Das Instrument als responsives Ding und als konstituierendes ‚Mit‘ im sozialen und musikalischen Geschehen
Abstract
Im Rahmen einer phänomenologisch orientierten, empirisch-rekonstruktiven Forschungsarbeit wird aufgezeigt, welche Dimensionen gemeinsame ästhetische Praxen in Bezug auf Soziales, Ästhetisches und Materielles aufweisen. Die in das Gruppengeschehen involvierten Kinder sind sowohl in eine soziale, interaktiv-musikalische Praxis eingebunden als auch in eine von Responsivität geprägte, leiblich-körperliche Beziehung mit dem Instrument. Es lässt sich fragen, wie diese Verschränkung dieser zwei doch unterschiedlichen Bereiche beschrieben werden kann und welche Bedeutung der möglichen Erfahrung des Kindes zukommt.
Einleitung
In diesem Artikel geht es zum einen um soziale Interaktionen unter Kindern in einem musikpädagogischen Setting: Es ist ein soziales und musikalisches Miteinander, geprägt von Bemühungen, gegenseitiger Hilfeleistung, ungeklärten Spieltechniken, Kraftanstrengungen und Geschmacksurteilen. Zum anderen sind Instrumente in das (soziale) Geschehen involviert und – für alle Beteiligten – unübersehbar, unüberhörbar und „unhintergehbar“. Der Begriff der sozialen Interaktion greift deshalb für die folgende Vertiefung zu kurz, weil der Fokus auf einen Zwischenraum gerichtet wird, in dem nicht nur Menschen, sondern auch Instrumente Teil des (sozialen) Geschehens sind.
Alltägliche soziale Interaktionen werden oftmals vor dem Hintergrund einer sprachgebundenen, (möglichst) effizienten und akkuraten Verhandlung betrachtet (vgl. Maiwald/Sürig 2018:19). Es wird davon ausgegangen, dass ein klares Ziel verfolgt, etwas unter mehreren Personen verhandelt, geklärt, erledigt wird. Steht ein Bedürfnis im Vordergrund, ein gemeinsamer Austausch oder eine Diskussion, weicht die Interaktion womöglich von einer möglichst effizienten Linie ab. Die Hauptmerkmale der sozialen Interaktion bleiben dabei die Verbalsprache, die Gestik und die Mimik.
Je näher wir in den Bereich körperlicher und/oder ästhetischer Praxen (Deckert-Peaceman/Dietrich/Stenger 2010:101 ff.) gelangen, die ebenso innerhalb sozialer Interaktionen stattfinden können, desto mehr können der Materialität, der Medialität und dem Gegenständlichen (mitwirkende) Rollen (vgl. Hahn 2016; Schatzki 2016) zugeschrieben werden. In gemeinsamen ästhetischen Praxen nehmen sie einen besonderen Stellenwert ein: Es wird gemeinsam etwas Sicht-, Hör- oder Spürbares hergestellt und zum Gegenstand der (sozialen) Interaktion gemacht. Etwas Neues entsteht in und aus einer gemeinsamen sozialen, aber auch ästhetischen und materialen Auseinandersetzung. Solche prozessualen Emergenzphänomene unterliegen nicht per se den Regeln eines alltagsnahen, zielorientierten Handelns, sondern können ihrerseits neue Bedeutungen und Symbolbildungen schaffen.
Am Beispiel des gemeinsamen Musizierens und Übens wird im Folgenden gezeigt, wie das Kind sowohl in ein soziales, interaktiv-musikalisches Gruppengeschehen als auch in eine von Responsivität geprägte, leiblich-körperliche Beziehung mit dem Instrument eingebunden ist. Das Instrument seinerseits ist als physikalisch-räumliches und affizierendes Gegenüber, als Werkzeug oder Medium, als auffordernder und herausfordernder Gegenstand stets beteiligt.
Dass Instrumente in Tätigkeiten musikpädagogischer Settings involviert und eingebunden sind, Kinder mit ihnen spezifische Erfahrungen machen und in ihrem Austausch untereinander durch die Instrumente und deren „Anteile“ am Geschehen animiert werden (können), klingt trivial. Angesichts der zu findenden Forschungsarbeiten und deren Schwerpunktsetzungen ist die Frage danach, wie das konkret geschieht, als Untersuchung aber durchaus erstrebenswert. Es wird zwar viel über den Gegenstand des Musikunterrichts geschrieben und diskutiert, der Gegenstand begrenzt sich allerdings oft auf das Nichtstoffliche, das zu Vermittelnde, das zu Lernende. Selten kommt das Materielle, das physikalisch-räumlich Vorhandene und mitunter körperlich zu Beherrschende als Teil des (sozialen) Geschehens zur Sprache.
Im Gegensatz zu Menschen können Instrumente weder handeln noch sich verhalten – gerichtet und sinnhaft nach Max Weber (vgl. Maiwald/Sürig 2018:9) –, weil sie keine intentionalen Wesen sind. Um sie als Teil des Geschehens zu be(-)greifen, als Teil der Lebenswelt zu verstehen und sie in ihrer Vieldeutigkeit empirisch zu „rekonstruieren“, bedarf es einer konkreten Beobachtung und eines quasi vor- bzw. nichtsprachlichen Befragens, ähnlich wie wir es beispielsweise in philosophischen Arbeiten durchdekliniert finden können (z.B. Heidegger 1984).
Sowohl aus der ethnografischen Beobachtung gemeinsamer musikalischer Tätigkeiten als auch im Auswertungsprozess der erhobenen Daten verdichteten sich meine Eindrücke dahingehend, dass die Musikinstrumente – im Folgenden wird von Gitarren die Rede sein – im (sozialen und musikalischen) Geschehen geradezu die Führung und das Diktat zu übernehmen schienen. Wünsche, Absichten, Initiativen und Vorhaben der Kinder schienen oftmals durch die Gitarren irritiert, umgeleitet oder gar umgestürzt zu werden, Ideen und Pläne von der Gegenständlichkeit und der Physik des Instruments ausgebremst. Die Gitarren ihrerseits wirkten in ihrer Raumeinnahme, ihrer Eigentümlichkeit und ihrer Geheimnishaftigkeit sozusagen stur, stolz und unnachgiebig. Ein „schöner“ und „anständiger“ Ton erforderte von den Kindern präzisen Körpereinsatz, ein „Umformen“ ihres Körpers. Ist es also die Gitarre, die – mit der hier (un)passenden Metapher formuliert – „den Ton angibt“? Ist es die Gitarre, die „sagt“, wo es langgeht oder eben allenfalls nicht langgehen kann? Oder wie lässt sich dieser hartnäckige Eindruck des beobachteten Geschehens verstehen und einordnen?
Im Sinne ethnografischer Forschungsansätze ließ sich der mir im und vom Feld aufgedrängte Eindruck zu einem Untersuchungsfokus machen: Die „eigensinnigen Strukturen des Untersuchungsfeldes“ – insbesondere das Wesen der Gitarren (mit ihren Eigentümlichkeiten) als Teil des (sozialen) Geschehens – ließen sich in den Forschungsprozess sozusagen einschreiben (vgl. Breidenstein et al. 2020:44).
Ausgangslage, Forschungsinteresse und These
Im Unterschied zu anderen Forschungsarbeiten, die z.B. das (musikalische und musikbezogene) Handeln (u.a. Jank 2010), die Teilhabe innerhalb einer musizierenden Gruppe (Dietrich/Wullschleger 2019), musikalische Interaktionsformen (Mollenhauer/Dietrich 1996), das gemeinsame, koordinierte Musizieren (Hellberg 2019) oder das kreative Gestalten mit musikalischem Material bzw. das Komponieren (Kranefeld/Voit 2020) mehrheitlich aus einer praxeologischen und/oder hermeneutischen Perspektive beschreiben und systematisieren, ist es ein Ziel der diesem Artikel zugrunde liegenden Forschungsarbeit, die Rolle(n) des Instruments als responsives Ding und als konstituierendes ‚Mit‘ innerhalb einer musizierenden Gruppe (besser) zu verstehen und phänomenologisch zu beschreiben.
Im Folgenden wird an empirischem Material exemplarisch aufgezeigt und theoretisiert, welche Verbindung oder Beziehung zwischen der individuellen Auseinandersetzung mit dem Instrument und dem sozialen, musikalisch-ästhetischen Geschehen besteht oder bestehen kann. Es handelt sich hauptsächlich um eine Deskription, die Phänomene in den Blick nimmt, welche – so die Annahme – in den meisten Bereichen der Kulturellen Bildung und insbesondere in (gemeinsamen) ästhetischen Praxen zu finden sind – sofern in die Praxen ein materieller Gegenstand eingebunden ist.
In diesem Artikel werden zwei (Haupt-)Ziele verfolgt: erstens die Vorstellung einer deskriptiven Darstellung der erwähnten Verbindung zwischen Dingen/Gegenständen und der Sozialität – wenn auch nur in einem sehr geringen Umfang – und zweitens das Aufzeigen der Möglichkeiten einer phänomenologisch orientierten, empirisch-rekonstruktiven Forschung im Hinblick auf Körperlichkeit, Materialität und Sozialität. Letzteres ist insbesondere für die (Be-)Forschung der Kulturellen Bildung fruchtbar.
Es wird von der These ausgegangen, dass dem Nichtmenschlichen, Gegenständlichen bzw. Dinglichen in (sozialen) Interaktionsräumen eine mehrdimensionale und geradezu machtvolle – im Sinne einer starken und unnachgiebigen – Struktur und Rolle zugeschrieben werden kann oder sogar muss. Es kann im (sozialen) Geschehen unterschiedliche Qualitäten annehmen und ist – so die Annahme – konstitutiv für die soziale Ordnung.
Quasi als Konsequenz muss die Handlungsmacht der (menschlichen) Akteur*innen – im Sinne einer eigenverantwortlichen und selbstgesteuerten Instanz – an dem hier vorgestellten Forschungsgegenstand deutlich relativiert werden (können): Es wird davon ausgegangen, dass die sozialen Akteur*innen Kräften und Widerständen ihnen gegenüberstehenden materialen Dingen und (medialen) Ereignissen ausgesetzt sind, die sich unmittelbar auf ihre sozialen (und musikalischen) Interaktionen und Tätigkeiten auswirken. Insofern kann angenommen werden, dass die Handlungspraxen der musizierenden Kinder von den Dingen und dem Klangraum (maßgeblich) mitkonstituiert und mitbestimmt werden.
Ergänzend kann an dieser Stelle vermutet werden, dass sich diese Thesen auf andere (gemeinsame) ästhetische Praxen (Basteln, Theaterspielen, Zeichnen, Malen u.a.) wie auch auf sportliche Tätigkeiten übertragen und ausweiten lassen.
Soziale Interaktion vs. Antwortgeschehen
Die Mikrosoziologie, die sich mit den kleinen sozialen Einheiten, mit Interaktionen und dem Handeln von und mit Menschen beschäftigt, versteht unter sozialer Interaktion ein primär sprachliches (verbales) Phänomen (vgl. Maiwald/Sürig 2018). Zwar „können wir uns auch gezielt mit anderen austauschen, indem wir Gesten, Mimik und Blicke einsetzen“ (ebd.:19), allerdings verweisen die Autor*innen dabei u.a. auf Spezialfälle wie z.B. das Jägertum, bei dem eine sprachliche Interaktion den Zweck der Interaktion bzw. des Handelns stören könnte (vgl. ebd.). Ein Grund für die starke Fokussierung des Sprachlichen im soziologischen Diskurs scheint die überwiegend sprachliche Kommunikation in Interaktionen zu sein: „Der Großteil unserer Interaktionen [findet] auf der verbalen Ebene statt“ (ebd.). Zudem zielt die Sprache u.a. auf eine effiziente Koordination der Akteur*innen und eine „Akkuratheit der Information“ (ebd.). Ein weiterer Grund sei der Vorteil, mit verbalsprachlicher Interaktion auch über Dinge, die nicht unmittelbar vor Ort sind, reden und verhandeln zu können.
Dieser soziologisch geprägte Begriff der (sozialen) Interaktion als ein „Handeln, in dem sich (mindestens) zwei handelnde Subjekte aufeinander beziehen“ (ebd.:9), greift – wie eingangs angesprochen – für den hier vorgestellten Forschungsgegenstand zu kurz. Hier geht es um Kinder, die sich wechselseitig auf andere gleichzeitig anwesende Kinder beziehen (Ko-Präsenz) und sich mit oder über ein gemeinsames Thema oder eine gemeinsame Tätigkeit verbinden, miteinander kooperieren und interagieren. Sie sind in eine (gemeinsame) ästhetische Praxis eingebunden, die ihrerseits ggf. einigermaßen vorbestimmte Ziele und auch einen Austausch eindeutiger/akkurater „Informationen“ enthalten kann, solche aber keineswegs enthalten muss. Darüber hinaus geht es hierbei um einen (gemeinsamen) Prozess, um individuellen und kollektiven Ausdruck, um Selbstbezüglichkeit als Moment der ästhetischen Erfahrung (Brandstätter 2013), um die Schaffung neuer Bedeutungen und um materiale Auseinandersetzung.
Bernhard Waldenfels befasst sich mit dem Verhalten und den Beziehungen des Menschen mit Anderem – sowohl Menschlichem als auch Nichtmenschlichem – und stellt hierfür die Theorie der Responsivität vor. Die Responsivität ist ihm zufolge ein „Grundzug des Verhaltens“ der Menschen (Waldenfels 2015:19). Sie umfasst das Antwortgeschehen, welches nur im engsten Sinne als eine sprachliche Frage-Antwort-Ordnung zu verstehen ist. Die Theorie geht von einer Verschränkung der Menschen mit der Welt aus, wobei der Mensch in seinen Erfahrungen von Anderem (Menschen, Dinge) stets angesprochen und herausgefordert wird. Waldenfels spricht von Widerfahrnissen, welchen der Mensch nicht entgehen kann, sondern worauf er antworten muss.
Das Antworten kann in unterschiedlichster Weise geschehen: „Antworten bedeutet, daß wir auf Fremdes eingehen, das sich nicht mit den vorhandenen Mitteln des Eigenen und Gemeinsamen bewältigen läßt“ (ebd.). Das bedeutet auch, dass wir in der Begegnung und Auseinandersetzung mit Neuem und Fremdem mit neuen Umgangsweisen, (Körper-)Techniken und Strategien agieren und reagieren (müssen). „Worauf antworten wir, wenn wir etwas erfahren, sagen und tun?“ (Waldenfels 1994:188) Wir antworten nicht nur auf Menschen, deren Äußerungen und Verhalten, sondern auch auf Dinge, die uns aufhorchen lassen, irritieren, stören und „ansprechen“, indem wir auf sie eingehen, sie abweisen, sie in unser Tun verwickeln etc. Obwohl Dinge keine intentionalen, voluntativen oder handelnden Eigenschaften besitzen, sprechen sie Menschen an, fordern sie heraus und verändern deren Verhältnis zur Welt. Gitarren, die als Teil der Erfahrungs- und Lebenswelt der Kinder und in ihrer Verschränkung mit dem sozialen Geschehen untersucht werden, sind – anders als z.B. „Naturdinge“ wie Steine, Bäume oder Wasser (vgl. Langeveld 1964:150–151) – in bestimmender Weise responsive Dinge, weil sie für bestimmte Klangproduktionen und Resonanzen vorkonstruiert sind und mitunter als Werkzeuge (Instrumente) in eine konkrete Tätigkeit eingebunden sein wollen. Sie sollen per se auf Einwirkungen, z.B. das Zupfen der Saite, klingend reagieren und resonieren, anders ausgedrückt: physikalisch-klanglich antworten.
Bei der Responsivität geht es nicht um intentionale Handlungen, Aktivitäten oder Verhaltensweisen, die ihrerseits wieder Antworten hervorrufen oder herausfordern, sondern um Phänomene, die sich zwischen den Akteur*innen und den Dingen ereignen und (neue) Zwischenräume entstehen lassen. Unter einem „Zwischen“ versteht Waldenfels „ein Geflecht, als ein Ineinander von Eigenem und Fremden, das eine völlige Deckung ebenso ausschließt wie die völlige Disparatheit“ (Waldenfels 2015:435–436).
Claus Stieve, ebenfalls ein Phänomenologe, der sich intensiv mit den Dingen in der Kindheit befasst, schreibt: „Natürlich leben wir nicht nur in einer Welt der Dinge. Unsere Aufmerksamkeit gilt häufig weitaus mehr den sozialen Beziehungen zu vielen Menschen unseres Umfelds. Doch gerade diese sozialen Beziehungen sind ständig durch Gegenstände mitbestimmt. Für mich ist es unmöglich, mich an meine Großeltern zu erinnern, ohne an den Duft ihrer Wohnung zu denken, an die großen Balkonkästen mit den Geranien, über die ich als Kind nicht hinwegschauen konnte, oder an den Kohleneimer, den ich jeden Morgen mit meinem Großvater die Treppe herauftrug.“ (Stieve 2008:21) Er erwähnt hier einerseits, dass bei Tätigkeiten bestimmte Gegenstände hinderlich sein können (Balkonkästen) oder dass ebensolche den Körper womöglich übermäßig beanspruch(t)en (Kohleneimer), und andererseits, dass die entsprechenden Erinnerungen stets von stofflichen und nichtstofflichen Dingen mitbestimmt sind oder sein können.
In diesem Sinne wird versucht, sowohl die sozialen Interaktionen/Beziehungen als auch die gegenständlich konstituierten und von den Dingen mitbestimmten Phänomene in den Auswertungen in den Blick (oder in die Sprache) zu nehmen. Die Körperlichkeit, Leiblichkeit und Materialität wird insofern mitberücksichtigt, als dass die „Interaktion“ und „Kommunikation“ zwischen menschlichen und nichtmenschlichen Entitäten in dem musikpädagogischen Setting als „Antwortgeschehen“ (Waldenfels) zwischen Kindern, ihren Körpern, ihrer Musik (Medium) und ihren Instrumenten (Dinge) gefasst und mit einer (leib-)phänomenologischen Perspektive analysiert und interpretiert wird.
Zur Methode
Die Datengewinnung und -aufarbeitung folgte einem Forschungsdesign der ethnografischen Feldforschung (Friebertshäuser/Panagiotopoulou 2013) mit videografisch gestützten Beobachtungen, konkret einer „fokussierten Ethnografie“ (vgl. ebd.:308), die im Rahmen des Forschungsprojektes „Kulturelle Bildung und Inklusion“ durchgeführt wurde (vgl. Dietrich/Wullschleger 2019; Dederich et al. 2020).
Das im Folgenden vorgestellte und analysierte Datenmaterial entstammt einer teilnehmenden Beobachtung (Breidenstein et al. 2020:83 ff.) bzw. einer teilnehmenden Erfahrung (vgl. Kosica 2020:150 ff.), die der „Rolle der ForscherInnen als Sehende, Verstehende und Beschreibende im Forschungsprozess eine zentrale Bedeutung zu[kommen]“ lässt (ebd.). Die Feinanalysen ausgewählter Sequenzen wurden als dichte Beschreibungen nach Clifford Geertz (1973), respektive im Anschluss an die pädagogisch-phänomenologische Videografie nach Malte Brinkmann und Severin Sales Rödel (2018), sowie als „Exemplarische Deskription“ nach Winfried Lippitz (2019) ausgearbeitet und mit (leib-)phänomenologischen und bildungstheoretischen Konzepten interpretiert. In diesem kurzen Artikel kann kein umfassender Einblick in die Analysearbeit ermöglicht werden.
Die Auswertungsarbeiten wurden mit einem phänomenologischen Ansatz gerahmt, der die Erfahrung als eine sinnbildende Kategorie versteht. Sie ist stets auf etwas gerichtet und schließt gleichzeitig das pathische Moment des Eingenommen-Werdens mit ein (vgl. Brinkmann 2015:535). Der Erfahrungsraum ist in diesem Sinne die „soziale Erweiterung“ des verbindenden und (sozial) geteilten Raumes (vgl. Ferrin/Blaschke-Nacak 2018:354). Der Begriff der Erfahrung bzw. des Erfahrungsraumes ist folglich nicht per se an soziale Gegebenheiten gebunden (wie z.B. die Kommunikation oder die Interaktion), sondern bezieht sich ebenso auf Dimensionen des Räumlichen, Dinglichen, Körperlichen und Leiblichen. Phänomenologisch orientierte Ansätze – insbesondere diejenigen leibphänomenologischer Theorietraditionen – bieten diesen Zugang zur Erfahrung, indem sie den Leib als Medium (oder als Husserl’sche „Umschlagstelle“) zwischen Selbst und Welt sehen. Erfahrungen sind demnach Ereignisse, die im Leib „einrasten“, an der Schwelle zwischen innen und außen etwas zurücklassen und das bisherige Verhältnis zur Welt verändern (können).
Dieser Forschungsansatz, der ursprünglich auf Edmund Husserls Phänomenologie zurückgeht, hat zum Ziel, „zu den Sachen selbst“ (Zahavi 2007:26 ff.) vorzudringen und uns durch das Andere und (uns) Fremde irritieren und einnehmen zu lassen. Dieses Vordringen gelingt, indem mit der forschungsstrategischen Epoché (altgriechisch ἐποχή (epoché) = Zurückhaltung seines Urteils) die Aspekte, die in unserer „natürlichen Einstellung“ (ebd.:21ff.) zum beobachteten Gegenstand vorerst überhandnehmen (können), eingeklammert werden. Damit wird versucht, in einem nächsten Schritt der Beobachtung die „Sachen“ sich zeigen zu lassen, die die Situation, die Menschen und Dinge in Raum und Zeit (mit-)konstituieren.
Konkret lässt sich dies am Beispiel darstellen, welches nachfolgend vorgestellt und analysiert wird: Wir wissen, dass es sich hierbei um eine Gitarrenprobe unter ein paar Kindern handelt und dass sie (wahrscheinlich) ihre Gitarren in einem herkömmlichen Sinne – als Werkzeuge/Instrumente – in ihre Tätigkeit einbinden und etwas einüben (wollen). Das, was sich gemäß des Beobachtungsprotokolls ereignet haben mag, könnten wir beispielsweise aus einer musik- oder instrumentalpädagogischen Perspektive analysieren: Wir könnten herauslesen und beschreiben, was die Kinder tun und wie sie (miteinander) spielen. Und wir könnten darüber „urteilen“, wie die Gitarren gehalten und gehandhabt werden und was dabei (mutmaßlich) erklingt und „herauskommt“. Außerdem ließe sich die beobachtete Situation bzw. die schriftlich festgehaltene Erinnerung dahingehend untersuchen, inwiefern sich die Kinder gegenseitig Hilfe leisten, den Prozess gemeinsam „meistern“ und welches Ziel die sozialen Interaktionen womöglich verfolgen würden. Die hieraus resultierenden „Urteile“ würden im Verhältnis zu meinen bisherigen Erfahrungen (z.B. als Musikpädagogin) gefällt und wären gewissermaßen normativ.
Ziel der phänomenologischen Epoché ist nun, diese möglichen „Urteile“ einzuklammern, um die Erfahrungen/Erfahrungsräume der betroffenen Kinder freizulegen, ihr individuelles In-der-Welt-Sein zu beschreiben, also die „Sachen selbst“ (siehe oben) zur Sprache zu bringen. Und das unabhängig davon, um welche (von außen an die Kinder herangetragene pädagogische) Inszenierung es sich handelt, welche Ziele explizit oder implizit gegeben sind oder wie diese möglichen Ziele erreicht werden. Es geht nicht um eine Darstellung dessen, was die Kinder tun und wie sie dies tun, sondern um ein (besseres) Verständnis von ihren (möglichen) Erfahrungen während ihres Tuns und ihrer (gemeinsamen/kollektiven) Tätigkeiten.
Die phänomenologische Methodologie berücksichtigt bzw. reflektiert dabei konsequent die Bedeutung der Wahrnehmung der Forschenden für die Aussagekraft ihrer Forschungen. Denn „[d]as Sehen eines Phänomens gründet auf unserer Wahrnehmung, das Verstehen auf unserer Erfahrung und die Beschreibung auf der Grammatik unserer Sprache“ (Brinkmann 2017:34). Es gibt – so der Ansatz – keinen anderen Zugang als den über den Leib der involvierten Forscher*innen. Das nachfolgend anhand eines Beobachtungsprotokolls exemplarisch vorgestellte Beispiel zeigt, dass sich über die Erinnerung der vor Ort anwesend gewesenen Ethnografin und über ihre schriftliche Artikulation dessen, was sie vor Ort empfunden, gesehen, gehört, mitbekommen und wahrgenommen hat, bestimmte Erfahrungen und Erfahrungsräume der Kinder rekonstruieren lassen. Die Rekonstruktion basiert auf vor- und nicht-sprachlichen, parasprachlichen und verbalsprachlichen (Ent-)Äußerungen, die dem Textdokument zu entnehmen sind. Die Analyse und Rekonstruktion anhand von Videodaten ist in einem eigenen Artikel erschienen (Wullschleger 2022).
Florian und seine Gitarre (Beispielanalyse)
Die Kinder einer fünften Klasse (Oberschule) – vom Forschungsteam über mehrere Monate ethnografisch begleitet – erarbeiteten im Musikunterricht gemeinsam ein Band-Stück mit Schlagzeugen, Keyboards, Gitarren und einem Gesangspart. Die Probe der Gitarrist*innen fand jeweils in einem kleinen Nebenraum statt, insgesamt acht Kinder mit je einer Gitarre fanden sich dort zum Üben ein. Ein Auszug aus einem Beobachtungsprotokoll schildert eine Situation:
Im ersten Schritt wird der Auszug in fünf Sinnabschnitte eingeteilt, je eine thematisch-analytische Einordnung vorgenommen (rechte Spalte) und farblich zwischen einem Kind-Gitarre-Fokus (gelb, siehe [A] unten) respektive einer sozialen Interaktion (grün, siehe [B] unten) unterschieden:
In dieser Sequenz haben wir ein soziales Miteinander, Kinder musizieren und üben gemeinsam. Gegenstände sind in Form von Gitarren explizit im Spiel: Jedes Kind beschäftigt sich mit je einer Gitarre (mehrheitlich akustische), benutzt sie als Werkzeug (Instrument) und ist gleichzeitig Teil des sozialen und musikalischen Miteinanders.
Florian – ein Junge, der bisher nicht Teil der Gitarrengruppe war – erscheint im Raum und wird Teil der sozialen Situation (1). Sobald er Platz nimmt, wird er von seiner Gitarre eingenommen. Dabei wird deutlich, dass er sie nicht – quasi mit einem Handgriff – packt und mit dem Spiel oder dem Üben loslegt, sondern dass er mit ihr visuell und haptisch „Kontakt“ aufnimmt und sie auf diese Weise fokussiert. Diese responsive „Begegnung“ enthält sowohl eine körperliche (physikalisch-räumlich) als auch eine leibliche (empfindend, berührend) Dimension. Eine (Selbst-)Aufmerksamkeit auf seinen Leibkörper kann initiiert werden.
Ein anderer Junge versucht, Florian in das gemeinsame Gitarrenspiel zu integrieren, und hilft ihm (2). Er leitet ihn kurz an und gibt ihm technische Hinweise. An dieser Stelle wirkt die Interaktion auf die Beobachterin so, als ob Florian sich nicht auf die Hilfestellung einlassen könnte (oder wollte). Stattdessen widmet er sich (erneut) seiner Gitarre in einem sorgfältigen und ruhigen Modus, ohne konkrete Töne anzuspielen (3). Dieser Kind-Gitarre-Fokus, das Für-sich-beschäftigt-Sein bzw. Mit-der-Gitarre-beschäftigt-Sein ist von einem sehr sorgfältigen Umgang geprägt, der mit Respekt und Achtung assoziiert werden könnte. Florian tastet das Instrument ab. Die Ethnografin schlussfolgert daraus, dass er dadurch spüren könne, wie es sich wo anfühlt. Das hieße, dass er Unterschiede spürte zwischen Holz, lackiertem Holz, Saiten, metallischen Bünden und (Plastik-)Schrauben oder Hebel, sprich sich ein „Bild“ der Materialität seiner Gitarre machte und gleichzeitig als empfindendes Selbst angesprochen würde. Trotz seiner einnehmenden Gitarre verbindet er sich zwischendurch mit den anderen Kindern, indem er zu ihnen schaut. Er nimmt also auch sozialen Kontakt auf.
Nach den hier vorzufindenden Regeln des gemeinsamen Übens gehört Florian (ab sofort) als Gitarrist zur Gruppe (4). Auch er soll die zwei vorgegebenen Takte allein (vor-)spielen – allerdings ohne sie vorher geübt zu haben. Hilfe wird geleistet, er will/soll abgeholt und eingebunden werden. Aber: Die Herausforderung des „korrekten“ und eingeforderten Spiels mit der Gitarre – die Aneignung der Gitarre als Instrument – kann ihm nicht abgenommen werden, er muss sie am eigenen Körperleib annehmen. Weil er im Gegensatz zu den anderen den Prozess (noch) nicht vollzogen hat, wird die Hürde des Eingliederns (des Jungen) und des Anwendens der Gitarre zum Thema und auch zur Herausforderung der sozialen Interaktion aller Beteiligten. Es führt – so scheint es – kein Weg an den „Ansprüchen“ der Gitarre vorbei und die Schwierigkeit der erforderten körperlichen Umgangsweisen drängt sich auch für die „erfahrenen“ Gitarrist*innen der Gruppe in den Vordergrund.
Zum Schluss kehrt Florian erneut in seinen Kind-Gitarre-Fokus (5). Er entdeckt ein für ihn bisher inexistentes „Körperteil“ der Gitarre, erkennt dessen Funktion und widmet sich dann seiner ihm nun umgehängten, an seinem Körper hängenden Gitarre. Das ist keine triviale Umstellung, er muss sich in dieser Ausgangslage neu arrangieren, sein Körper hebt sich anders hervor, die Gitarre stellt neue „Ansprüche“.
Changieren zwischen innen und außen
Meine Untersuchung des gemeinsamen Musizierens und Übens unter Kindern zeigt, dass die Gitarren mit ihren materialen, physikalischen und dinglichen Eigenschaften sowohl Teil der Auseinandersetzung zwischen Kind und Instrument, als auch Thema und Anlass – oder gar machtvolle Instanz – sozialer Interaktionen sind. Die bereits erwähnte analytische Unterscheidung der Bereiche „Kind-Gitarre“ und Sozialität kann – auf der Grundlage umfassender Analysen – konkreter gefasst werden:
(A) Der Kind-Gitarre-Fokus als Moment der persönlichen/individuellen Auseinandersetzung (gelb in den Darstellungen).
„Ansprüche“ im Sinne der Responsivität nach Waldenfels (Waldenfels 1994:187 ff.) können der Gitarre als Gegenüber des Kindes, als Gegenstand oder als Werkzeug (Instrument) zugeschrieben werden. Hierauf antwortet das Kind z.B. mit Ausprobieren, „Nachfragen“, Hinterfragen, Hinhorchen, Untersuchen und vielem mehr. Es kann wortwörtlich von einer Auseinander(-)setzung gesprochen werden: Zum einen werden (ggf.) die einzelnen Berührungen und Handhabungen, Bewegungen und Handlungen des Kindes in ihren „Einzelteilen“ zum Thema – z.B. dann, wenn sie hinterfragt oder überprüft werden (müssen). Und zum anderen treten die (physikalischen) Eigenheiten und „Reaktionen“ bzw. die Antworten der Gitarre, die ihrerseits ersucht und/oder gezielt eingesetzt werden wollen, mehr oder weniger hervor.
Die genaue Untersuchung eines solchen Kind-Gitarre-Fokus in einer (musikalischen) Auseinandersetzung ermöglicht das Freilegen des Zwischenraumes zwischen Kind und Gitarre, um zu verstehen, inwiefern zwischen den beiden Entitäten ein Antwortgeschehen stattfindet. In der Analyse Florians und seiner Gitarre können Ansätze davon deutlich erkannt werden (siehe oben). Charakteristisch für diesen Bereich der musikalischen und materialen Auseinandersetzung ist das Thematisch-Werden des eigenen Leibkörpers: Während der (persönlichen/individuellen) Auseinandersetzung wird für das Kind dessen Wesen als erfahrendes und empfindendes Selbst thematisch. Unter anderem dann, wenn in der Auseinandersetzung der eigene Körper (ungewohnt) angesprochen und „hervorgehoben“ wird, wenn das eigene Tun zu Irritationen oder Brüchen führt. Im Analysebeispiel kann ein Thematisch-Werden des eigenen Leibkörpers in Abschnitt (1), (3) und (5) vermutet werden (siehe oben). Dietrich et al. beschreiben diese Art der Selbstaufmerksamkeit folgendermaßen:
„[Es] lässt sich […] erkennen, wie das jeweilige Subjekt nicht nur auf das Gehörte oder Gelesene [Gespürte, Gesehene; I.W.] aufmerksam wird, sondern gleichzeitig auf sich selbst, auf das was mit ihm, während und mit dem Hören oder Lesen [Spüren, Tasten, Sehen; I.W.] geschieht. Es wird durch seine eigenen Wahrnehmungen und Empfindungen gleichsam überrascht und muss sich nicht nur zum jeweiligen ‚Text‘ [Ding, Material; I.W.] in ein Verhältnis setzen, sondern auch zu sich selbst als jemandem, der diesen Text [diesen Gegenstand; I.W.] erlebt, mit ihm Erfahrungen macht und gemacht hat. Das eigene Wahrnehmen und Empfinden wird thematisch.“ (Dietrich/Krinninger/Schubert 2013:15)
Dazu lässt sich festhalten, dass in der kindlichen Auseinandersetzung mit der Gitarre als Gegenüber des Kindes, als Gegenstand oder als Werkzeug (Instrument) ein Zwischen entsteht, welches sowohl die Gitarre als auch das Kind in ihrer Bezüglichkeit verändert.
(B) Soziale Interaktionen unter Kindern, insbesondere in Bezug auf das (persönliche/individuelle) Gitarrenspiel (grün in den Darstellungen).
Die Kinder teilen sich mit, tauschen sich aus, organisieren sich als (musizierende) Gruppe, reflektieren und diskutieren über das (Zusammen-)Spiel, über den Umgang mit ihrem Instrument, über das Hör- und Sichtbare und auch über ihre Erfahrungen und Empfindungen vor, während und nach dem Gitarrenspiel.
Die Anlässe für soziale Interaktionen unter den gemeinsam musizierenden und übenden Kindern sind vielfältig. Deutlich wird aber – wie im Beispiel oben ersichtlich wird –, dass die Gitarren als Werkzeuge (Instrumente) und als Gegenstände der Auseinandersetzung stets Thema sind und dass über die individuellen Erfahrungen, die mit ihnen gemacht werden, intersubjektiv verhandelt wird. Beispielsweise gibt die sprachliche Artikulation der Kinder Aufschluss darüber. Der soziale Austausch zeigt, welche Rolle der Gitarre (auch implizit) zugeschrieben werden kann. Im Gegensatz zum Thematisch-Werden in der (persönlichen/individuellen) Auseinandersetzung (siehe oben) zeigt sich hier ein Thematisch-Machen von etwas gegenüber den anderen Kindern: Insbesondere die den Körper oder den Leib adressierenden Ereignisse und Herausforderungen werden in der sozialen Interaktion zum Thema gemacht. Im Analysebeispiel wird deutlich, dass das (Vor-)Spielen in der Runde – eine Form des sozialen und musikalischen Austauschs – von der Situation Florians gewissermaßen unterbrochen oder ausgebremst wird (Abschnitt 4). Anstelle eines möglichen Spiel- und Hörflusses setzt ein (soziales) Verhandeln über das (umständliche) Gitarrenspiel ein. Das Thematisch-Machen ist implizit vorhanden: Die Gitarre mit ihren „Ansprüchen“ an das Spiel und die Körper drängt sich in die Aufmerksamkeit, die Kinder können nicht darüber hinweggehen und weiterspielen, sie müssen sich gemeinsam, aber auch individuell der Herausforderung stellen und die komplizierte Handhabung der Gitarre zum Thema machen.
Im Zuge der Auswertungen zeigte sich in Bezug auf die genannten Bereiche (A und B) eine Ambivalenz: Einerseits stehen sich die beiden Bereiche konträr gegenüber bzw. können voneinander getrennt betrachtet werden. Wer sich mit der Gitarre auseinandersetzt, kann nicht gleichzeitig (simultan) mit jemandem über etwas reden oder verhandeln. Und wenn jemand mit jemandem über etwas redet und sich austauscht, ist der Fokus beim Thema oder bei der gemeinsamen Aufmerksamkeit. Es lässt sich feststellen, ob eine Situation (eher) einer sozialen Interaktion (B) oder (eher) einer persönlichen/individuellen Auseinandersetzung im Kind-Gitarre-Fokus (A) entspricht (siehe die Farbmarkierung im Analysebeispiel oben). (Ein dritter Bereich wäre schließlich das – explizite – gemeinsame Musizieren, als mehr oder weniger synchrone, zeitlich abgestimmte, instrumental ausgeführte Tätigkeit, welche ebenso analytisch getrennt von den zwei Bereichen beschrieben und analysiert werden könnte, hier aber nicht besprochen wird.)
Andererseits gibt es einige Hinweise, dass die beiden Bereiche sich zwar unterscheiden lassen, analytisch trennbar sind, aber dass sie sich in vieler Hinsicht überschneiden, sprich miteinander – nicht nur zeitlich und räumlich – verschränkt und verwoben sind, und gerade im Hinblick auf die Frage nach der Rolle der Gitarre im (sozialen) Geschehen wegweisend ineinandergreifen.
Die Verwobenheit/Verschränkung zeigt sich darin, dass erstens soziale Interaktionen insbesondere aus Impulsen der persönlichen/individuellen Auseinandersetzung eines Kindes mit seiner Gitarre entstehen: Die widerständige Handhabung der Gitarre ist Anlass für soziale Interaktionen, insbesondere in einem Zeigen, Mitteilen und Sich-Beklagen erkennbar. Die Gitarre und ihre Eigentümlichkeiten werden quasi zur Brücke, die vom Kind-Gitarre-Fokus zum sozialen Geschehen führt (oder führen kann). Sie nistet sich in die sozialen Interaktionen als Initiator, als Thema, als Störelement, als Herausforderung, als gemeinsames Problem ein (siehe in der schematischen Darstellung die Verbindung oben, von links nach rechts).
Und umgekehrt zeigt sich zweitens, dass in sozialen Interaktionen erkennbar wird, was in der Auseinandersetzung mit der Gitarre passiert ist und erlebt wurde: Eine vor- respektive nachgeschaltete „Verarbeitung“ dessen, was im Kind-Gitarre-Fokus (möglicherweise) erlebt und erfahren wird/wurde. Das ist im weitesten Sinne ein Umgang mit dem, was den Kindern im Kind-Gitarre-Fokus widerfährt bzw. mit dem, womit sie sich auseinandersetzen müssen. Es wird zum Teil explizit thematisch, wenn es beispielsweise verbalsprachlich verhandelt/artikuliert, sicht- oder hörbar gemacht wird (siehe die Verbindung unten, von rechts nach links).
Es zeigt sich also, dass die beiden Bereiche – die Auseinandersetzung im Kind-Gitarre-Fokus und die sozialen Interaktionen unter den Kindern – zwar gewissermaßen trennscharf sind, sie aber konkrete und wesentliche Bezüglichkeiten zueinander aufweisen, sodass sie als Phänomene des (sozialen) Geschehens und Tuns keineswegs isoliert voneinander zu verstehen sind. Das heißt, die beiden Bereiche sind insofern ineinander verschränkt, als dass sie sich gegenseitig anstiften, als Erfahrungsräume in dieser „Qualität“ überhaupt zu existieren oder für die Beteiligten überhaupt als solche erfahrbar und empfindbar zu sein. Es handelt sich um eine gegenseitige Konstituierung der beiden Bereiche (A und B), die die (möglichen) Erfahrungen und Erfahrungsräume der beteiligten Kinder so „ko“-konstruieren, dass soziale, materiale, mediale und ästhetische Momente in einer Verdichtung vorzufinden sind.Weiter können am Beispiel dieser phänomenologisch orientierten, empirisch-rekonstruktiven Vorgehensweise Analysepotenziale zur Erschließung von Körperlichkeit, Materialität und Sozialität aufgezeigt und Erfahrungs- und allenfalls Handlungsdimensionen in den Blick (und in den Forschungsdiskurs) (auf-)genommen werden.