Inklusionsorientierte Anleitung musikalischer Praxis von und mit Kindern
Abstract
Inklusion ist aktuell in aller Munde und spielt auch für das Themenfeld Kulturelle Bildung eine wichtige Rolle. Wenig beachtet wurde bislang die Rolle und Aufgabe der anleitenden Person. Neben der Vermittlung eines generellen Zugangs zu Kultureller Bildung ist die anleitende Person auch für die Inklusionsorientierung des jeweiligen Angebots von Bedeutung. Exemplarisch wird im folgenden Beitrag die Rolle der anleitenden Person im Kontext musikalischer Praxis mit Kindern untersucht. In diesem Zusammenhang werden die Möglichkeiten inklusionsorientierter musikalischer Anleitung überprüft. Herausgegriffen werden insbesondere musikalische Aspekte sowie die (non-)verbale und verbale Kommunikation.
Zur gesamtgesellschaftlichen Leitidee von Inklusion
Auf etymologischer Ebene geht der Begriff Inklusion vom lateinischen Verb „includere“ – einschließen zurück. Allgemein gesprochen lässt sich Inklusion zusammenfassen als „Einschluss“: Grundsätzlich geht Inklusion von einer heterogenen Gesellschaft mit vielfältigen und individuellen Mitgliedern aus.
Hinsichtlich des Aspekts der Vielfalt stellte die Erziehungswissenschaftlerin Annedore Prengel bereits 1993 in der Erstausgabe ihres Buchs „Pädagogik der Vielfalt“ fest, dass
„den Frauen, den Behinderten und den Angehörigen marginalisierter Kulturen in der bürgerlichen Gesellschaft die historische Erfahrung von Etikettierung und Diskriminierung [gemeinsam ist], mit der sie dem bürgerlichen Subjekt als das ganz ‚Andere‘ gegenübergestellt wurden. Mit den Fragen nach dem Verhältnis von Behinderten und Nichtbehinderten, dem Verhältnis zwischen den Geschlechtern und dem Verhältnis zwischen den verschiedenen Kulturen werden aus drei unterschiedlichen Interessenlagen und Perspektiven der Erkenntnis aber auch drei existentielle Dimensionen jeder Lebensgeschichte thematisiert. Allen drei Erkenntnisperspektiven ist gemeinsam, daß sie sich darum bemühen, bestehende hierarchische Verhältnisse nicht zu reproduzieren, sondern in der Erziehung am Abbau von Hierarchien zu arbeiten.“ (Prengel 1993/2019:4)
Es resultiert, dass die Notwendigkeit von Inklusion aufgrund der Be- und Abwertung bestimmter Heterogenitäts- und Vielfaltsmerkmale und den damit verbundenen Zuschreibungen entsteht. Es resultiert außerdem die Notwendigkeit Hierarchien abzubauen. Inklusion kann sich somit auf den „Einschluss“ auf allen Ebenen der Gesellschaft beziehen – also auch auf ein umfängliches Streben nach Gleichberechtigung und Partizipation für alle Menschen (vgl. Herrmann 2018:11).
Dies heißt auch, dass eine inklusive Gesellschaft sich nicht nur im engeren Sinn auf Menschen mit besonderen Bedürfnissen beziehen kann, sondern alle Menschen meint: Menschen mit und ohne besondere Bedürfnisse, Menschen verschiedenster ethnisch-kultureller Hintergründe, Menschen aller Geschlechter, Menschen jeden Alters, Menschen mit unterschiedlichsten Vorgeschichten, Vorkenntnissen und Vorerfahrungen etc. In der Realität sind der weite und der enge Inklusionsbegriff jeweils nicht ohne einander denkbar; auf zahlreiche Menschen trifft Intersektionalität zu. Die gesamtgesellschaftliche Leitidee von Inklusion betrifft Menschen somit oft auf mehreren Ebenen.
Aufgrund der Komplexität von Inklusion auf der einen und der Individualität der beteiligten Menschen auf der anderen Seite kann es „die“ Inklusion nicht geben. Wohl aber kann es eine Inklusionsorientierung geben im Sinne einer grundsätzlichen Haltung, die Inklusion für möglichst viele der Beteiligten wahrscheinlich macht: Gemeint ist ein generell sensibler und reflektierter Umgang mit Diversität, der sich auf den ethnisch-kulturelle Hintergrund bezieht genauso wie auf Alter, Geschlecht, Behinderung, Herkunft, Klasse, Bildung, Geschlecht, Beeinträchtigung, Religion und anderes mehr (vgl. Josties/Gerards 2019:123).
Inklusionsorientierte musikalische Praxis
Inklusion ist insbesondere seit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention im Jahr 2009 in Deutschland aus allen pädagogischen Diskursen nicht mehr wegzudenken – so auch im Bereich der Kulturellen Bildung. Mehrere Facetten von inklusionsorientierter musikalischer Praxis wurden bereits beleuchtet: So gaben etwa der Verband deutscher Musikschulen (VdM) die Arbeitshilfe Spektrum Inklusion und der Arbeitskreis für Elementare Musikpädagogik (AEMP) die Empfehlungen zur Inklusion in der Elementaren Musikpädagogik heraus.
Selten im Fokus stand bislang die Person der musikalischen Anleitung. Denn neben dem räumlich, ideell und finanziell barrierefrei gestalteten Zugang zu musikalischen Angeboten ist die musikalische Anleitung ein bedeutender Gradmesser für Inklusion: Musikalische Praxis kann jeweils nur so inklusiv sein wie die musikalische Anleitung (vgl. Lätzer 2020a:12). Es liegt in der Verantwortung der musikalischen Anleitung, das Repertoire entsprechend auszuwählen oder zu bearbeiten, einen wertschätzenden und ressourcenorientierten Umgang mit den Kompetenzen aller Kinder zu finden, gleichwürdig zu kommunizieren und auf diese Weise eine Inklusionsorientierung möglich werden zu lassen. Bei den inklusionsentscheidenden Parametern kann zwischen musikimmanenten und außermusikalischen Aspekten unterschieden werden. Im Folgenden werden je ein musikimmanenter und ein außermusikalischer Aspekt vorgestellt: Die zum einen musikalischen Herangehensweisen und zum anderen inklusionsorientierte Kommunikation im Kontext musikalischer Praxis. Für die musikalischen Herangehensweisen werden differenziert zwischen den exemplarisch ausgewählten Aspekten:
- ethnisch-kultureller Hintergrund,
- Beeinträchtigung und
- Gender.
Die Begriffe „musikalische Praxis“ und „musikalische Anleitung“ sind bewusst gewählt. Musikalische Praxis grenzt sich von musikpädagogischen Interventionen und Angeboten durch eine spezifische Zielsetzung ab: Musikalische Praxis hat den Anspruch, Möglichkeiten zu musikalisch-ästhetischen Bildungsprozessen zu bereiten (vgl. Beck-Neckermann 2019). Die musikalische Praxis kann hierbei sowohl praktisches Musizieren als auch die aktive Rezeption von Musik beinhalten (vgl. ausführlicher Lätzer 2020b).
Der Begriff der musikalischen Anleitung markiert den Versuch einer Abkehr vom Begriff der*des „Musikpädagog*in“, die*der traditionell die Vermittlung musikalischer Kompetenzen anstrebt. Eine musikalische Anleitung betrachtet sich vielmehr als Ermöglicher*in musikalisch-ästhetischen Erlebens und bietet genauso eigene musikalische Impulse an wie sie die Impulse der musizierenden Kinder aufnimmt. Musikalische Anleiter*innen verfügen in der Regel über ein besonderes Interesse an Musik, über persönliche Ausdrucksmöglichkeit sowie über hohe musikalische Kompetenzen im Sinne inspirierenden und motivierenden Musizierens. Sie nehmen ihre musikalische Individualität entspannt an und vermitteln Freude an neugierigem Musizieren (vgl. Beck-Neckermann 2019:374). Sie betrachten sich außerdem als gleichberechtigte Mitspieler*innen und als impulsgebende Vorbilder. Musikalische Anleiter*innen können somit engagiert mitmusizieren und ihrer eigenen musikalischen Entdeckungslust sowie der Entdeckungslust der Babys und (Klein-)Kinder nachgehen. Unabhängig davon kann eine*n musikalische*n Anleiter*in auch die Vermittlung musikalischer Kompetenzen und Fähigkeiten sowie ein (Kinder-)Liedrepertoire der Dominanzkultur beinhalten (vgl. Gerards 2020:123). Klanglichen Ergebnissen musikalischer Praxis keine Bedeutung zuzumessen, zieht außerdem oftmals Gleichgültigkeit nach sich, denn Menschen – auch Kinder – „machen Musik [...] erfahrungsgemäß deshalb gerne selbst, weil sie über das eigene Tun und den individuellen Ausdruck eine ästhetische Praxis ausüben, die selbstverständlich zum Ziel hat, in irgendeiner Form ansprechend zu sein“ (Grosse 2016).
Dieser Beitrag bezieht sich insbesondere auf die musikalische Praxis frühkindlicher Bildung von und mit Kindergruppen im Alter von Null bis Sechs im deutschsprachigen Kulturraum.
Inklusionsorientierte musikalische Anleitung
Inklusionsorientierte Anleitung musikalischer Praxis äußert sich beispielsweise auf der Ebene der Repertoireauswahl. Zwar wird insbesondere bei inklusionsorientierter musikalischer Praxis häufig improvisiert, oft spielen komponierte Musiken jedoch auch eine Rolle. Insbesondere bei den Liedtexten finden sich auf der textlichen Ebene oft exkludierende Strukturen und eine fehlende Darstellung von Vielfalt.
Inklusionsorientierte Anleitung musikalischer Praxis bezieht als Folge dessen beispielsweise Lieder über unterschiedliche Familienkonstellationen wie Patchworkfamilien, Alleinerziehende oder gleichgeschlechtliche Eltern mit ein oder arbeitet traditionelle Lieder um. Bei „Hänschen klein“ kann beispielsweise erklärt werden, dass es sich um eine alleinerziehende Mutter handelt, mit einer kleinen textlichen Änderung um einen alleinerziehenden Vater oder es können sogar beide Elternteile gleich betroffen sein („Aber die Eltern weinen sehr...“). „Ein Vogel wollte Hochzeit machen“ kann textlich so verändert werden, dass sich Kinder mit unterschiedlichen familiären Konstellationen mit dem Text identifizieren können (vgl. Lätzer 2020a:20).
Inklusionsorientierte musikalische Anleitung äußert sich außerdem beim Umgang mit Instrumenten sowie bei den ausgewählten Musikbeispielen und Materialien.
Schwerpunkt: Ethnisch-kultureller Hintergrund
Im deutschsprachigen Kulturraum steht bei der musikalischen Praxis mit Kindern häufig Musik im Fokus, die dem deutschsprachigen Kulturraum als Dominanzkultur entstammt (vgl. Josties/Gerards 2019:122). Genauso vielfältig wie die an der musikalischen Praxis teilnehmenden Kinder sind deren musikalische Lebenswelten. Inklusionsorientierte musikalische Anleitung braucht somit den gleichberechtigten Einbezug der musikalischen Lebenswelten aller Kinder. Alle Kinder können sich auf diese Weise wahrgenommen und anerkannt fühlen (vgl. Josties/Gerards 2019:122) und beispielsweise Lieder in ihrer Erstsprache singen.
Alle Kinder brauchen außerdem die Möglichkeit, ihre kulturellen und religiösen Feste im Kontext musikalischer Praxis wiederzufinden. Hierzu bedarf es einer intensiven und wertschätzenden Elternarbeit (vgl. Josties/Gerards 2019:122), sodass die den Kindern bekannten Lieder auch im Rahmen der musikalischen Praxis musiziert werden können (vgl. ebd.).
Darüber hinaus braucht inklusionsorientierte musikalische Anleitung einen reflektierten Umgang mit Kinderliedern aus dem deutschsprachigen Kulturraum. „Drei Chinesen mit dem Kontrabass“ etwa setzt bei einer inklusionsorientierten Anleitung eine Bearbeitung voraus. Es werden dann beispielsweise „Drei Feuerwehrleute“ oder „Drei Elefanten“ auf der Straße mit dem Kontrabass angetroffen – und möglicherweise sogar mit einem Didgeridoo (vgl. Lätzer 2020a:17).
Manche Lieder eignen sich auch für mehrsprachiges Musizieren wie das ursprünglich französischsprachige und weithin bekannte Lied über einen Mönch mit dem Titel „Frère Jaques“ – Bruder Jakob. Darüber hinaus bietet es sich zusätzlich an, neben den christlichen Kirchenglocken hinaus auch andere religiöse Praxen einzubeziehen wie der Azan (muslimischer Gebetsruf), der Schofar (Instrument aus Widder- oder Antilopenhorn, das zu Rosch ha-Schana und Jom Kippur eingesetzt wird) oder das Dung Chen (tibetisch-buddhistischen Blasinstrument) (vgl. Wolter 2016 und Lätzer 2020a:22).
Auch außerhalb des traditionellen Kinderliederrepertoires ist bei der Auswahl von Musiken Umsicht notwendig: Die „Zigeunerweisen“ von Pablo de Sarasate beispielsweise verwenden im Titel einen diskriminierenden Begriff, der für Kinder in angemessener Weise kontextualisiert und reflektiert werden muss. Darüber hinaus bildet Pablo de Sarasates Musik die eigene Musik der heute als „Sinti und Roma“ bezeichneten Menschen in keiner angemessenen Weise ab, sondern zeigt eine europäische Perspektive auf die musikalischen Praktiken dieser Menschen. Musikbeispiele aus dem jeweiligen Kulturraum hingegen illustrieren musikalische Vielfältigkeit in realistischerer Weise.
Es bietet sich an, auch bei Musikbeispielen aus dem deutschsprachigen Kulturraum auf selbstverständliche Art und Weise Vielfalt zu zeigen, indem beispielsweise Musikdarbietungen von Menschen verschiedener ethnisch-kultureller Hintergründe wie Sumi Jo, Grace Bumbry, George Bridgetower, Ray Charles vorgestellt werden (vgl. Lätzer 2020a:17).
Für inklusive musikalische Angebote bieten sich unterschiedlichste Instrumente aus allen Kulturkreisen an. Insbesondere geeignet sind die Instrumente des Elementaren Instrumentariums. Hierzu gehören Rasseln, Zimbeln, Becken, Stabspiele wie Glockenspiel, Xylophon, Metallophon, Triangeln, Handtrommeln, Schellen, Glöckchen, Klangstäbe, Ratschen und anderes mehr. Die Instrumente können mit geringen Voraussetzungen gespielt werden; bei einem Rasselei etwa erklingt bereits durch eine leichte Berührung der typische Rasselklang. Es eignen sich außerdem Percussion-Instrumente aus nicht-europäischen Kulturräumen wie Congas, Bongos, Dununba, Càjon (vgl. Lätzer2020a:9).
Neben den sogenannten klassischen Instrumenten des deutschsprachigen Kulturraums bietet es sich an, Instrumente wie Sitar, Bullroarer, Aizai oder Huqin vorzustellen. Auch in diesem Zusammenhang ist Elternarbeit von Bedeutung, da manche Kinder möglicherweise auch Instrumente Zuhause haben, die sie mitbringen und je nach Alter gemeinsam mit ihren Eltern vorstellen können.
Schwerpunkt: Beeinträchtigung
Grundsätzlich ist für jede Anleitung musikalischer Praxis von und für Kinder ein offener Musikbegriff von Bedeutung, der alle Menschen und somit auch alle Kinder als musikalisch und musizierfähig betrachtet (vgl. Hartogh/Wickel 2004:46). Für Kinder mit Beeinträchtigungen hat dieser offene Musikbegriff aufgrund individueller Dispositionen besonders herausragende Bedeutung. Kindern gegenüber besteht häufig eine defizitorientierte Haltung als Menschen, die sich noch in der besonderen Lebensphase der Entwicklung befinden. Diese defizitorientierte Haltung trifft Kinder mit Beeinträchtigung in doppelter Weise: Menschen mit Beeinträchtigungen werden ebenfalls unabhängig von ihrem Lebensalter oft als Menschen mit beträchtlichem Unterstützungsbedarf gesehen (vgl. Merkt 2012:31). Die musikalischen Prozesse von Kindern mit Beeinträchtigungen werden somit im Rahmen inklusionsorientierter musikalischer Anleitung – so wie sie sind – als wertvolle musikalisch-ästhetische Prozesse betrachtet, die individuelles Erleben von Musik ausdrücken (vgl. Lätzer 2020b).
Inklusionsorientierte musikalische Anleitung braucht außerdem Lieder über und für Kinder mit Beeinträchtigungen. Lieder gehen dann nicht selbstverständlich von den Fähigkeiten Singen, Tanzen, Sehen oder Hören aus. Ausgesprochen passend sind in diesem Kontext die Lieder „Mh, mh, macht der kleine grüne Frosch“ und „Rudolph, the red-nosed reindeer“ (vgl. Lätzer 2020a:15 und Lätzer 2020b). Bei beiden Liedern entsteht durch die Besonderheit der Tiere am Ende des Liedes Positives: Der Frosch wird aufgrund seiner sprachlichen Besonderheit nicht gefressen und das Rentier kann dem Weihnachtsmann auf seiner Fahrt zu den Kindern im Dunkeln den Weg erleuchten.
Im U3-Bereich wird zumeist mit Elementarem Instrumentarium musiziert. Diese leicht zugänglichen Instrumente können von vielen Kindern selbst gespielt werden – gegebenenfalls mit der Unterstützung einer Assistenz. Es ergeben sich unterschiedlichste Musiziermöglichkeiten: Rasseln können beispielsweise mit den Ellenbogen gespielt werden, Trommeln können mithilfe einer Wand zum Klingen gebracht werden, Glöckchen und kleinere Rasseln können mit dem Mund gehalten und gespielt werden (vgl. Lätzer 2020b).
Für manche Babys und (Klein-)Kinder ist außerdem die Anschaffung von Instrumenten mit spezifischen Veränderungen sinnvoll (vgl. Gerland 2019:421). Oft bieten sich für Kinder eine sogenannte Klangwiege an, ein Instrument aus Holz mit außen angebrachten Saiten, in das sich ein Mensch hineinlegen kann. Es ergeben sich intensive Klangerfahrungen durch das „Liegen“ im Klang. Das Instrument Theremin lässt sich von Kindern mit geringer Muskelkraft sogar vollkommen ohne Berührung zum Klingen bringen (vgl. Lätzer 2020b).
Für Kinder mit Beeinträchtigung bietet es sich außerdem an, unterschiedliche und differenzierte musikalische Spielideen vorzuschlagen. Während ein Kind auf einem mitgebrachten Keyboard spielt, tanzen andere dazu. Während ein Kind den Grundschlag eines Liedes musiziert, spielen andere Kinder einen variierten Rhythmus. Während ein Kind aktiv musiziert, befühlen andere Elementare Instrumente mit Mund, Füßen oder Händen. Während ein Kind ein Streichinstrument streicht, können andere die entstehenden Vibrationen spüren. Während sich ein Kind im Gehen und Stehen musikalisch ausdrückt, bewegen sich andere im Sitzen oder Liegen. Einzelne Kinder können auch in das Abspielen von Audio-Aufnahmen eingebunden werden. Da Kinder häufig am Singen mit Gesten viel Freude haben und auf diese Weise Lieder leicht erlernen, bietet es sich an, Lieder gemeinsam zu gebärden (vgl. Lätzer 2020a:15).
Musikbeispiele können ebenfalls nach dem Gesichtspunkt der Vielfalt ausgewählt werden: Es bietet sich an, auf Ludwig van Beethovens Taubheit hinzuweisen oder Musik von dem durch das Medikament Contergan beeinträchtigten Bariton Thomas Quasthoff, dem Hornisten ohne Arme Felix Klieser oder der schwerhörigen Schlagzeugerin Evelyn Glennie vorzustellen (vgl. Lätzer 2020a:15).
Schwerpunkt: Gender
In nahezu allen Musiken und insbesondere in Liedtexten werden Geschlechterkonzepte transportiert: Es kommt zu einem „Doing gender by doing Music“ (vgl. Gerards 2019:141). Wenn es beispielsweise bei Volker Rosins „Cowboy Joe“ heißt: „Und wenn Mary kommt, gib ihr einen Kuss“ wird Mary nicht gefragt, ob sie diesen Kuss überhaupt möchte. In „Der Gorilla mit der Sonnenbrille“ tanzt der Gorilla mit einem Menschen (Sybille). Obwohl es sich um ein Tier handelt, das mit einem Menschen tanzt, ist der männliche Gorilla der aktive Protagonist: Er ist es, der mit Sybille an der Hand tanzt, ihr abends die Sterne zeigt, bei ihr „kille-kille“ macht und sie in seine Arme nimmt. Über sie hingegen kann aus dem Liedtext nichts erfahren werden, außer, dass sie offenbar ebenfalls gerne Mambo tanzt (also vermutlich nicht gegen ihren Willen mit dem Gorilla tanzt) und ein Kleid aus Seide trägt.
Viele Lieder können so bearbeitet werden, dass sich keine oder veränderte geschlechtsspezifischen Zuweisungen mehr finden („Zeigt her eure Füße, zeigt her, eure Schuh, und sehet den fleißigen Waschleutenzu!“, „Blau, blau, blau sind alle meine Kleider, [...], weil mein Schatz Chirurgin ist“, „Es tönen die Lieder, der Frühling kehrt wieder, es spielet die Hirtin auf ihrer Schalmei...“) (vgl. Lätzer 2020a:16).
Es können Musiken von Komponistinnen ausgewählt werden. Für Kinder bieten sich Clara Schumanns „Der Elfentanz“, Johanna Doderers „Fatima, oder von den mutigen Kindern“ oder Violeta Dinescus „Der 35. Mai“ an. Es empfiehlt sich eine geschlechtssensible Auswahl der Audio-Aufnahmen: Franz Schuberts „Die schöne Müllerin, op. 25“ kann beispielsweise von einer Frau gesungen oder sein „Gretchen am Spinnrade, op. 2“ in einer Version mit einer Tenor-, Bass- oder Baritonstimme vorgestellt werden (vgl. Lätzer 2020a:16).
Alle Kinder können zum vielgestaltigen Musizieren eingeladen werden. Alle Kinder können angeregt werden, Gefühle in musikalischen Prozessen auszudrücken und umgekehrt und Gefühle aus musikalischen Prozessen zu verbalisieren. Sie können eingeladen werden, sowohl schnell und langsam als auch laut und leise, groß und stark, aber auch klein und weich zu musizieren. Alle können sowohl helle und zarte Töne singen als auch dunkle und mächtige Töne und sowohl wild als auch sanft tanzen. Sie können beim Musizieren und beim Tanzen sowohl zum Führen und Folgen als auch zum Dirigieren und Komponieren angeregt werden sowie zum aufmerksamen und sensiblen Zuhören ermuntert werden (vgl. Lätzer 2020a:15).
Es können neben den bereits genannten Komponistinnen, Dirigentinnen, Posaunistinnen, E-Bassistinnen genauso wie Musiker an der Harfe oder an der Querflöte vorgestellt werden. Dargeboten werden können Aufnahmen mit Counter-Tenören oder Contra-Altistinnen, deren Stimmklang den geschlechtsspezifischen Stereotypen von der tiefen Männer- und der hohen Frauenstimme widerspricht (vgl. Lätzer 2020a:16).
Kommunikation im Kontext von musikalischer Praxis
Für die inklusionsorientierte Anleitung musikalischer Praxis ist insbesondere die non-verbale und verbale Kommunikation von zentraler Bedeutung. In der Art und Weise der Kommunikation vermitteln sich Aspekte wie Welt- und Menschenbilder, Moralvorstellungen oder ethische Grundsätze der anleitenden Person, die wesentlich für Inklusionsorientierung sind.
Zweifelsohne sind Kommunikationsprozesse nie eindimensional oder monokausal, sondern basieren auf Rückkopplungsprozessen (vgl. Losert 2015:160). Kinder befinden sich allerdings in einer Lebensphase der noch zu erwartenden Entwicklung; sie werden motorische, sprachliche, kognitive und musikalische Fähigkeiten im Laufe ihres Lebens noch verfeinern. Es sind somit vor allem die (erwachsenen) Anleitenden, die die Verantwortung für die Art und Weise der Kommunikation tragen.
Non-verbale Kommunikation
Die vielfältigen musikbezogenen Möglichkeiten von Musik zur non-verbalen Kommunikation werden oft beschrieben: Gemeint ist in der Regel das gemeinsame Atmen, das gemeinsame Beginnen und Enden, das Sich-aufeinander-einlassen, das Aufeinander-hören und den Willen zu gemeinsamen musikalischen Prozessen (vgl. Kühnel 2004:155).
Die non-verbalen Kommunikationsmöglichkeiten im Rahmen musikalischer Praxis werden grundsätzlich positiv eingeschätzt: Durch die non-verbale Kommunikation entstehen andere Möglichkeiten der Kontaktaufnahme als durch verbale Kommunikation. Kinder mit Beeinträchtigungen können auf Musik Reaktionen zeigen, die sie auf verbale Ansprache nicht zeigen können.
Bei der Anleitung von musikalischer Praxis ereignet sich auch auf einer außermusikalischen Ebene non-verbale Kommunikation durch Körpersprache, Mimik, Gestik oder den Stimmklang. Die non-verbale Kommunikation kann neben positiven auch ausgesprochen negative Botschaften transportieren und somit Exklusion entstehen lassen.
Non-verbale Kommunikation läuft zum Großteil unbewusst ab und wird auch unbewusst wahrgenommen (vgl. Losert 2015:167). Trotz oder gerade deswegen kommt der non-verbalen Kommunikation große Bedeutung zu, da die non-verbalen Anteile einer Botschaft oft unbewusst als überzeugender wahrgenommen werden als die verbalen Anteile (vgl. Losert 2015:155).
Um dieser Art der non-verbalen Kommunikation entgegenzuwirken, bedarf es einer nachhaltigen Änderung der eigenen Haltung hin zu einer ressourcenorientierten Haltung gegenüber Kindern (vgl. hierzu ausführlicher Lätzer 2020c).
Verbale Kommunikation
Neben der non-verbalen Kommunikation nimmt auch die verbale Kommunikation – also das Sprechen mit Kindern – häufig einen beachtlichen Raum im Kontext musikalischer Praxis ein. Sprache beinhaltet oft Kategorisierungen, Zuschreibungen und Klassifizierungen; jeder Begriff kann potentiell Abwertungen beinhalten, demütigen, stigmatisieren oder diskriminieren (vgl. Bradler 2016b:58 und Joost-Plate 2017:59). Kategorisierende und klassifizierende Kommunikation äußert sich in Sätzen wie „Scheußlich! Hörst Du das denn gar nicht?“, „Jetzt reißt euch mal zusammen! Wir machen doch hier keine Dschungelmusik!“, „Das klingt ja wie bei den Hottentotten!“, „Spielt mal mit Power! Ihr seid doch nicht nur Mädchen!“ oder „So etwas kennt ihr Kinder aus XY natürlich nicht!“.
Äußerungen wie diese diskriminieren hinsichtlich des (ethnisch-kulturellen) Hintergrunds („Hottentotten“, „Türken“), des Geschlechts („Mädchen“) oder des musikalischen Produkts („Scheußlich“). Kinder werden mit diesen Äußerungen aufgrund ihres Geschlechts, aufgrund ihres ethnisch-kulturellen Hintergrunds oder aufgrund ihres musikalischen Tuns abgewertet und erfahren Exklusion.
Darüber hinaus wird eine asymmetrische Beziehungsstruktur zwischen der musikalischen Anleitung und den Kindern gefestigt. Die*der musikalische Anleiter*in ist in der bewertenden und beurteilenden Position und verstärkt die Machtposition, während die Kinder Bewertungen und Beurteilungen empfangen müssen – und dies in der Regel widerspruchslos tun.
Um diesen Kommunikationsweisen eine inklusionsorientierte Sprache entgegenzusetzen, bedarf es intensiver Reflexion sowie eines Rückgriffs auf Kommunikationsmodelle wie etwa die gewaltfreie Kommunikation nach Marshall B. Rosenberg (Beobachtung – Gefühl – Bedürfnis – Bitte: „Ich merke, dass ihr richtig gut laut spielen könnt! Das gefällt mir gut. Ich habe jetzt aber das Bedürfnis, ganz genau auf die leisen Töne zu hören. Seid ihr bereit, einmal leise zu spielen?“) (vgl. Rosenberg 2013 und Lätzer 2020c).
Verbale Kommunikation kann außerdem unmittelbar exkludieren, da nicht alle Kinder in gleichem Maß Sprachkompetenzen in derselben Sprache entwickeln konnten. Gegebenenfalls bedarf es somit einer Übersetzung verbaler Erläuterungen in die Muttersprachen der anwesenden Kinder und/oder in Gebärdensprache.
Zusammenfassung
Dargelegt wurde, dass inklusionsorientierte Anleitung musikalischer Praxis keine Selbstverständlichkeit darstellt. Inklusionsorientierte Anleitung musikalischer Praxis braucht vielmehr umsichtiges Vorgehen. Zentrale Bedeutung kommt einer (Selbst-)Reflexionsfähigkeit zu: Nur durch intensive (Selbst-)Reflexion können beispielsweise eigene unbewusste Vorurteile und Vorbehalte aufgedeckt werden und es kann inklusionsorientierte Kommunikation entstehen.
Darüber hinaus bedarf es einer sorgfältigen Planung der musikalischen Praxis, Flexibilität, um sich den realen Anforderungen anzupassen und ein großes Repertoire, auf das im Bedarfsfall zurückgegriffen werden kann. Auf diese Weise kann eine diskriminierungsfreie und wertschätzende Atmosphäre entstehen, in der alle Kinder eine Wertschätzung ihrer individuellen Fähigkeiten, Kompetenzen und Möglichkeiten erfahren können. Eine Atmosphäre, die Gleichberechtigung anstrebt, Begegnungen auf Augenhöhe fokussiert und so Inklusion umfassend möglich werden lässt.