Das Internet als sozialer, politischer, ökonomischer und kultureller Raum. Überlegungen im Anschluss an Shoshana Zuboff: Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus.
Abstract
Das Internet bietet beides: Möglichkeiten der Information, Vernetzung, Unterhaltung, Teilhabe etc., aber auch bislang ungeahnte Möglichkeiten der Verletzung von Privatheit und der Manipulation. Das 2018 erschienene Buch der emeritierten Harvard-Professorin und Sozialpsychologin - schon lange ausgewiesene Expertin in Fragen der Digitalisierung - zeigt, dass alles noch ein wenig schlimmer ist, als man es sich vorgestellt hat. Sie analysiert kritisch die Geschäftsmodelle von Google und Co, sie zeigt, wie genial Ergebnisse der Verhaltensforschung genutzt werden und dass all dies kompatibel mit den Prinzipien des Neoliberalismus ist. Nicht zuletzt beschreibt sie die Auswirkungen auf die Formung der Subjekte, was sie als Angriff auf die Menschenwürde deutet. Es gibt also viele Gründe für die Kultur- und Medienpädagogik, sich gründlich mit diesem Buch zu beschäftigen. Der vorliegende Beitrag versucht, die Analysen der Autorin zu der Konzeption eines starken Subjektes in Beziehung zu setzen, und er zieht Schlussfolgerungen daraus für die Kulturelle Bildungspraxis.
Vorbemerkung
Die vorliegenden Überlegungen sind zum einen eine Art Zusammenfassung des überaus anregenden und alarmierenden Buches von Shoshana Zuboff (2018). Sie schließen zum anderen an frühere Überlegungen an, bei denen ich – angesichts einer gewissen Euphorie in der Kulturpädagogik gegenüber den scheinbar grenzenlosen Möglichkeiten des Internet am Ende des letzten Jahrhunderts – daran erinnern wollte, dass es einen Unterschied zwischen dem Leben im Netz und in der Realität gibt („Ein virtuelles Würstchen kann man nicht essen“), weil massive reale Probleme auch in Zeiten des Internet weiterbestehen.
Zum anderen hatte ich festgestellt, dass die ehemals kritisch eingestellte Medienpädagogik das Internet so behandelte, als ob Fragen der Macht und der Ökonomie hier gar keine Rolle mehr spielten. Ich griff daher das von einer Berliner Forschungsgruppe vorgeschlagene Konzept des „Kulturraums Internet“ auf und sprach von dem „heimlichen Lehrplan Internet“, um zu zeigen, dass das Internet ein Raum ist, in dem natürlich auch Regeln gelten und der mit ganz realen ökonomischen und Machtstrukturen verbunden ist.
In Zeiten, in denen ehemals junge Student*innen von Eliteuniversitäten in Garagen Aktivitäten entfalteten, die sie zu Milliardären machten und die heute in jeder der in der Überschrift genannten Dimensionen (politisch, kulturell, ökonomisch, sozial) einen scheinbar unkontrollierbaren Einfluss ausüben, dürfte die Naivität der Anfangszeit überwunden sein (siehe entsprechend Thomas Damberger „Herausforderungen der kulturellen Bildung im Digitalzeitalter“ sowie Niesyto 2018). Dass durch eine Handvoll junger Leute – inzwischen zusammen mit einer deutlich größeren Anzahl hochspezialisierter und begabter Experten*innen – ein gesellschaftlicher Wandel provoziert wurde, der den Vergleich mit der wissenschaftlich-technischen Revolution zu Beginn der Neuzeit und der Industriellen Revolution seit dem 18. Jahrhundert nicht zu scheuen braucht, ist in seinen Konsequenzen möglicherweise noch nicht so deutlich bewusst. Aber vor diesem Hintergrund erhält das Buch der Sozialpsychologin Zuboff seine hohe Relevanz.
Vorgeschichte und Entwicklungsetappen
Wie bei jeder Entwicklung lassen sich auch bei der Geschichte des Internet verschiedene Anfangszeiten benennen: die erste automatische Rechenmaschine (Leibniz, Pascal), die Lochkartenmaschine (Hollerith), die röhrenbestückten Rechner von Konrad Zuse. Ein entscheidender Wendepunkt ist sicherlich die Erfindung von Halbleitern, Dioden und Transistoren, die die störungsanfälligen Röhren mit ihrem großen Energieverbrauch ersetzten. Transistoren ersetzten schließlich auch elektromechanische Maschinen (etwa im Fernmeldebereich in den späten 1960er Jahren). Auf dieser Grundlage entstanden Großrechner und entsprechende Programmiersprachen, die die Bauteile steuerten. Zu den Ingenieur*innen und Physiker*innen traten nunmehr die Informatiker*innen und Programmierer*innen.
Es fand ein Paradigmenwechsel von Großrechnern (IBM) zu Personalcomputern statt – eine erste Form der Individualisierung in diesem Feld. Flankiert wurde dies durch Programmierer wie Bill Gates, die durch ein Betriebssystem die verschiedenen technischen Bauteile miteinander verbanden und zum Leben erweckten.
Es waren also zuerst die Physiker*innen und Techniker*innen, die auch weiterhin durch revolutionäre Erfindungen – gerade im Speicherbereich – die weitere Entwicklung ermöglichten. Dazu kamen dann die Programmierer*innen und schließlich Menschen wie Steve Jobs, der mit seinen neuartigen Konfigurationen den Markt eroberte. Man konnte also Geld verdienen, was clevere Ökonomen, die den Kreis der bisherigen Spezialist*innen in Technik, Programmierung und Design ergänzten, dann auch taten. Interessant ist, dass Entwicklungen mit einer zunächst begrenzten internen Aufgabe der Arbeitserleichterung – etwa der Datenübertragung von Rechner zu Rechner oder als Plattform für studentisch-pubertäre Interessen wie Facebook – zunehmend in ihrem sehr viel weiterreichenden Potenzial erkannt wurden.
Zuboff geht davon aus, dass Apple und Microsoft ihre Datenerfassung bei Endverbraucher*innen am Anfang tatsächlich zur Verbesserung der Produkte betrieben, während Google und später Facebook bereits recht früh die Nutzerdaten ihrer jeweiligen Produkte für Zwecke jenseits der propagierten Anwendung, nämlich für eine immer passgerechtere Werbung, verwendeten.
Nach Ingenieur*innen, Programmierer*innen, Produktdesigner*innen und Ökonom*innen kamen schließlich Ideolog*innen, die mehr oder weniger elaborierte Visionen für die globale Gestaltung des Sozialen mit ihren Produkten kommunizierten. Zwar blieb Zuckerberg dabei eher auf dem Niveau seiner adoleszenten Frühzeit, doch hatte er Vorläufer bei Ideologen des Internets aus den ersten Jahren wie etwa dem Greatful Dead Sänger John Barry Barlow mit seiner Deklaration zur Freiheit im Internet. Heute sind es vielseitig begabte Theoretiker wie Alex Pentland („Sozialphysik“), die die entsprechende Szene mit deutlich anspruchsvolleren, allerdings deshalb auch gefährlicheren Ideologien versorgen.
Basistheorien und Grundlagen für den Erfolg
Die Zeiten waren in vielfältiger Hinsicht günstig für die hochbegabten Informatiker wie Bill Gates, Marc Zuckerberg, Larry Page und Sergei Prim, die zudem klug genug waren, clevere Strategen wie Eric Schmidt oder Cheryl Sandberg zu engagieren. In ökonomischer Hinsicht war es der Neoliberalismus, so Zuboff (a.a.O.: 593ff.), wie er in Chicago von Milton Friedman vorgedacht wurde. Damit war ein bestimmtes Verständnis von Freiheit – bzw. einer durchaus erfolgreichen Umdeutung dieses politischen Begriffs – verbunden: Freiheit nämlich nicht als Freiheit eines selbstbestimmenden Individuums, sondern als Freiheit des Unternehmers, machen zu können, was ihm nützlich erscheint. Ein freier und unregulierter Markt wird als Grundbedingung einer Demokratie propagiert, so wie sie die neoliberale Ideologie versteht. Der Staat mit seinen Regulierungswünschen (und mit seiner Anforderung, Steuern zu bezahlen) ist ein Hindernis bei der Realisierung einer solchen Freiheit, seine Gesetze sind veraltet und können mit der technischen Entwicklung nicht Schritt halten, so heißt es vielfach in Stellungnahmen der Akteure in diesem Feld. Daraus ergibt sich für diese das Recht, diese gesetzlichen Regelungen nicht berücksichtigen zu müssen. Weil hinreichend Finanzmittel zur Verfügung stehen, fanden sich zahlreiche Wissenschaftler*innen, die diese Überzeugungen mit ihren Expertisen unterstützten. Zuboff spricht von über 1000 Studien aus dem Hochschulbereich, die eine entsprechende Interpretation – vor allem des ersten Verfassungszusatzes der amerikanischen Verfassung – vornehmen. (ebd.: 135ff.)
Politisch auf derselben, letztlich antidemokratischen und (im klassischen Sinne) antiliberalen Linie liegt die Nutzung der Verhaltenspsychologie von Skinner. Dieser hat den Behaviorismus nämlich nicht nur als durchaus erfolgreiche Methode der Verhaltensmodifikation verstanden, sondern zu einer umfassenden totalitären Gesellschaftsvision weiter entwickelt (ebd.: 377ff.). Angewandte Verhaltenspsychologie findet in vielfacher Hinsicht insbesondere rund um Facebook und Google statt (siehe unten).
Man muss dabei sehen, dass mit den Angeboten der genannten Unternehmen reale menschliche Bedürfnisse angesprochen, dann aber in einer sehr engen und spezifischen Weise „befriedigt“ werden, so wie sie den Interessen der Anbieterfirmen dienen. So will sich der – insbesondere junge – Mensch in sozialen Gruppen (peer group) vergleichen, er will verbunden sein („Teilhabe“), er will spielen, er will sich gespiegelt sehen im Meinungsbild anderer. All dies wird durch die gesellschaftliche Entwicklung (Stichwort Individualisierung) verstärkt, gestützt und sogar gefordert. Offensichtlich liegen die Angebote von Facebook und Co auf dieser Linie realer individueller Bedürfnisse und gesellschaftlicher Entwicklungen. Sie greifen sie auf, nutzen sie im eigenen Interesse und gestalten zunehmend selbst die gesellschaftliche Entwicklung.
Ein weiteres Spezifikum, das Zuboff präzise ausarbeitet, ist die völlige Indifferenz gegenüber den Inhalten („Content“) der Daten. Alles hilft den Unternehmen bei ihrem Ziel einer immer präziseren und umfassenderen Datenerfassung, wobei ethische Maßstäbe geradezu hinderlich wären. Daher wehrt man sich vehement dagegen, Verantwortung für die Inhalte zu übernehmen – auch unter Bezug auf das zentrale Recht der Meinungsfreiheit. Man muss dabei sehen, dass durch die Postmoderne ohnehin der Boden bereitet war, Wahrheitsansprüche zu relativieren oder sogar zurückzuweisen: Ein Unterschied zwischen News und Fake News ist vor diesem Hintergrund kaum noch auszumachen.
Was ist neu am digitalen Kapitalismus? Auf dem Weg zur dritten Moderne
Der Industrie-Kapitalismus entstand auf der Basis technischer Entwicklungen wie der Dampfmaschine und einer neuen Form des Umgangs mit Vermögen. Die technischen Entwicklungen hatten dabei zunächst durchaus immanente Bewegungsursachen, etwa die Neugierde der Entwickler (es waren zu dieser Zeit nur Männer) und das Interesse an Verbesserungen des ursprünglich katastrophalen Wirkungsgrades der ersten Dampfmaschine. Doch ergab sich rasch eine Liaison zwischen dem Erfindergeist und einer Gewinnorientierung. Die neuen Kapitalisten legten dabei ihr Geld in Maschinen und Fabriken an und wurden zu Besitzern der Produktionsmittel, während die Arbeiter*innen – zunächst vertriebene Bauern und Tagelöhner – nur ihre Arbeitskraft hatten. Dies ist der Grundzug der Marxschen Klassentheorie.
Der Industrie-Kapitalismus beruht dabei nicht nur auf der Ausbeutung der Arbeitenden: Er wird auch durch ein zwar produktives, aber eben auch ausbeuterisches Verhältnis zur Natur charakterisiert. In diesem Mensch-Natur-Verhältnis wird nicht nur die Natur verändert (und – wie deutlich zu spüren ist – auch zerstört), es wird auch der Mensch entsprechend geformt: Jede Gesellschaftsordnung korrespondiert mit einer bestimmten Subjektform (vgl. Fuchs 2012). Immerhin hat sich im Zuge der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft und dem ökonomischen Liberalismus auch der moderne philosophische und politische Liberalismus entwickelt: der Anspruch der Menschen auf Mit- und Selbstbestimmung, ganz so, wie es die Menschenrechte formulieren (vgl. Fuchs 2019a: Teil 2).
Wirtschaft, Gesellschaft, Politik und Kultur (Religion, Künste, Wissenschaften, Erziehungssystem) entwickeln sich entsprechend und bedingen einander. Immerhin geht Zuboff davon aus, dass sich dieser entwickelte Kapitalismus immer noch auf reale Bedürfnisse der Menschen bezieht (vgl. Zuboff2018: 49ff.): Sie ist keine grundsätzliche Gegnerin der Marktwirtschaft, denn innerhalb dieses Kontextes konnten sich die liberalen Vorstellungen vom Menschen als gestaltendes Subjekt seines Lebens und die Vision einer demokratischen Ordnung entwickeln (vgl. Fuchs 2019a). Dieses System geriet in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ins Stolpern. Man sprach von einer Zweiten Moderne, bei der der Dienstleistungsbereich den Industriebereich an Bedeutung überholte.
Auch dies war eine Entwicklung, die alle Gesellschaftsbereiche erfasste und die die Rede von einer Postmoderne, einer Zweiten Moderne, einer reflexiv gewordenen Moderne etc. provozierte. In den Wissenschaften ist man sich bis heute uneinig, ob es sich um ein Ende (der Geschichte, der Moderne, des souveränen Subjekts etc.) oder bloß um eine neue Etappe der Moderne handelt (vgl. Schimank/Volkmann 2000).
In dieser Phase beginnt der eingangs beschriebene Prozess der Digitalisierung. Zuboff sieht den grundlegenden Paradigmenwechsel dieser von ihr „Überwachungskapitalismus“ genannten Entwicklungsphase darin, dass nunmehr der Mensch selbst unmittelbar zum Gegenstand ökonomischer Interessen wird: Ebenso, wie der Industrie-Kapitalismus die Natur bearbeitet, ausbeutet und in Teilen zerstört, sind es nunmehr der Mensch und seine komplexen Lebensvollzüge, die erfasst, bearbeitet, verändert werden - natürlich mit dem gleich gebliebenen Interesse an Gewinn.
Dass dies inzwischen gelungen ist, zeigen nicht nur die Rede vom „digitalen Kapitalismus“, sondern auch der gigantische Reichtum und die Macht von Facebook, Microsoft, Apple und Google. Dabei – und darauf weist Zuboff stets hin – ist es nicht das Technische der Digitalisierung, das quasi im Selbstlauf zu der Entwicklung führt, sondern es ist der spezifische Gebrauch von Technik (vgl. Fuchs 2019b). Technik selbst mag sicherlich nicht unschuldig sein, sondern bedarf – wie jedes vom Menschen hergestellte Werkzeug und Mittel – der ständigen ethisch-moralischen Bewertung (vgl. Fuchs 2019b). Doch ist es erst die menschbezogene und letztlich die Menschlichkeit verachtende Benutzung digitaler Technik, die zu dem Überwachungskapitalismus führt.
Zuboff charakterisiert diesen neuen Kapitalismus wie folgt:
„Überwachungskapitalismus, der
1.neue Marktform, die menschliche Erfahrung als kostenlosen Rohstoff für ihre versteckten kommerziellen Operationen der Extraktion, Vorhersage und des Verkaufs reklamiert; 2. eine parasitäre ökonomische Logik, bei der die Produktion von Gütern und Dienstleistungen einer neuen globalen Architektur zur Verhaltensmodifikation untergeordnet ist; 3. eine aus der Art geschlagen Form des Kapitalismus, die sich durch eine Konzentration von Reichtum, Wissen und Macht auszeichnet, die in der Menschheitsgeschichte beispiellos ist; 4. Fundament und Rahmen einer Überwachungsökonomie; 5. so bedeutend für die menschliche Natur im 21. Jahrhundert wie der Industriekapitalismus des 19. und 20. Jahrhunderts für die Natur an sich; 6. der Ursprung einer neuen instrumentären Macht, die Anspruch auf die Herrschaft über die Gesellschaft erhebt und die Marktdemokratie vor bestürzende Herausforderungen stellt; 7. zielt auf eine neue kollektive Ordnung auf der Basis totaler Gewissheit ab; 8. eine Enteignung kritischer Menschenrechte.“ (Zuboff 2018: 7)
Offensichtlich werden alle Gesellschaftsbereiche angesprochen: Wirtschaft, Politik, Soziales und verschiedene kulturelle Felder (Wissenschaften, Religion etc.). Es geht insbesondere um einen gravierenden Wandel im Konzept des Subjekts, bei dem alle bisherigen Errungenschaften einer Entwicklung starker Subjektivität begrenzt bzw. beendet werden.
Interessant ist in diesem Zusammenhang die Entwicklung im Umgang mit dem Internet in den letzten 20 Jahren. Schon am Ende des letzten Jahrhunderts war erkennbar, dass es mit Microsoft und Co eine Monopolisierung der Verfügungsgewalt über das im Netz verfügbare Wissen gab, sodass sich die Frage nach der politischen, ökonomischen und kulturellen Macht ergab – und auch diskutiert wurde. Doch markiert der Übergang zu einer systematischen Generierung von Wissen über die Nutzer*innen, die Umwandlung von Nutzer*innen in eine Quelle für den Rohstoff erfasster Daten – auch über (scheinbar) kostenfrei zur Verfügung gestellte Angebote wie YouTube oder das Betriebssystem Android – den von Zuboff klug beschriebenen Paradigmenwechsel (siehe auch Damberger 2018).
Veränderungen in einzelnen Gesellschaftsfeldern – einzelne Stichworte aus subjektwissenschaftlicher Perspektive
Hier kann nicht die komplexe Analyse der unterschiedlichen Facetten der Veränderung wiedergegeben werden, die Zuboff auf den über 700 Seiten ihres Buches entfaltet. Es sollen nur einige Stichworte genannt werden, die dem subjektwissenschaftlichen Interesse des vorliegenden Textes entsprechen.
Im Bereich der Ökonomie hat man es mit einem Oligopol aus den vier großen Playern (Google, Facebook, Microsoft und Apple) zu tun. Es ist eine Realisierung neoliberaler Prinzipien in Reinform, bei der der „Markt“ – als Mythos und Religion – rhetorisch im Mittelpunkt steht, was die Akteure jedoch nicht daran hindert, ungeniert Prinzipien eines freien Marktes zu verletzen. Letztlich geht es um den permanenten Versuch einer Monopolisierung und einer totalen Kontrolle und Marktbeherrschung, wobei eigentlich verachtete Prinzipien der herkömmlichen Ordnung - etwa der Rechtsordnung – zur Durchsetzung eigener Interessen genutzt werden. Dabei werden durchaus Entwicklungen des herkömmlichen Kapitalismus (sich öffnende Schere zwischen Arm und Reich, Imperialismus, Nutzung unterschiedlicher nationaler Regelungen, Multinationalität, Produktionsverlagerungen etc.) benutzt und forciert. Neu ist ein Umgang mit Wissen, der bisherigen Standards – und letztlich auch den Menschenrechten – widerspricht. Er besteht im Wesentlichen darin, öffentliche Daten als handelbares Wirtschaftsgut zu verstehen und die Privatheit des Einzelnen zu negieren. Das dahinter stehende Selbstverständnis wird in „Deklarationen“ von Google deutlich, in denen Google ungeniert Anspruch auf die kommerzielle Nutzung aller öffentlichen Daten, auf Erhebung aller möglichen Verhaltensdaten der Menschen und auf die alleinige Nutzung dieser Daten im eigenen ökonomischen Interesse formuliert (vgl. Zuboff 2018: 210).
Dies gilt auch für die enge Liaison mit der Politik. So wurden nach 9/11 die Schutzsysteme des Einzelnen und des Privaten immer mehr durch den Staat gelockert, sodass es zu einer intensiven Zusammenarbeit der Geheimdienste mit den genannten Unternehmen, gekommen ist. Auch im Hinblick auf die Einflussnahme auf Wahlen ist es keineswegs Trump, sondern es war Obama, der den Unternehmen und insbesondere Google Türen der Einflussnahme auf Gesetzgebung und Administration geöffnet hat. Eric Schmidt wurde von Obama in alle möglichen strategischen, politischen und ökonomischen Think Tanks, Beratungs- und Steuerungsgremien berufen. Damit war eine Uminterpretation fundamentaler Begriffe (Freiheit, Teilhabe, Souveränität, Schutz des Privaten, Meinungsfreiheit etc.) verbunden. Dies gilt auch für die Konstitution des Sozialen, vor allem über Facebook. Es geht um ein anderes Verständnis von Zusammenhalt („Vernetzung“; „Schwarm“), um andere Kommunikationsformen (Twitter), um neue Formen von (Selbst-) Reflexivität (Likes) etc. Zuboff spricht von einer quasi-religiösen Haltung gegenüber dem Netz, wobei von informationeller Selbstbestimmung keine Rede mehr sein kann. So nennt Zuboff die Chefideologen wie Alex Pentland „Priester der instrumentären Macht“ (ebd.: 481ff.).
Eine neue Stufe der Entwicklung wird nunmehr durch eine Synthese der digitalen mit der (materiellen) Welt der Dinge erreicht (Smarthome, Smart City etc.). Die Zerstörung der Demokratie durch den Überwachungskapitalismus macht Zuboff an folgenden Entwicklungen fest:
„die unbefugte Enteignung menschlicher Erfahrung, die Übernahme der Wissensteilung in der Gesellschaft, die strukturelle Unabhängigkeit vom Menschen an sich, das Aufoktroyieren des kollektivistischen Schwarms, den Aufstieg der instrumentären Macht und seiner radikalen Indifferenz, auf die seine Extraktionslogik sich stützt, Aufbau, Besitz und Betrieb der Mittel zur Verhaltensmodifikation, die ich als Big Other bezeichnet habe, die Aufhebung des natürlichen Rechts auf Zukunft und des natürlichen Rechts auf Freistatt, Unterminierung des selbstbestimmten Individuums als Dreh- und Angelpunkt demokratischen Lebens und das Bestehen auch die psychische Abstumpfung als Antwort auf sein illegitimes Quidproquo.“ (Zuboff 2018: 592f.)
Das digitale Subjekt
Wie jede ökonomische, politische und insgesamt gesellschaftliche Ordnung prägt auch der Überwachungs-Kapitalismus die Konstituierung von Subjektivität (vgl. Fuchs 2012; Zuboff thematisiert dies durchgehend unter Bezug auf Skinner, siehe etwa 385ff.). Diese Prägung bedeutet: die Formung eines willfährigen Menschen, der seine Person als Beschaffungsstelle von Daten, als Objekt manipulativer Formung und natürlich nicht zuletzt als Konsument zur Verfügung stellt. Als wissenschaftliche Basistheorie kann eine erfolgreich angewandte Verhaltenspsychologie gelten. Zuboff zeigt, in welcher Weise die subjekt- und gesellschaftsbezogenen Visionen einer totalen Verhaltenssteuerung von Skinner durch die betriebene Kommodifizierung von Verhalten Wirklichkeit werden (vgl. ebd.: 503ff.). Es werden dabei alle Dimensionen der Persönlichkeit berührt, die erforscht, bearbeitet und – im eigenen Interesse – geformt werden: die Wahrnehmung, die Kognition, die Emotionalität, das Sozialverhalten, das Verhältnis zu sich und zur Natur, die Werte, die Einstellungen, der Wille, das Wissen etc. Damit werden alle Dimensionen des in der Neuzeit entstanden Konzeptes eines autonomen Subjekts (Fuchs 2012; 2016; 2017) bearbeitet: Empathie, Lernen, die Setzung eigener Ziele, Selbstreflexion, Authentizität, Integrität, Impulskontrolle, Selbstregulierung (vgl. Zuboff 2018: 350 ff.; vgl. auch Gerhardt 1999)
Gesellschaftlich macht man sich die alte Erkenntnis von Francis Bacon zunutze: Wissen ist Macht. Es geht den Überwachungskapitalist*innen um das totale Wissen, über das die Firmen selbst verfügen und das sie mittels raffinierter – und oft kostenfreier – Angebote den Nutzer*innen bereitstellen (YouTube, Betriebssysteme, Suchmaschinen, Fitness-Tracker, Streamingdienste etc.), welches jedoch als unternehmerisches Geheimwissen und Betriebsgeheimnis nicht preisgegeben wird.
Dabei geht es längst nicht mehr um eine Beschreibung vergangenen oder gegenwärtigen Verhaltens: Zuboff weist darauf hin, dass die aktuelle Entwicklungsphase auf die Eroberung der Zukunft des*der Einzelnen (und der Gesellschaft) zielt, insofern Verhaltensvoraussagen auf der Basis detaillierter Studien des vergangenen Verhaltens des*der Einzelnen zu bestimmen versuchen, wo der Mensch was mit wem demnächst tun wird. Google will quasi „Co-Pilot“ des einzelnen Lebens werden. Zuboff nennt solche Produkte Vorhersageprodukte und fordert ihr Verbot. Denn es wird zum einen gegen das Recht auf Vergessen (im Internet: digitale Enteignung) und das Recht auf (selbstbestimmte) Zukunft und auf Ungewissheit verstoßen (ebd.: 357 ff.). Es sind raffinierte Algorithmen und Maschinen, in die die Subjektivität, insbesondere die Willensfreiheit und damit das Recht auf ein selbstgestaltetes Leben, verlagert werden. Zuboff spricht von der instrumentären Macht, die keine Flucht, keinen Ausweg offen lässt: „No Exit!“ (ebd.: 539).
An dieser Stelle rezipiert sie auch Totalitarismustheorien, etwa von Hannah Arendt. Allerdings sieht Zuboff wesentliche Unterschiede zwischen dem alten Totalitarismus und dem „Instrumentären“ der Überwachungskapitalist*innen (siehe die vergleichende Tabelle von Zuboff auf Seite 441). Einzelne Aspekte:
- Radikale Vereinzelung im herkömmlichen Totalitarismus versus radikales Verbunden sein;
- Kontrolle der Gewaltmittel vs. Kontrolle der Wissensteilung in der Gesellschaft;
- Big Brother versus Big Other (die Maschinenwelt);
- hierarchische Verwaltung des Terrors vs. Besitz der Mittel zur Verhaltensmodifikation etc.
Allein diese wenigen Beispiele zeigen, dass der neue Totalitarismus von Google und Co gefährlicher ist, weil er als solcher weniger erkannt werden kann und viele Operationen verdeckt und scheinbar in Übereinstimmung mit den Menschen stattfinden.
Widerstand ist möglich
Völlig ohne Hoffnung lässt uns die Autorin nicht. Dies schon alleine deshalb, weil die Suggestion von Alternativlosigkeit, Zwangsläufigkeit und Unvermeidbarkeit zu den Prinzipien der von Google und Cogewünschten, schönen neuen Welt gehört. Wie Günter Dux (2013) ausführlich erläutert, widerspricht bereits jede Form des Kapitalismus demokratischen Prinzipien. So weit geht Zuboff nicht, doch gelten die Kritikpunkte von Dux erst recht für den Überwachungskapitalismus, weil er alle, wirklich alle demokratischen Prinzipien aufhebt oder so uminterpretiert, dass sie in ihr Gegenteil umgewandelt werden. Daher ist die demokratische Tugend des Widerstandes gefordert. Allerdings ist für einen effektiven Widerstand die klare Kenntnis über die Wirkungsweise und über das Zustandekommen des aktuellen Zustands nötig.
Zuboff gibt die folgenden Etappen und Entwicklungsfacetten an:
- man konnte am Anfang der Entwicklung nicht erkennen, worauf sie hinausläuft
- Google erklärte durch „Deklarationen“ öffentlich zugängliche bzw. private Daten zu seinem Eigentum
- die neoliberale Ideologie schützt die Unternehmen vor Einmischung des Staates
- die genannten Unternehmen haben sich stark durch finanzielle Unterstützungen in die Wahlkämpfe eingemischt
- man setzte sich ohne Sanktionen befürchten zu müssen – über gesetzliche Regelungen weg
- man lockt die Nutzer mit kostenlosen Diensten, die durchaus realen Bedürfnissen entsprechen
- man vermittelte das Gefühl, dass man ohne Nutzung der entsprechenden Angebote kein gelingendes Leben führen kann
- man inszeniert sich als heroischen Unternehmer (In dem Buch gibt es keine gendergerechte Schreibweise.)
- man überträgt die im eigenen Arbeitsbereich natürlich vorhandene Kompetenz auf eine Autorität im Hinblick auf die Gestaltung der gesamten Gesellschaft
- man nutzt innovativ und kreativ Methoden der Werbung
- man stellt die Entwicklung als alternativlos dar
- man vermittelt das Gefühl, sich nicht mehr wehren zu können
- man wendet geschickt die Ergebnisse der Verhaltensökonomen an
- man baut sein Wissensmonopol weiter aus
- man forciert die Entwicklung immer neuer Techniken in einer Weise, dass eine kritische gesellschaftliche Reflexion kaum stattfinden kann (ebd.: 398 ff.)
Trotzdem gibt es ein Aufbegehren zum Schutz des Privaten, es gibt einen Datenschutz, es gibt eine wachsende Verpflichtung der großen Unternehmen zur Selbstkontrolle, es gibt eine neue Betonung der Rolle des Staates als Schutzinstanz für den Einzelnen und nicht als Türöffner für die Firmen. Es gibt Aktivist*innen und zivilgesellschaftliche Organisationen, die den Kampf aufgenommen haben, die die Rechtsverstöße und Lügen öffentlich machen. Nicht zuletzt gibt es ehemalige Mitarbeiter*innen, die trotz Androhung drakonischer lebenszerstörender Strafen schmutzige Betriebsgeheimnisse veröffentlichen. Dabei ist die Erkenntnis von Unternehmensstrategien oft nicht schwer. Gerade Eric Schmidt, aber auch Zuckerberg und Co publizieren, halten Vorträge, geben Interviews, in denen sie – oft mit überraschender Offenheit – ihre problematischen Weltanschauungen und Ziele mitteilen. Ein Beispiel:
„‘Die Leute haben keinen Halt mehr. Eine Menge von dem, was ihnen früher Halt gegeben hat, existiert nicht mehr.‘ Zuckerberg glaubt, dass er und seine Firma für eine Zukunft sorgen können, ‚die allen etwas bringt‘, und ‚persönliche, emotionale und spirituelle Bedürfnisse‘ zu erfüllen, mit anderen Worten ‚Sinn und Hoffnung‘, ‚moralische Bestätigung‘ sowie den ‚Trost, nicht alleine zu sein‘, zu geben vermag.“ (Zuboff 2018: 466)
Zuboffs schlussendliche Aufforderung lautet: Seid Sand im Getriebe!
Es gibt also die Hoffnung auf das starke widerständige Subjekt, das durchaus die Vorteile des Digitalen nutzt, das sich nicht weltfremd von der Entwicklung der Technik abwendet, das sich aber dessen bewusst ist, dass Technik als Menschenwerk auch von Menschen gesteuert werden kann und muss: Es kommt auf die Ziele und Werte an, die man verfolgen will.
Konsequenzen für die Kulturelle Bildung
Die von Zuboff beschriebene und analysierte Entwicklung betrifft zwar wesentlich den Umgang mit Medien, sodass sich eine Kritische Medienpädagogik davon angesprochen fühlen muss; denn die sozialen Netzwerke sind aus der Lebenswelt der Heranwachsenden nicht wegzudenken. Mehr noch muss es angesichts dieses kulturellen Wandels aber darum gehen, auch die (nicht mehr so ganz) neuen Medien als weitere wichtige Bildungsmöglichkeit zu nutzen, so wie es in den schon älteren Konzepten einer Kulturellen Medienbildung und neuen Kulturpädagogik angedacht wird. Allerdings geht der dargestellte Entwicklungsprozess weit über die Zuständigkeit einer pädagogischen Spezialdisziplin und sogar der Pädagogik insgesamt hinaus. Es geht um grundlegende Veränderungsprozesse der Gesellschaft und der Subjekte, sodass die Forderung einer Repolitisierung der Pädagogik (Fuchs 2017a) erneut erhoben werden muss. Insbesondere bedeutet es die Forcierung einer Kritischen Kulturpädagogik (Fuchs/Braun 2017).