Improvisierend Musik verstehen – Kulturelle Bildungspotenziale eines Musiktheorieunterrichts mit Improvisation

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von Kaja Nieland

Erscheinungsjahr: 2023

Abstract

Am Beispiel von Polanyis Konzept des impliziten und expliziten Wissens (1985), ergänzt durch Forschungsergebnisse aus der Neurowissenschaft, Soziologie und Musikpädagogik, soll in diesem Beitrag dargestellt werden, welches Potenzial Improvisationen im Musiktheorieunterricht an Musikhochschulen als Teil der Ausbildung von Musiker*innen haben können: Studierende und Lehrende können sich beim Improvisieren, insbesondere am jeweiligen Hauptinstrument, musikalisch auf Augenhöhe begegnen und so in einem motivierenden Rahmen über verschiedene ‚Sprachen‘ und Musikkulturen ins Gespräch kommen. In der Reflexion dieses Prozesses steckt außerdem das Potenzial, stärker an das Erfahrungswissen aller beteiligter Personen anzuknüpfen, insbesondere indem durch eine anschließende Reflexion und Diskussion der Improvisationspraxis implizite Wissensformen explizit gemacht werden.
In einer künstlerisch-praktischen Herangehensweise an Musiktheorie steckt das Potenzial, eine forschende Haltung am eigenen Instrument zu fördern und sich im musikalischen Austausch mit anderen Persönlichkeiten der kulturellen Bedingtheit von musikalischem Erfahrungswissen bewusst zu werden. Musiktheorie und Improvisationspraxis stehen damit, entgegen ihres auf den ersten Blick widersprüchlichen Verhältnisses, in engem Zusammenhang mit einem hohem, bisher noch unausgeschöpftem Potenzial, insbesondere in der Ausbildung von Musiker*innen an der Musikhochschule.

Ob an der allgemeinbildenden Schule oder Musik(hoch)schule – Musiktheorie ist ein fester Bestandteil in der institutionellen Ausbildung von Musiker*innen und genießt einen ambivalenten Ruf. In einer klassischen Musikausbildung kann die Musiktheorie und damit verbundene Lehrfächer wie Gehörbildung und Analyse als ein sehr abstraktes, weit von der Musikpraxis entferntes Thema missverstanden und dadurch für manche zu einem angstbesetzten Fach werden (Beschnitt 2020; Fladt 2006:228). Meiner Erfahrung nach wird Musiktheorie insbesondere dann als überfordernd empfunden, wenn Begriffe angewendet bzw. vorausgesetzt werden, zu denen Lernenden die Verknüpfung zu praktischem Vorwissen, beispielsweise in Form einer bereits bekannten Klangvorstellung, fehlt.

Obwohl viele angehende Musiker*innen ein hohes Maß an musiktheorie- oder gehörbildungsrelevantem Erfahrungswissen mit sich bringen – beispielsweise indem sich jemand am Instrument in einer Tonart orientieren, Rhythmen nachahmen, oder sich bestimmte Melodie- oder Harmonieverläufe vorstellen oder sogar antizipieren kann –, können professionell ausgebildete Musiker*innen gleichzeitig über sich glauben, „keine Theorie oder Gehörbildung zu können”. Dieser Widerspruch zeigt, dass gerade an der Schnittstelle von verbalisierbarem Theorie- und intuitivem Praxiswissen ein großes, noch unausgeschöpftes Potenzial liegt, Kulturelle Bildungsprozesse zu ermöglichen.

Wie können also auch im Musiktheorieunterricht Bildungsräume geschaffen werden, die einen kulturellen Austausch ermöglichen, in dem individuelles musiktheorierelevantes Erfahrungswissen in einem wertschätzenden Rahmen gemeinsam reflektiert werden? Wie kann ein Musiktheorieunterricht an Musikhochschulen im Sinne Kultureller Bildung aktiv und vermehrt über künstlerisch-praktische Auseinandersetzungsprozesse gestaltet werden? Eine Möglichkeit bietet das gemeinsame Improvisieren – eine Praxis, die in der Musiktheorie erst in den letzten Jahren wieder stärker ins Blickfeld geraten ist.

Musiktheorie und Improvisation

Das Phänomen Improvisation war für die akademische Musikwissenschaft und -theorie lange Zeit ein „kategorialer Geisterfahrer“ (Kaden 1993:47), der „quer zur eigentlichen Richtung des Erkenntnisinteresses lag“ (Figueroa-Dreher 2016:9): der traditionell werkästhetisch ausgerichteten Analyse.

Obwohl sich in Deutschland noch für das gesamte 19. Jahrhundert eine lebendige künstlerische Improvisationspraxis, insbesondere des freien Präludierens und Fantasierens, nachweisen lässt (Brandes 2018:71), geriet das Improvisieren als pädagogische Praxis gegen Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend in den Hintergrund. Die Musiktheorie entwickelte sich mit dem Spezialisierungstrend des 19. Jahrhunderts zu einem Fach, was nicht mehr zwingend an die Musikpraxis gebunden war (Diergarten/Neuwirth 2008:Absatz 14). Dazu kommt speziell in Deutschland ein weiterer Traditionsbruch, der durch den kulturellen Wandel mit dem Nationalsozialismus im Zweiten Weltkrieg beeinflusst wurde: Ludwig Holtmeier stellt in einem Artikel über den Einfluss des Zweiten Weltkrieges auf das Fach Musiktheorie fest, dass ein Großteil der Vorkriegsharmonielehren sogar eine Tradition der „speziell zu Übungszwecken geschriebenen Bass- bzw. Melodielinie“ pflegten, die bis heute in den romanischen Ländern ungebrochen bestehen geblieben ist, jedoch in Deutschland nach dem Krieg „zugunsten des Volkslieds zwar nicht völlig beseitigt, aber doch stark zurückgedrängt worden“ ist (Holtmeier 2003:19).

Das Improvisieren als pädagogische Praxis hat seitdem in der institutionellen Musikausbildung Deutschlands bis zum 21. Jahrhundert kaum eine Rolle gespielt. Neben der bis heute ungebrochenen Tradition der Orgelimprovisation in der Kirchenmusik hat das Improvisieren seit knapp 20 Jahren mit Wolfgang Buddays Harmonielehre Wiener Klassik und einer bis heute andauernden Phase der Wiederentdeckung von musiktheoriedidaktisch angelegter Improvisationsvorlagen aus den neapolitanischen Konservatorien des 17. und 18. Jahrhunderts, der sogenannten „Partimenti“, an Bedeutung gewonnen. (Diergarten/Neuwirth 2008:Absatz 15). Durch eine Verlagerung der Interessen vom musikalischen Werk zur musikalischen Produktion gewann das Improvisieren, als die „unmittelbarste Weise musikalischer Produktion“ und das dazugehörige Handlungswissen im Fachdiskurs der letzten 20 Jahren, zunehmend an Aufmerksamkeit (Froebe/Sprick 2010:381).

Definition: Improvisation im Alltag vs. Improvisation als musikalische Praxis

Im alltäglichen Sprachgebrauch hat sich eine Bedeutungsebene durchgesetzt, die einen ‚Normalfall‘ suggeriert, der sich durch sorgfältige Planung und Gewissheit auszeichnet. Im Alltag werde improvisiert, wenn Außerplanmäßiges oder ein ‚Notfall‘ überwunden und das Ergebnis daraus meist als beliebig, halbfertig und nicht ganz gelungen angesehen werde (Bertram/Rüsenberg 2021:9).

Für den Philosophen Georg W. Bertram und Jazzpublizisten Michael Rüsenberg würden dabei insbesondere im Hinblick auf die musikalische Praxis zwei Eigenschaften missverstanden: Zum einen seien Improvisationen, entgegen der weit verbreiteten Vorstellung und dem alltäglichen Wortsinn, nicht das Ergebnis mangelnder Vorbereitung und Planung: Sie beruhen ganz im Gegenteil auf komplexen Vorbereitungen, die in den improvisatorischen Fähigkeiten zum Ausdruck kommen (Bertram/Rüsenberg 2021:15). Zum anderen entstünden Improvisationen nicht im Nichts, sondern fänden insbesondere als künstlerische Tätigkeiten, immer auch in einem ganz bestimmten Handlungskontext mit Regeln statt, welche „entweder im Voraus verabredet worden sind“ oder „im Zuge des Improvisierens selbst etabliert werden“ (ebd.:15). Das Improvisieren sei damit kein rein willkürliches oder „regelloses Tun“, sondern etwas Zielorientiertes, bei dem es weniger um die Anwendung eines ‚starren‘ Regelwerks, sondern es ähnlich wie beim stilgebundenen Komponieren darum gehe, Regeln einer Situation, einem Stil oder ganz allgemein einer Musikkultur angemessen anzupassen (ebd.:15). Aus diesen definitorischen Merkmalen von Bertram & Rüsenberg ergeben sich gleich mehrere Chancen für die Lehre: In der Praxis des Improvisierens kommt komplexes, teilweise automatisiertes, teilweise bewusst herangezogenes musikalisches Vorwissen zum Ausdruck, das ebenso wie der zugrundeliegende stilistisch-kulturelle Handlungskontext mit Regeln im Anschluss in den Unterricht mit einbezogen, gemeinsam reflektiert und verbalisiert werden kann: Was wurde gespielt? Wie wurde ein bestimmtes musikalisches Problem gelöst? Welche Strukturen waren erkennbar? In welchen anderen Kontexten finden sich solche Strukturen wieder? Welche anderen Lösungen hätte es für diese Situation gegeben? Wie lassen sich die verschiedenen Lösungen voneinander abgrenzen/stilistisch einordnen? usw.

Im Wechselspiel von Improvisationspraxis und dessen Reflexion ergibt sich dadurch auch die methodische Chance, den Unterricht stärker über künstlerisch-praktische Auseinandersetzungsprozesse zu gestalten – indem man sich z. B. in einem kulturellen Exkurs das Regelwerk eines bestimmten Improvisationskontextes erst nach der künstlerisch-praktischen Erfahrung erschließt. Dieser Ansatz gibt Raum für verschiedene und individuelle Deutungsweisen, die in anschließenden theoretischen Diskussionen wiederum stärker mit einbezogen werden können.

Definition: Improvisation als Modus künstlerischer Produktion

Anders als beim Komponieren entsteht Musik beim Improvisieren spontan oder aus dem Moment heraus. Das konkrete Ergebnis ist dadurch, wie die lateinische Wortherkunft nahelegt, „unvorhersehbar“ (Bertram/Rüsenberg 2021:11-12; Dudenredaktion o.J.). Nach der Soziologin Silvana Figueroa-Dreher zeichnet sich die Praxis des Improvisierens daher im Kern durch die beiden Eigenschaften der besonderen Zeitlichkeit und der daraus resultierenden Undeterminiertheit/Unfixiertheit des musikalischen Materials aus (Figueroa-Dreher 2016:10).

In der Musik gelten eine Vielzahl von Praxen als Improvisationen, deren Grad an tatsächlicher Spontanität allerdings je nach Genre oder Gattung stark variieren und bis hin zu einer scheinbar spontanen „sorgfältig vorbereitet veränderte[n] Wiedergabe“ reichen können (Ferand 1961:6; Figueroa-Dreher 2016:39). In diesem Kontinuum an Möglichkeiten zwischen „tatsächlicher“ und „scheinbarer“ Spontanität (Figueroa-Dreher 2016:11) unterscheidet Ferand zwischen den beiden Kategorien absoluter und relativer Improvisation (Ferand 1961:6; Figueroa-Dreher 2010:39). Diese beiden Kategorien unterscheiden sich im Wesentlichen darin, dass relative Improvisationsformen mit konkreten Vorlagen (wie Referenztönen, melodischen Formeln, harmonischen Modellen) arbeiten und bei absoluten Improvisationsformen kaum Vorlagen zu identifizieren sind (Figueroa-Dreher 2016:40). Als erste „autonome“, freiere Improvisationsformen finden sich nach Ferand im europäischen Raum die historischen Gattungen „Präambeln“, „Präludien“ und „Toccaten“, die sich durch das Ausloten instrumentaltechnischer und motorischer Möglichkeiten charakterisieren (Figueroa-Dreher 2016:40). Freie, absolute oder oft auch als „nicht-idiomatisch“ (ebd.:44) bezeichnete Improvisationsformen finden sich darüber hinaus ab den 1960er Jahren vor allem in der Neuen Musik und heben sich, durch eine bewusste Abkehr von musikalischen Konventionen (ebd.:44) verbunden, mit dem Ideal einer musikalisch gleichberechtigten Interaktion im Kollektiv hervor (ebd.:45). In diesen eher absoluten Improvisationsformen der Neuen Musik gehören übergeordnete ästhetische Prinzipien, wie die Suche nach „dem Organischen, dem Fluss“, das „Weben am gemeinsamen Klang-Teppich“ oder das „Inszenieren von Brüchen, harten Schnitten“ zu leitenden Parametern (ebd.:59).

Darüber hinaus fasst das Handbuch Musikpädagogik (Krämer 2018:319) das Improvisieren, Komponieren und Interpretieren als „komplementär sich ergänzende Modi musikalischen Gestaltens“ auf. Diese drei Modi künstlerischer Produktion bilden in diesem Sinne eine in vielerlei Hinsicht ineinander verwobene Einheit, deren einzelne Bestandteile in ihrer Reinform nur als Idealtypen existieren. So können auch Jazz- oder Klassikperformer*innen als Improvisator*innen unterschiedlichen Grades verstanden werden. Im Unterschied zum Jazz würden in der Klassik improvisatorische Verhandlungen allerdings überwiegend in den Proben und nicht im Konzert geführt werden (Figueroa-Dreher 2016:15), weswegen der Improvisationsanteil im klassischen Konzert vergleichsweise gering sei (ebd.:16).

Was alle improvisatorischen Praxen gemeinsam haben: Ein Großteil der Fähigkeiten und des dafür notwendigen Wissens ist implizit und wurde primär durch praktische Erfahrung und Übung erworben. Durch die Reflektion dieser Praxen entstehen Kontexte Kultureller Bildung, die diese vielfältigen Wissensformen überhaupt erst reflexiv zugänglich machen und damit die Grundlage für interkulturelle Dialoge und kulturelles Verständnis legen und bzw. diese vertiefen können.

Definition: Implizites vs. explizites Wissen

Beim Improvisieren ist eine Art Wissen nötig, das nicht dem herkömmlich unter diesem Begriff verstandenen expliziten, eindeutig kommunizierbarem, Regel- und Faktenwissen gleicht. Eine Definition liefern Haenisch und Godau, die im Rahmen ihres Forschungsprojekts Improvisierendes Wissen Lernprozesse zeitgenössischen Improvisierens untersucht haben und in ihren Forschungen an das Konzept des tacit knowing nach Polanyi anknüpfen. Unter implizitem Wissen verstehen sie:

„zumeist inkorporierte, überwiegend vor-reflexive Wissensformen, die als Erfahrungswissen im Vollzug der Praxis en passant erworben werden: Weder der lernende Aufbau noch das Anwenden und Weiterentwickeln impliziten Wissens müssen den Praktikern »bewusst« sein. Diese verfügen damit über Wahrnehmungs-, Entscheidungs- und Handlungsdispositionen, die sich in gelingender Praxis zeigen, aber von den Praktikern selbst oft nicht artikuliert werden können.“ (Haenisch/Godau 2016:68)

Unter implizites Wissen fallen nach Haenisch und Godau somit vor allem erlernte Fähigkeiten, Intuitionen und Routine- sowie Problemlösungskompetenzen, „praxisrelevante Orientierungs- und Deutungsmuster”, aber auch als Form nicht-sprachlicher Reflexion im Sinne einer “reflection-in-action“ (Haenisch/Godau 2016:68). Losert und Schlimp verstehen die Voraussetzungen für das Improvisieren ganz ähnlich: Auf Grundlage jahrelanger Improvisationserfahrung kommen sie zu dem Schluss, dass Improvisation ein Prozess ist, in dem auf prozedurales Wissen (das heißt Wissen in teilweise unbewusster, impliziter Form) zurückgegriffen wird: „Wir können es [prozedurales Wissen] uns zwar bewusst machen, in aller Regel ist es uns das aber nicht. Gleichwohl handeln wir nicht zufällig, sondern gezielt und regelgeleitet.“ (2019:26).

Erkenntnispotenziale: Improvisation als Methode in der Musiktheorie

Dreieck: Reflektieren über Improvisation
Abb. 1: Modell zur Erkenntnisgewinnung beim Improvisieren im Musiktheorieunterricht

Haenisch und Godau nehmen, wie Losert und Schlimp (2019:68), an, dass Teile des impliziten Wissens, wenn sie in den Aufmerksamkeitsfokus gebracht werden, von Praktiker*innen verbalisiert werden können. Ein Musiktheorieunterricht, in dem improvisiert wird, kann somit implizites ‚Handlungswissen‘ in sprachlicher Form zugänglich machen – indem praktisches Kultur-Wissen zunächst improvisierend zur Anwendung kommt, sich ‚zeigt‘ und in anschließender Reflexion explizit gemacht wird. Dabei kann sowohl der theoretisch-wissenschaftliche Auseinandersetzungsprozess von der musikalisch-künstlerisch motivierten Perspektive als auch der musikalisch-künstlerische Auseinandersetzungsprozess von der theoretisch-wissenschaftlich Perspektive stark profitieren. So können implizite Wissensformen, beispielsweise über eine konkrete kontrapunktische Struktur oder ein harmonisches Modell, oder über grundlegenderes musikalisches Material einer bestimmten Musikkultur, verfügbar gemacht und auf konkrete musikalisch-künstlerischen Handlungs- und Reflexionskontexte übertragen werden. Das ermöglicht ein direkteres Verstehen und Verinnerlichen andernfalls womöglich abstrakt isoliert gebliebener Sachverhalte.

Gleichzeitig, so Landau und Limb (2017:30), kann auch das Lernen von musikalischen Strukturen auf explizitem Wege die Improvisationskompetenz bereichern, indem sich durch neu erworbenes Material die eigene Wissensbasis erweitert (Altenmüller 2006:3) und damit neue Handlungsoptionen in einer Improvisation geschaffen werden. Über das in den Musiktheorie-Unterricht eingebettete Improvisieren lässt sich also eine Wechselwirkung aus explizitem und implizitem Wissen herstellen, die langfristig zu einem flexibel einsetzbaren und fundierten ‚musikalischen Besitz‘ führen kann, bei dem „Hören, Greifen/Körpergedächtnis, Sehen/Notenlesen, kognitives Verstehen und mentale Repräsentation der Musik“ als Formen des Musikverstehens ineinandergreifen (Krämer 2021:8).

Beim Improvisieren, als unmittelbarste musikalische Praxis, muss das für den Prozess nützliche Material in Echtzeit verfüg- und abrufbar sein. Diese besondere Zeitlichkeit des Improvisierens kann dazu motivieren, die eigene, zugrundeliegende Wissensbasis und damit verbundene Handlungsoptionen durch entsprechendes Pattern-Training gezielt zu erweitern. Außerdem kann andersherum über spontan generiertes musikalisches Handlungswissen reflektiert und dieses bereits implizit vorhandene Wissen explizit gemacht werden. Diese expliziten gewonnenen Erkenntnisse über musikalische Strukturen können im Handlungskontext Improvisieren wiederum bewusst eingesetzt werden.

Dieses besondere Zusammenwirken von theoretisch-wissenschaftlichen und instrumentalpraktischen Fähigkeiten bringt wiederum ein kulturöffnendes Potenzial mit sich: Einerseits sich selbst gegenüber, indem die eigene kulturelle Prägung im Spiegel der Lehrperson und Lerngruppe überhaupt erstmal wahrgenommen und verbalisiert werden kann, und andererseits gegenüber anderen, insbesondere auch außereuropäischen Musikkulturen, bei denen das Improvisieren zu den tragenden ästhetischen Prinzipien gehört (z.B. in der traditionellen Musik im Iran oder Indien). Das setzt einerseits einen Rahmen voraus, in dem weitestgehend „voraussetzungsfrei“ improvisiert werden kann und andererseits die Bereitschaft bei Lernenden und Lehrenden, sich dahingehend zu öffnen und eine Kommunikation weitestgehend auf Augenhöhe zu ermöglichen. Insbesondere dann hat Improvisieren als Lernaktivität das Potenzial, Berührungsängste mit komplexeren Inhalten zu verringern - indem man sich einem bestimmten musikalischen Stil zunächst improvisatorisch und in einer Grundhaltung der Akzeptanz, im Sinne einer positiven Fehlerkultur (Krämer 2018:320), nähert. Musiktheorieunterricht kann so, indem Musikerfahrungen zunächst gesammelt und anschließend gemeinsam reflektiert werden, kulturelle Teilhabe ermöglichen.

Fazit

Ein (musiktheoretischer) Begriff wird nach meiner bisherigen Unterrichtserfahrung insbesondere dann von Lernenden sinnvoll angewendet oder kritisch beurteilt, wenn er mit einer Reihe an praktischen Erfahrungen verknüpft wird. Indem improvisierender Musiktheorieunterricht direkt an vorhandenes Erfahrungswissen anknüpft, kann Musiktheorie so voraussetzungs- und damit auch angstfreier vermittelt werden. Das gemeinsame Improvisieren ermöglicht dabei zu beobachten, über welches kulturell geprägte Erfahrungswissen Musiker*innen verfügen, an das im Unterricht entsprechend angeknüpft werden kann oder sollte. Gleichzeitig können so auch Erfahrungen und Kenntnisse ausgetauscht und die eigene Analyse- und Reflektionsfähigkeit anhand der eigenen “Experimente” in einem motivierenden und spielerischen Rahmen geübt, und kulturelle Reflexionsprozesse angestoßen werden. Musiktheoretische Begriffe bleiben somit keine praxisfernen und komplizierten Vokabeln, sondern werden Teil einer Sprache, die die eigenen Erfahrungen beim Musizieren kommunizieren kann.

Von einem Musiktheorieunterricht in dem improvisiert wird, verspreche ich mir daher, dass er einen musikalischen Erfahrungsraum schafft, in dem musiktheoretisches Wissen aktiv und offen ausgehandelt werden kann. Ein anschauliches Bild für einen solchen Unterricht liefert der amerikanische Musiktheoretiker Michael R. Rogers, der das Fach Musiktheorie allgemein als eine Aktivität versteht, die keine Ansammlung von Antworten, sondern eine Reihe von Möglichkeiten, Musik zu hören und über sie nachzudenken, darstellt:

“Theory, then, is not just something to learn but is also something to do. It represents not just a cluster of answers but a range of options for thinking about and listening to music. Music theory, in my opinion, is not a subject like pharmacy with labels to learn and prescriptions to fill, but it is an activity – more like composition or performance. The activity is theorizing i.e., thinking about and hearing what we think about- and I would include even thinking about what we think.” (Rogers 2004:7)

Nach diesem Verständnis wird Musiktheorie zu einem dynamischen Unterrichtsfach, das über die Methode des Improvisierens verstärkt auch kulturelle Bildungsprozesse in den Blick nehmen kann: Indem es nicht um die eine vorgeschriebene, sondern um mögliche andere Perspektiven auf Musik geht, kann erfolgreich Kultur vermittelt werden und damit die Erfahrung in den Vordergrund rücken, „…, dass alles auch ganz anders sein könnte.“ (Mandel 2005:16).

 

Verwendete Literatur

  • Altenmüller, Eckart (2006): Das improvisierende Gehirn. In: Musikphysiologie und Musikermedizin 1/20061-10.
  • Behschnitt, Rüdiger (2020): Bewusstes Hören. Ein Studientag an der Musikhochschule Mannheim ging dem Hören, Lauschen und Lernen nach. In: üben & musizieren 1/2020, 48.
  • Bertram, Georg W./Rüsenberg, Michael (2021): Improvisieren! Lob der Ungewissheit. Stuttgart: Reclam.
  • Brandes, Juliane (2018): Ludwig Thuille und die Münchener Schule. Hofheim: Wolke.
  • Dudenredaktion (o.J.): improvisieren: https://www.duden.de/rechtschreibung/improvisieren (letzter Zugriff am 11.02.2023).
  • Ferand, Ernst (1961): Die Improvisation in Beispielen aus neun Jahrhunderten abendländischer Musik. Köln: Arno Volk.
  • Figueroa-Dreher, Silvana K. (2016): Improvisieren: Material, Interaktion, Haltung und Musik aus soziologischer Perspektive. Wiesbaden: Springer.
  • Fladt, Hartmut (2014): Werkanalyse und Höranalyse. In: Kubicek, Ralf (Hrsg.): Musiktheorie und Vermittlung. Didaktik, Ästhetik, Satzlehre, Analyse, Improvisation (219-230). Hildesheim: Olms.
  • Froebe, Folker/Sprick, Jan Philipp (2010): Musiktheorie und Improvisation. IX. Kongress der Gesellschaft für Musiktheorie. In: Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie 7 III/2010, 381–384.
  • Haenisch, Matthias/Godau, Marc (2016): Perspektiven einer systemisch-konstruktivistischen Improvisationsforschung. In: Gagel, Reinhard/Schwabe, Matthias (Hrsg.): Improvisation erforschen – improvisierend forschen (67-100). Bielefeld: transcript.
  • Holtmeier, Ludwig (2003): Von der Musiktheorie zum Tonsatz. Zur Geschichte eines geschichtslosen Faches. In: ZGMTH 1–2 I/2003, 11–34.
  • Kaden, Christian (1993): Des Lebens wilder Kreis. Musik im Zivilisationsprozess. Kassel: Bärenreiter.
  • Krämer, Oliver (2018): Improvisation als didaktisches Handlungsfeld. In: Dartsch, Michael/Knigge, Jens/Niessen, Anne/Platz, Friedrich/Stöger, Christine (Hrsg.): Handbuch Musikpädagogik: Grundlagen – Forschung – Diskurse (319-326). Münster: Waxmann.
  • Landau, Andrew T./Limb, Charles J. (2017): The Neuroscience of Improvisation. In: Music Educators Journal, 103 III/2017, 27–33.
  • Losert, Martin/Schlimp, Karen (2019): Klangwege. Improvisation anregen – Lernen – Unterrichten. Wien: Lit.
  • Mandel, Birgit (Hrsg.) (2005): Kulturvermittlung zwischen kultureller Bildung und Kulturmarketing. Eine Profession mit Zukunft. Bielefeld: transcript.
  • Rogers, Michael R. (2004): Teaching Approaches in Music Theory, An Overview of Pedagogical Philosophies. Carbondale: Souther Illinois University Press.

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Kaja Nieland (2023): Improvisierend Musik verstehen – Kulturelle Bildungspotenziale eines Musiktheorieunterrichts mit Improvisation. In: KULTURELLE BILDUNG ONLINE: https://www.kubi-online.de/index.php/artikel/improvisierend-musik-verstehen-kulturelle-bildungspotenziale-eines-musiktheorieunterrichts (letzter Zugriff am 16.07.2024).

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