase zeichnete sich insbesondere durch die detaillierte Festlegung des Inhalts der Reliquiare und die entsprechende Zuschreibung von originaler und duplizierter Form aus. Die Schülerinnen und Schüler beschäftigen sich mit der Frage, welche bedeutungsvollen Dinge in zweifacher Ausführung aufbewahrungswürdig sind, um beispielweise eine Erinnerung an einen wichtigen Menschen, ein Haustier oder ein besonderes Ereignis zu konservieren. Diese Überlegungen wurden zunächst schriftlich festgehalten (Abb. 9/10).

Bild eines Notizzettels
Abb. 9: Beschriebene Zettel der Kinder

 

Abb.10: Beschriebene Zettel der Kinder
Abb. 10: Beschriebene Zettel der Kinder

 

Mit Blick auf die eigene Auseinandersetzung – die Umgestaltung der Glasbehältnisse zu wertvollen Reliquiaren sowie die angestellten Überlegungen bezüglich des potenziellen Inhaltes – diente eine abschließende Gesprächssequenz dazu, mit Bezugnahme auf die Bedeutung von Original und Kopie Erkenntnisse und Perspektiven zu bündeln und zu resümieren. Die Phase des Transfers endete mit der Einnahme eines vorausschauenden Betrachtungswinkels auf das nachfolgende Setting, in der die würdevolle Befüllung, Versiegelung und Präsentation der Reliquiare durchgeführt wurde (Abb. 11). 

Abbildung 11 von Kindern gestaltete Behälter
Abb. 11: Jedes Kind gestaltet, befüllt und versiegelt zwei Behälter und entscheidet selbst darüber, welcher Behälter das Original und welcher die Kopie ist.

Fazit 

Die Vermittlung historischer Kunst im Sinne kultureller Bildung hat ihr Ziel darin, dass Kinder die Vergangenheit für ihre Gegenwart als interessant und vielversprechend erfahren. Wenn die Fragen, die in einer weit zurückliegenden Zeit gestellt wurden, heute nicht langweilig, sondern zeitgemäß erscheinen. Wenn also die Dinge der Vergangenheit der Ausgangspunkt dafür sein können, über die Beständigkeit und Veränderlichkeit der eigenen Welt und anderer kultureller Welten nachzudenken. 

Verwendete Literatur

  • Brandt, Michael (Hrsg.) (1989): Kirchenkunst des Mittelalters. Erhalten und erforschen. Katalog zur Ausstellung des Diözesan-Museums Hildesheim. Hildesheim: Bernward.  
  • Brandt, Michael/Höhl, Claudia/Lutz, Gerhard (2015): Dommuseum Hildesheim. Ein Auswahlkatalog. Regensburg. 
  • Brandt, Michael/Höhl, Claudia/Uhlig, Bettina (Hrsg.) (2017): Kinder im Dommuseum Hildesheim: Heft: Das Gründungsreliquiar. „...wie eine Schale, nur verkehrt herum.“ (Heftbetreuung: Carolin Funke). Hildesheim: Universitätsverlag. 
  • Duncker, Ludwig/Müller, Hans Joachim/Uhlig, Bettina (Hrsg.) (2012): Betrachten – Staunen – Denken. Philosophieren mit Kindern zwischen ästhetischer Erfahrung und Reflexion. München: kopaed.  
  • Duncker, Ludwig (2012): Die Kunst der Gesprächsführung. Zum Theorie-Praxis-Verhältnis didaktischen Handels. In: Duncker, Ludwig/Müller, Hans Joachim/Uhlig, Bettina (Hrsg.) (2012): Betrachten – Staunen – Denken. Philosophieren mit Kindern zwischen ästhetischer Erfahrung und Reflexion, 137-157.  München: kopaed.
  • Hein, Barbara (2010): Ich weiß genau, was da passiert. Kinder erklären Kunst. Stuttgart: Belser.  
  • KUNST+UNTERRICHT (2004): Themenheft - Kunstrezeption mit Kindern, Heft-Nr. 288. Seelze: Friedrich. 
  • Krautz, Jochen (2015): Ich, Wir, Welt. Zur Systematik und Didaktik einer personalen Kunstpädagogik. In: Glas, Alexander/Heinen, Ulrich/Krautz, Jochen/Miller, Monika/Sowa, Hubert/Uhlig, Bettina (Hrsg.): Kunstunterricht verstehen. Schritte zu einer systematischen Theorie und Didaktik der Kunstpädagogik, 221-250.  München: kopaed.
  • Krautz, Jochen (2017): Zwischen Selbst und Sache. Bildungstheoretische Grundlagen einer verstehensorientierten Didaktik der Bildbetrachtung. In: Krautz, Jochen (Hrsg.): Beziehungsweisen und Bezogenheiten. Relationalität in Pädagogik, Kunst und Kunstpädagogik, 439-478. München: kopaed. 
  • Lieber, Gabriele (2020): Frühes historisches Lernen. Kinder sprechen über Märchenbuchillustrationen. In: Uhlig, Bettina/Metzger Karl Roland (Hrsg.) (2020): Vermittlung historischer Kunst und Kultur im Elementarbereich. Grundlagen, Dimensionen, Praxis, 90-106. München: kopaed. 
  • Lieber, Gabriele (Hrsg.) (2009): Durch Bilder bilden. Empirische Studien zur didaktischen Verwendung von Bildern im Vor- und Grundschulalter. Baltmannsweiler: Schneider. 
  • Lieber, Gabriele (Hrsg.) (2008): Lehren und Lernen mit Bildern. Ein Handbuch zur Bilddidaktik. Baltmannsweiler: Schneider. 
  • Lieber, Gabriele/Jahn, Ina Friederike/Danner, Antje (Hrsg.) (2009): Durch Bilder bilden. Empirische Studien zur didaktischen Verwendung von Bildern im Vor- und Grundschulalter. Baltmannsweiler: Schneider.  
  • Michalik, Kerstin (2012): Philosophieren mit Kindern und außerschulische Lernorte. In: Duncker, Ludwig/Müller, Hans Joachim/Uhlig, Bettina (Hrsg.) (2012): Betrachten – Staunen – Denken. Philosophieren mit Kindern zwischen ästhetischer Erfahrung und Reflexion, 43-57. München: kopaed. 
  • Müller, Hans-Joachim (1999): Das Gespräch als Werkzeug und Werk. In: Schreier, Helmut (Hrsg.): Nachdenken mit Kindern. Aus der Praxis der Kinderphilosophie in der Grundschule, 23-37. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.
  • Rohrbach, Rita (2009): Kinder & Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft. Seelze: Kallmeyer.  
  • Sowa, Hubert (2016): Wie kommen Bilder ins Gespräch? Hermeneutische Überlegungen zu einer Didaktik des kunstpädagogischen Bildgesprächs. In: Glas, Alexander/Heinen, Ulrich/Lieber, Gabriel/Miller, Monika/Sowa, Hubert/Uhlig, Bettina (Hrsg.): Sprechende Bilder – Besprochene Bilder. Bild, Begriff und Sprachhandeln in der deiktisch-imaginativen Verständigungspraxis, 239-268. München: kopaed. 
  • Tomasello, Michael (2017): Warum wir kooperieren (4. Auflage). Berlin: Suhrkamp. 
  • Tomasello, Michael (2009): Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation. Frankfurt/M.: Suhrkamp.  
  • Uhlig, Bettina (2020): Ein Drachenaquamanile und ein fehlendes Gefäß. Grundlagen und didaktische Konturen einer kindorientierten Vermittlung mit Fokus auf kunst- und kulturhistorische Objekte. In: Uhlig, Bettina/Metzger Karl Roland (Hrsg.) (2020): Vermittlung historischer Kunst und Kultur im Elementarbereich. Grundlagen, Dimensionen, Praxis, 122-146. München: kopaed. 
  • Uhlig, Bettina (2017a): Kind, Objekt und Welt. Grundlagen und Methoden einer kindorientierten Kunstvermittlung. In: Brandt, Michael/Höhl, Claudia/Uhlig, Bettina (Hrsg.): Kinder im Dommuseum Hildesheim. Hildesheim: Universitätsverlag. 
  • Uhlig, Bettina (2017b): Drachenlandungen an außerschulischen Lernorten. In: Röder, Caroline: Auf Bleistiftwegen. Literarische Lern(Orte). kjl&m 3/2017, 57-65. 
  • Uhlig, Bettina (2016): Vom Anfang der Bilder. Bildgespräche mit Kindern. In: Glas, Alexander/Heinen, Ulrich/Lieber, Gabriele/Miller, Monika/Sowa, Hubert/Uhlig, Bettina (Hrsg.): Sprechende Bilder – Besprochene Bilder. Bild, Begriff und Sprachhandeln in der deiktisch-imaginativen Verständigungspraxis, 271-292, Bd. 3 der Reihe IMAGO. Kunst-Pädagogik-Didaktik. München. 
  • Uhlig, Bettina (2012): Von Frauen, die Tauben aus dem Himmel holen. Philosophieren mit Kindern vor und mit Bildern. In: Duncker, Ludwig/Müller, Hans Joachim/Uhlig, Bettina (Hrsg.): Betrachten – Staunen – Denken. Philosophieren mit Kindern zwischen ästhetischer Erfahrung und Reflexion, 79-88. München: kopaed. 
  • Uhlig, Bettina (2011): Bildgespräche mit Kindern. Überlegungen zur Methodik und Didaktik des dialogischen Bildverstehens. In: Kirschenmann, Johannes/Richter, Christoph/Spinner, Kaspar H. (Hrsg.): Reden über Kunst. Fachdidaktisches Forschungssymposium in Literatur, Kunst und Musik. Kontext Kunstpädagogik, 349-372. München: kopaed. 
  • Uhlig, Bettina (2008): Welche Bilder interessieren Kinder? Eine Revision angeblich kindgemäßer Bilder. In: Impulse. Kunstdidaktik 4/2008, 3-13.  
  • Uhlig, Bettina (2005): Kunstrezeption in der Grundschule. Zu einer grundschulspezifischen Rezeptionsmethodik. München: kopaed.

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Bettina Uhlig, Carolin Pauke (2021): Kindorientierte Vermittlung im Museum. Zum Beispiel: ein mittelalterliches Reliquiar . In: KULTURELLE BILDUNG ONLINE: https://www.kubi-online.de/index.php/artikel/kindorientierte-vermittlung-museum-zum-beispiel-mittelalterliches-reliquiar (letzter Zugriff am 16.07.2024).

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