Improvisation als Doing Gender – Doing Gender als Improvisation?
Impulse für eine gendersensible Improvisationsdidaktik
Abstract
Der Beitrag nähert sich dem Verhältnis von Improvisation und Doing Gender, indem er zunächst Gemeinsamkeiten beider Praktiken herausarbeitet. Diese werden unter anderem in einer hohen Bedeutung sozialer Interaktionen gesehen sowie in der Möglichkeit, innerhalb eines gegebenen sozialen und ästhetischen Rahmens Gestaltungsfreiräume zu nutzen. Anhand von Beispielen werden Spannungsfelder musikalischer Improvisation erörtert und auf Prozesse des Doing Gender übertragen.
Die Entwicklung gendersensibler Ansätze in der Improvisationsdidaktik bietet die Möglichkeit, sowohl musikpädagogische als auch allgemeine genderpädagogische Zielsetzungen zu realisieren. Um Freiräume zum Erkunden unterschiedlicher künstlerischer Handlungen, (Gender-)Rollen und Identitäten zu schaffen, werden vielfältige Möglichkeiten gendersensiblen Arbeitens vorgeschlagen, die in der Praxis flexibel eingesetzt werden können. Die von Debus (2017) entwickelten Strategien der Dramatisierung, Entdramatisierung und Nicht-Dramatisierung bieten dabei eine Orientierung und werden im Hinblick auf die improvisatorischen Handlungsfelder Jazz, Freie Gruppenimprovisation sowie Tanz- und Bewegungsimprovisation konkretisiert.
Der Begriff Improvisation
Sowohl im Alltagsdiskurs als auch in künstlerischen Kontexten wird der Begriff Improvisation vielfach angewandt, bis heute gibt es jedoch keine allgemeingültige wissenschaftliche Definition. Um eine Grundlage für die nachfolgenden Überlegungen zum Verhältnis von Gender und Improvisation zu schaffen, werde ich daher zunächst das Bedeutungsspektrum aufzeigen und einige Gemeinsamkeiten benennen, die improvisatorische Praktiken bei aller Unterschiedlichkeit aufweisen.
Duden online (o.J.) erläutert den Terminus als etwas „ohne Vorbereitung, aus dem Stegreif Dargebotenes“ bzw. „[musikalische] Stegreiferfindung und -darbietung“ und stellt damit einen Bezug zur künstlerischen Praxis her. Wikipedia (2022) gibt zusätzlich eine alltagssprachliche Verwendungsweise an: „Im allgemeinen Sprachgebrauch versteht man unter Improvisation auch den spontanen praktischen Gebrauch von Kreativität zur Lösung auftretender Probleme.“ Der Fokus wird damit einerseits auf die Spontaneität gelegt, andererseits auf die Problemlösung und die dafür erforderliche Kreativität – Aspekte, die das Improvisieren auch über den künstlerischen Bereich hinaus als eine Form menschlichen Handelns ausweisen, die weitgehend als positiv eingeschätzt wird.
Diese positive Konnotation sehen Georg W. Bertram und Michael Rüsenberg (2021:9) nicht durchgängig gegeben. Für die Anwendung im alltäglichen Leben hafte der Improvisation „der Ruf des Beliebigen an, des Halbfertigen, nicht ganz Gelungenen“, das Menschen nur dann für erforderlich hielten, „wenn sie nicht (ausreichend) vorbereitet sind, wenn etwas schief geht“. Dies halten sie für ein falsches Verständnis von Improvisation, dem sie das positiv konnotierte, wie es u.a. in Bezug auf Jazzimprovisation Anwendung findet, gegenüberstellen. Die besondere Qualität sehen die Autoren in der Fähigkeit zum Umgang mit Unsicherheiten und dem Unvorhergesehenen.
Oliver Krämer (2019:319) beschreibt das Improvisieren als „eine spezifische musikalische Praxis, bei der die Erfindung, klangliche Realisierung und Wahrnehmung von Musik zeitlich untrennbar zusammenfallen.“ Damit betont er die Gleichzeitigkeit im Sinne einer „Instant Composition“, klammert aber die Frage der Vorhersehbarkeit zunächst aus und liefert damit ein offeneres Begriffsverständnis. Zusätzlich verweist er darauf, dass das Improvisieren „allein oder gemeinsam mit anderen“ möglich sei und stellt damit einen weiteren wesentlichen Aspekt heraus. Angespielt wird damit auch auf die beim gemeinsamen Improvisieren relevante Interaktion (u.a. Gagel 2010, Collier 1995) die gerade im Hinblick auf Geschlechterkonstruktionen eine besondere Relevanz hat.
Felix Elsner-Siedenburg (2017:23) liefert eine Definition, die die Gemeinsamkeiten unterschiedlicher Felder der Improvisation wie Theater, Musik oder Alltagssituationen herausstellt: „das Agieren aus dem Moment heraus [...] im Zusammenspiel mit dem Reagieren auf eine kontingente Umwelt.“ Dieses Begriffsverständnis stellt eine Verbindung zu weiteren künstlerischen Domänen her, betont die Bedeutung der Umwelt und verweist auf ihre Kontingenz. Damit beinhaltet es wesentliche Aspekte, die im Vergleich des Improvisierens in unterschiedlichen ästhetischen Feldern sowie in Prozessen des Doing Gender relevant sind und bietet für die nachfolgenden Überlegungen einen geeigneten Orientierungspunkt.
Improvisation und Doing Gender
Die Gender-Konnotationen des Improvisierens ergeben sich zunächst einmal daraus, dass in vielen improvisatorischen Handlungsfeldern ein unausgewogenes Geschlechterverhältnis vorhanden ist. So sind im Jazz männliche Musiker in der Mehrheit, während in der Tanzimprovisation mehr weibliche Akteurinnen anzutreffen sind. Darüber hinaus findet in diesen Handlungsfeldern – wie auch in jedem anderen sozialen Kontext – Doing Gender statt. Dies bedeutet im Sinne von Candace West und Don H. Zimmerman (1987), dass in sozialen Interaktionen Geschlecht konstruiert und bedeutsam gemacht wird – etwa durch sprachliche oder körperliche Praktiken und Handlungen, aber auch durch künstlerische Praktiken. Wesentliche Bezugspunkte sind dabei sozial konstruierte Bedeutungen, die Lucy Green als „delineated meaning“ bezeichnet (Green 2002:140). In musikalischen Kontexten stehen sie mit musikalischen Bedeutungen in Verbindung und beinhalten auch Genderaspekte. Green arbeitet heraus, dass Tätigkeiten wie das Komponieren und Improvisieren mit traditionellen Genievorstellungen, dem Bild einer bewundernswerten Kreativität, Authentizität, sowie besonderen geistigen Fähigkeiten verknüpft sind und diesen Bildern eine maskuline Konnotation anhaftet. Wenn Mädchen und Frauen diese Tätigkeiten ausüben, steht dies im Widerspruch zu solchen Zuschreibungen, sodass traditionelle Weiblichkeitsvorstellungen in Frage gestellt werden, „so far as to threaten conventional definitions of femininity“ (Green 2002:142). Aus der musikalischen Betätigung ergibt sich damit eine Positionierung im Hinblick auf Gender: Vorstellungen von Geschlecht werden gestärkt oder neu verhandelt. Gleichzeitig kann die musikalische Tätigkeit von den Improvisierenden selbst zur Festigung oder Weiterentwicklung ihrer Geschlechtsidentität genutzt werden (ebd.:145). Wie genau dieser Prozess sich gestaltet, ist vom jeweiligen Handlungsfeld abhängig und geprägt von der kontingenten sozialen und materiellen Umwelt, auf die reagiert bzw. mit der interagiert wird.
Doch auch Prozesse der Geschlechterkonstruktion außerhalb künstlerischer Domänen können von improvisatorischem Handeln geprägt sein. Judith Butler (2004:1) spricht in diesem Zusammenhang von „improvisation within a scene of constraint“. Sie erläutert das Improvisatorische als ein Moment der Freiheit in der Auseinandersetzung mit genderbezogenen Normen, Regeln und Praktiken: „So for me improvisation designates a relative domain of freedom in a rule-bound world“ (McMullen/Butler 2016:26). Die Auseinandersetzung mit den genannten Beschränkungen spiele dabei eine zentrale Rolle: „We wouldn’t understand improvisation if there were no rules. In other words, improvisation has to either relax the rules, break the rules, operate outside the rules, bend the rules—it exists in relation to rules, even if not in a conformist or obedient relation” (ebd.:25). Damit zeigen sich Gemeinsamkeiten mit improvisatorischen Praktiken in künstlerischen Feldern: Die Frage des Verhältnisses von Freiheit und Regelhaftigkeit und die Auseinandersetzung spielt auch hinsichtlich der musikalischen Improvisation eine zentrale Rolle.
Im Hinblick auf die Entwicklung einer gendersensiblen Pädagogik stellt sich die Frage, ob beim künstlerischen Improvisieren und beim Improvisieren im Rahmen alltäglicher Genderkonstruktionen auch ähnliche Strategien gefordert sind. Sofern dies zutrifft, könnte man mit einer Förderung im Bereich Improvisation Schüler*innen gleichzeitig darin unterstützen, mehr Flexibilität bei der Erkundung von Genderpositionen zu entwickeln. Doch inwiefern solche Transfereffekte tatsächlich gegeben sind, ist bisher unklar: Zwar verspricht man sich von Improvisationsunterricht bereits unterschiedliche positive Wirkungen, etwa die Entwicklung sozialer und kommunikativer Kompetenzen oder die Förderung der Demokratiefähigkeit (vgl. Bosse/Tellitsch 2020), doch gibt es derzeit noch keine empirischen Belege für solche Wirkungen. Hinsichtlich eines Nutzens der Improvisation für mehr Genderflexibiliät ist also weitere Forschung erforderlich. Dennoch lohnt es sich auch auf dem aktuellen Erkenntnisstand, Ansätze gendersensibler Improvisationsdidaktik umzusetzen, denn sie können dazu beitragen, musik- und kulturpädagogische Zielsetzungen zu realisieren – etwa indem sie die Flexibilität im musikalischen und ästhetischen Handeln fördern. Darüber hinausgehende Transfereffekte sind zwar wünschenswert, aber nicht unbedingt das primäre Ziel eines gendersensiblen Improvisationsunterrichts.
Doing Gender in Spannungsfeldern der Improvisation
Die anhand der Definitionsversuche aufgezeigten Charakteristika von Improvisation lassen sich als Spannungsfelder beschreiben, innerhalb derer sich unterschiedliche improvisatorische Praktiken jeweils spezifisch verorten lassen. Gleichzeitig beeinflusst diese Verortung auch die Bedingungen für die Konstruktion von Gender im jeweiligen Praxisfeld.
Spontane Erfindung und erlernte Modelle
Andreas Back und Peter Klose (2018) untersuchten die improvisatorische Praxis professioneller (männlicher) Jazzmusiker und konnten mit Hilfe von Video-Stimulated-Recall-Interviews wesentliche Aspekte des Improvisationsprozesses rekonstruieren. Sie arbeiten heraus, dass die Kombination spontaner Ideen mit erlernten Modellen ein zentrales Prinzip darstellt. Teilweise erkennen die Musiker beim Betrachten der Videoaufnahmen, dass sie Erlerntes wie Skalen- und Akkordmaterial in der Spielsituation abgerufen und in ihre Improvisation integriert haben, teilweise identifizieren sie spontane Entscheidungen und Reaktionen auf die Musiziersituation als Einflussfaktoren für den Verlauf ihrer Improvisation.
Eine etwas andere Differenzierung nimmt Thomas Turino (2009) vor, indem er den improvisatorischen Praktiken die des formulaic playing gegenüberstellt. Er bezieht sich dabei auf participatory performance, die er definiert als „a special type of art in which there are only participants and potential participants in a face-to-face situation“ (Turino 2009:108). Dazu zählt er unter anderem das Singen am Lagerfeuer sowie Musik verschiedener afrikanischer Traditionen und einiger indigener Kulturen Amerikas. Er arbeitet heraus, dass insbesondere in komplexerer participatory music improvisatorische Anteile es den Musizierenden ermöglichen, innerhalb einer von vorgegebenen Patterns geprägten Musik Herausforderungen zu suchen und so im Flow zu bleiben (ebd.:109). Damit liefert er Begrifflichkeiten zur Beschreibung schriftfreien Musizierens an der Grenze zwischen Improvisation und Festlegung, die auch für weitere musikalische Bereiche von Nutzen sind: Auch in der Popmusik und anderen überwiegend schriftfreien musikalischen Genres spielt die Arbeit mit Formulas bzw. Patterns eine wichtige Rolle (vgl. u.a. Lilliestam 1996). Die Grenzen zwischen festgelegtem, frei variiertem und neu kreiertem musikalischem Material sind dabei fließend.
Vergleicht man diese Sicht auf die Improvisation mit Prozessen der Geschlechterkonstruktion, so lässt sich auch hier ein Ineinandergreifen von erlernten Modellen und freien, situationsbedingten Gestaltungsmöglichkeiten erkennen. Der Bezug auf bestimmte Patterns ist dabei ein wichtiges Element: Wir haben die Möglichkeit, in der sozialen Interaktion auf Muster zurückzugreifen, die mit einer bestimmten Genderposition in Verbindung stehen, etwa durch Wahl unserer Kleidung, das Auftreten gegenüber anderen Menschen, unsere Mimik und viele weitere Faktoren. Die Muster, auf die wir uns dabei beziehen, sind teilweise abhängig vom jeweiligen sozialen Raum, in dem wir uns bewegen, ähnlich wie in der musikalischen Improvisation die jeweilige Stilistik oder Improvisationskultur einen erheblichen Einfluss auf die verwendeten musikalischen Formeln und Patterns hat. Gleichzeitig können sowohl in der musikalischen Improvisation als auch beim Improvising Gender Muster auch variiert, verändert oder mit anderen Ideen kontrastiert werden. So ist Improvisation in beiden Fällen mehr als das Aneinanderreihen von vorhandenem Material.
Der individuelle Gestaltungsspielraum erhält in einigen improvisatorischen Handlungsfeldern ein besonderes Gewicht. So wird in der Freien Gruppenimprovisation und anderen experimentell orientierten Praxisfeldern oftmals alles Formelhafte, zuvor Erlernte bewusst vermieden. Stattdessen wird ein besonderer Fokus auf den Aspekt der spontanen Erfindung gesetzt und die Einmaligkeit der Improvisation wird in den Mittelpunkt gestellt. Reinhard Gagel (2010:7) beschreibt, dass aus der Perspektive vieler Musiker*innen „ihre Beschäftigung mit Improvisation in höchstem Maße individuell und scheinbar nicht übertragbar bzw. verallgemeinerbar ist“. Diese Aussage verweist auf das in Praxisfeldern der Freien Gruppenimprovisation verbreitete Unbehagen, sich mit tradiertem oder von einer anderen Person komponiertem musikalischen Material zu beschäftigen, da dies als unangemessene Eingrenzung und Festlegung empfunden wird. Eine solche Perspektive steht in der Regel mit einer Ästhetik des Experimentellen in Verbindung, die tonale wie rhythmische Festlegungen vermeidet und stattdessen das Erkunden von Klangfarben in den Mittelpunkt stellt. Indem klangliche Bezüge auf bestimmte musikalische Konventionen bewusst vermieden werden, bewegen sich die Musizierenden jedoch innerhalb einer improvisatorischen Praxis, die ebenfalls eine längere Tradition aufweist, indem sie von spezifischen Ästhetiken des Experimentellen und den damit verknüpften musikalischen Verhaltensweisen geprägt ist.
Auch beim Doing Gender können wir gezielt soziale Räume aufsuchen, die es ermöglichen, sich von tradierten Normen zu distanzieren und größere Spielräume hinsichtlich der Geschlechterpositionen bieten. So sind in der Queer-Szene einer Großstadt andere Voraussetzungen für Genderkonstruktionen anzutreffen als beispielsweise im Vereinsleben einer ländlichen Kommune. Dennoch ist ein Bezug auf vorhandene Normen und Konventionen auch in Kontexten gegeben, in denen man sich von konventionellen Geschlechternormen distanziert, sodass sich eine weitere Parallele zur musikalischen Improvisation ergibt. Im Fall einer experimentellen musikalischen Improvisation wird der Verzicht auf Tonalität wahrgenommen, im Fall einer nicht-binären Person das Durchbrechen der Erwartung einer Zuweisung zum männlichen oder weiblichen Geschlecht. In Beidem zeigen sich spezifische ästhetische Vorstellungen, die durch die Distanzierung von Normen und Stereotypen geprägt sind, gleichzeitig aber auch neue Bezugspunkte oder Patterns hervorbringen, die sich innerhalb dieser Handlungsfelder etablieren können, sodass wir experimentelle Musik oder queere Genderinszenierungen als solche zuordnen können.
Beim Vergleich des individuellen Umgangs mit spontaner Erfindung und erlernten Modellen stellt sich die Frage, welche Faktoren darüber entscheiden, ob wir dem einen oder dem anderen Aspekt der Improvisation ein höheres Gewicht geben. Im Hinblick auf die Musik hat Jürgen Terhag (2004) die Beobachtung reflektiert, dass klassisch geschulte Musiker*innen, die sich normalerweise in einem weitgehend festgelegten musikalischen Kontext bewegen, beim musikalischen Improvisieren häufig experimentelle Kontexte bevorzugen, die ihnen ein hohes Maß an Freiheiten bieten. Er erklärt dies damit, dass es einfacher sei, Hemmungen zu überwinden, wenn das Risiko, Fehler zu machen, als gering eingeschätzt wird, da die „Angst vor dem falschen Ton“ entfällt (vgl. ebd.:226). An anderer Stelle bin ich aufgrund empirischer Daten zu dem Ergebnis gekommen, dass Frauen besonders häufig dieser von Terhag als „gehemmt“ beschriebenen Gruppe gehören, die eine klassische musikalische Prägung mitbringt und aus den genannten Gründen das rhythmisch und harmonisch ungebundene Improvisieren anderen Formen gegenüber vorzieht (vgl. Siedenburg 2006).
Inwiefern ähnliche Phänomene beim improvisatorischen Doing Gender in Erscheinung treten, lässt sich an dieser Stelle nicht klären. Die Wirkungsweise von Normen und Patterns dürfte jedoch auch hier je nach Kontext unterschiedlich sein und auch von individuellen Faktoren abhängen. Wesentliche Aspekte sind dabei die jeweiligen Machtpositionen und das eingeschätzte Risiko, das mit dem Durchbrechen von Erwartungen eingegangen wird. Wer als Junge oder Mann innerhalb der Geschlechterhierarchie eine höhere Position innehat, kann an Macht verlieren, wenn er durch das Ausführen einer vermeintlich feminin konnotierten Tätigkeit Gendernormen durchbricht. Wer dagegen aus einer niedrigeren Machtposition agiert, könnte Freiräume zur Erkundung und Redefinition der eigenen Geschlechtsrolle als besonders bestärkend empfinden oder beim Durchbrechen von Genderzuschreibungen sogar an Anerkennung gewinnen. Neben diesen Machtaspekten sind jedoch noch weitere Faktoren relevant, sodass sich die beschriebenen Mechanismen nicht verallgemeinern lassen. Geschlechtsbezogene Traditionen und Gender-Patterns sind kontextabhängig, und die Ursachen, sich mehr oder weniger an vorhandenen Mustern zu orientieren, können vielfältig sein.
Individuum und Kollektiv
Der Individualität wird im Hinblick auf die Improvisation häufig eine große Rolle zugesprochen. Dies ergibt sich unter anderem aus einem traditionellen Verständnis von Kreativität als einer Einzelleistung, die nur wenigen möglich ist. Hier zeigt sich eine Mystifizierung des künstlerischen Schaffens, die mit männlich konnotierten Genievorstellungen des 18. und 19. Jahrhundert in Verbindung steht (u.a. Mayhew 1999:65ff; Green 1997:113).
Gleichzeitig wird jedoch auch die Bedeutung des Kollektivs herausgestellt. So betrachtet Gagel (2010) Improvisation als eine „soziale Kunst“, die musikalische Kommunikation ermöglicht. Aus diesen kollektiven Prozessen ergeben sich neue Formen und Strukturen – ein Phänomen, dass er als Emergenz bezeichnet. Gagel betont, dass an diesen kooperativen Prozessen jede*r, der/die improvisieren will, beteiligt sein kann. Damit werde die „Fähigkeit zum Improvisieren (...) aus nebulös mystischen Zusammenhängen befreit“ (vgl. ebd.:194). Seine Perspektive steht im Einklang mit Vorstellungen von Kreativität als einer allgemeinen menschlichen Fähigkeit, die auf Kooperation basiert (u.a. Burow 1999) sowie Forschungen zur musikalischen Gruppenkreativität (vgl. Rosenbrock 2006 sowie Stöger 2018:262). In einigen Feldern ist eine Beteiligung an der Improvisation allerdings nicht voraussetzungslos, sondern setzt spezielle Fertigkeiten und Kenntnisse voraus. So ist beispielsweise für viele Jazz-Stilistiken eine umfangreiche Kompetenz im Bereich der Harmonik und ein sehr gutes spieltechnisches Niveau kaum verzichtbar, doch auch hier wird die Bedeutung von Interaktion und Kollaboration von vielen Autor*innen betont (u.a. Collier 1995). Dies lässt sich damit erklären, dass diese Faktoren hier anders ausgestaltet werden als beispielsweise in experimentellen Kontexten.
R. Keith Sawyer (2006:148) erforscht Aspekte der Gruppenkreativität in einem Vergleich von Jazz und Improvisationstheater und erkennt Gemeinsamkeiten zwischen beiden Feldern im Hinblick auf Improvisation, Kollaboration und Emergenz. Elsner-Siedenburg (2017:274ff) findet dagegen auch Differenzen. Er kommt zu dem Ergebnis, dass im Jazz durch eine starke Konzentration auf Individualität das Kollektiv teilweise aus dem Blick gerät, während es im Improvisationstheater und in der freien Gruppenimprovisation eine höhere Bedeutung habe. Damit zeigt sich, dass sowohl der Umgang mit Individualität und Kollektivität als auch die Bewertung dieser Aspekte innerhalb des jeweiligen improvisatorischen Praxisfelds betrachtet werden müssen.
Auch für die Konstruktion von Geschlecht haben derartige feldspezifische Aspekte eine Bedeutung. Die jeweiligen Bedingungen sozialer Interaktionen – zum Beispiel zahlenmäßige Geschlechterkonstellationen und geschlechtsbezogene Traditionen – wirken sich sowohl auf die Möglichkeit zur Teilhabe als auch auf die kollektiven Prozesse selbst aus. Dabei ist von Bedeutung, auf welche Weise sich ein Kollektiv bildet, denn dieser Vorgang ist nicht selten von Ausschlussmechanismen geprägt. So kann in der Jazzszene ein Ausschluss aufgrund der spielertechnischen Fähigkeiten erfolgen, doch auch aufgrund von Genderaspekten (u.a. Niederauer 2014:227ff). Eine Beteiligung steht somit nicht allen gleichermaßen offen. In weiterer Forschung wird noch genauer zu klären sein, auf welche Weise Kollektive in den unterschiedlichen Improvisationsfeldern konstruiert und ausgestaltet werden und wie sich diese Aspekte auf die jeweiligen Genderkonstruktionen auswirken.
Die Akteur*innen sind also im Improvisationsprozess mit zahlreichen Herausforderungen konfrontiert: Sie setzen sich mit vorhandenen musikalischen und genderbezogenen Modellen auseinander, zwischen denen sie sich auf die eine oder andere Weise verorten, nutzen dabei Freiräume, beziehen sich auf Konventionen oder durchbrechen diese, versichern sich dabei ihrer Individualität, orientieren sich an Vorbildern, lassen sich auf andere ein, greifen Impulse auf oder geben selbst solche Impulse. Dabei erkunden sie ihre Handlungsmöglichkeiten, sind aber gleichzeitig immer wieder auch mit einer gendercodierten Umwelt und mit musikalischen Traditionen konfrontiert, die bestimmte Positionierungen nahelegen. Das Improvisieren ermöglicht ihnen jedoch in diesem Zusammenhang eine aktive Gestaltung und ein spielerisches Experimentieren. Diese Erkundungsprozesse sind wesentlich, um die eigenen kreativen Potenziale entdecken und Erfahrungen mit vielfältigen Genderpositionen machen zu können.
Möglichkeiten gendersensibler Didaktik
Wie gezeigt können sich neben den jeweiligen sozialen und kulturellen Kontexten auch die improvisatorischen Praktiken selbst darauf auswirken, auf welche Weise Geschlecht verhandelt wird. Verschiedene Formen des Improvisierens bieten für das Improvising Gender unterschiedliche Bezugspunkte und Strategien. Aus dieser Vielfältigkeit ergibt sich, dass auch die Bedingungen für didaktische Entscheidungen und Konzepte in den einzelnen Praxisfeldern unterschiedlich sind. Es kann daher nicht nur eine Form gendersensibler Improvisationsdidaktik geben, vielmehr braucht es vielfältige Ansätze, die jeweils flexibel angepasst werden können. Aufgrund der Ausrichtung an allgemeinen Zielen einer gendersensiblen Didaktik ergibt sich dennoch ein gemeinsamer Nenner: Es geht darum, Diskriminierungen entgegen zu wirken und Kinder und Jugendlichen zu ermöglichen, sich nicht von geschlechtsbezogenen Zuschreibungen einengen zu lassen. Zentrale Anliegen sind die Förderung von Vielfalt sowie der Abbau struktureller Ungleichheiten. Um diese Ziele zu erreichen, gilt es Freiräume zum Erkunden unterschiedlicher künstlerischer Handlungen, (Gender-)Rollen und Identitäten zu schaffen (u.a. Heß 2018:149ff; Siedenburg 2022:106f).
Dramatisierung, Entdramatisierung und Nicht-Dramatisierung
Als mögliche Strategien einer geschlechterreflektierten Bildung unterscheidet Katharina Debus (2017) die Strategien der Dramatisierung, Entdramatisierung und Nicht-Dramatisierung. Dramatisierende Herangehensweisen machen Geschlecht, Sexismus oder sexuelle Vielfalt explizit zum Thema. Ein entdramatisierendes Vorgehen kann sich an ein dramatisierendes anschließen und hat das Ziel, über Polarisierungen hinauszugehen – etwa indem erfahrbar gemacht wird, dass die Differenzkategorie Geschlecht nicht binär zu betrachten ist, Vielfalt auch innerhalb der Geschlechtsgruppen vorliegt und Gemeinsamkeiten über Differenzlinien hinaus vorhanden sind. Nicht-dramatisierende Herangehensweisen schließlich stellen Genderfragen nicht in den Mittelpunkt, lassen sie jedoch in didaktische Entscheidungen und pädagogische Handlungen einfließen: Es werden Erfahrungen jenseits geschlechtsbezogener Zuschreibungen ermöglicht, ohne dass dabei die Genderkonnotationen thematisiert werden.
Bei der Entscheidung für die eine oder andere Strategie müssen unterschiedliche Faktoren berücksichtigt werden, wie etwa Alter, Zusammensetzung und Reflexionsvermögen der Lerngruppe oder auch die im betreffenden Praxisfeld vorherrschenden Differenzkonstellationen. Sind beispielsweise in einem Handlungsbereich Gendercodierungen besonders offensichtlich, spricht zunächst einiges für eine dramatisierende Strategie, da die Stereotype Kindern und Jugendlichen ohnehin präsent sein werden und daher ein Umgang mit diesem Problem kaum zu vermeiden ist. In einem zweiten, entdramatisierenden Schritt kann dann eine Distanzierung gegenüber den erkannten Zuschreibungen erfolgen, die es ermöglicht, die erkannten Machtverhältnisse zu hinterfragen und zu unterwandern.
Eine Strategie der Nicht-Dramatisierung kann Freiräume zur Erkundung neuer Ausdrucksformen schaffen, indem sie stereotype Zuschreibungen so weit wie möglich ausblendet und ihre Fortschreibung vermeidet. Ein solches Vorgehen ist am besten realisierbar, wenn die Differenzlinien nicht so ausgeprägt sind, dass ihre Überschreitung für Kinder und Jugendliche eine hohe Hürde darstellt, denn nur dann können sie sich spielerisch auf unterschiedliche Handlungen und Selbstinszenierungen einlassen. Trotz des Verzichts auf eine Thematisierung wird die Kategorie Gender bei der Planung jedoch berücksichtigt, damit potentielle genderbedingte Vorbehalte soweit wie möglich abgeschwächt werden können.
Gendersensibles Arbeiten in verschiedenen Praxisfeldern der Improvisation
Wie lässt sich nun eine gendersensible Improvisationsdidaktik, die der dargestellten Vielfalt an Bedingungen und Handlungsmöglichkeiten Rechnung trägt, in verschiedenen improvisatorischen Praxisfeldern gestalten? Zur umfassenden Beantwortung dieser Frage bedarf es weiterer Forschung und didaktischer Entwicklung. Einige vorläufige Überlegungen dazu werden im Folgenden anhand von drei musikbezogenen Improvisationspraxen dargelegt.
Jazz
Im Jazz ist das Ungleichgewicht in der Verteilung der Geschlechter offensichtlich. Insbesondere im professionellen Bereich ist der Frauenanteil gering: Die Jazzstudie 2022 weist einen Anteil von 27 % aus, 86% der befragten Musikerinnen geben an, Diskriminierungserfahrungen gemacht zu haben (Johnen/Fraisse/Marquart/Nübling 2022:7). Martin Niederauer (2016:140) sieht darüber hinaus eine „male hegemony in Jazz [...] not only caused by the fact that the jazz scene is made up mostly of male musicians, critics or recipients [...] masculinity is mostly established as an important category through the main practices and through the social relationships among participants [...]“. Wesentliche Aspekte dabei seien Wettbewerb und Durchsetzungsvermögen, aber auch Vertrautheit und Intimität in einer von homosoziale Beziehungen und Heteronormativität geprägten Szene. Frühere Studien aus den USA verweisen zudem auf eine höhere Quote an Dropouts bei den weiblichen Jazzmusikerinnen (McKeage 2004) sowie auf ein geringeres Selbstvertrauen und mehr Ängstlichkeit beim Improvisieren (Wehr-Flowers 2006).
In der Jazzpädagogik lassen sich Auswirkungen dieser Konnotationen und Hierarchien erkennen. Wenngleich es Hinweise gibt, dass in Schulen der Anteil an Jazz spielenden Mädchen deutlich höher ist als im professionellen Bereich (Siedenburg 2018), lässt sich auch in vielen Ensembles mit Jugendlichen ein zahlenmäßiges Ungleichgewicht beobachten. Im Verlauf der Professionalisierung setzt sich dies fort: In Studiengängen für Jazz und Populäre Musik sind Frauen deutlich unterrepräsentiert (Statistisches Bundesamt 2022).
Eine gendersensible Improvisationspädagogik im Bereich Jazz kann an unterschiedlichen Punkten ansetzen. Trotz der offensichtlichen Genderdifferenzen bieten sich für den Einstieg zunächst nicht-dramatisierende Vorgehensweisen an. So kann versucht werden, durch Förderung einer Instrumentenwahl jenseits von stereotypen Zuschreibungen den Anteil an Mädchen zu erhöhen. Eine Person, die Schlagzeug, Bass oder Trompete spielt, wird mit höherer Wahrscheinlichkeit in die Jazzimprovisation einsteigen als eine, die sich für Violine oder Querflöte entschieden hat. Der Einfluss von Stereotypen kann durch Instrumentenwahlprogramme reduziert werden, beispielsweise indem umfangreiche Möglichkeiten des eigenen Ausprobierens von Instrumenten geschaffen oder Kontakte zu potenziellen alternativen musikalischen Vorbildern hergestellt werden. Die Ermöglichung früher Improvisationserfahrungen im Jazz kann ebenfalls dazu beitragen, Polarisierungen zu vermeiden: Es gibt Hinweise darauf, dass bei Elf- bis Zwölfjährigen noch kaum Unterschiede im Improvisationsverhalten vorhanden sind und es erst später zu Diskrepanzen kommt (vgl. Siedenburg 2018).
Eine weitere nicht-dramatisierende Strategie bieten pädagogisch begleitete Jazz-Sessions, bei denen Jugendliche in einer weniger von Konkurrenz geprägten Atmosphäre agieren können, als dies bei klassischen Sessions im Jazzclub der Fall ist. Mögliche Umsetzungsformen sind alternative Regelungen des Mitwirkens, inhaltliche Vorbereitung der Session durch die Instrumentallehrkräfte oder ein Fokus auf kollektiven Improvisationsformen anstelle der oftmals sehr auf Virtuosität ausgerichteten individuellen Soli. Solche Regelungen sind geeignet, um den Einfluss einer sich am hegemonialen Männlichkeitsbild orientierenden Maskulinität zu reduzieren, den Niederauer (2016) in der Jazzszene ausmacht – ein Effekt, von dem Beteiligte jeden Geschlechts profitieren können.
Im Professionalisierungsbereich sind dagegen auch Maßnahmen sinnvoll, die zunächst dramatisierend wirken, in einem nächsten Schritt aber entdramatisiert werden können. Da hier die Diskrepanz besonders groß ist, bedarf es einer gezielten Förderung von Frauen. Zudem müssen Fragen durch weitere Forschung geklärt werden: Aus welchen Gründen beenden Mädchen ihre Aktivitäten im Jazz? Lässt sich die Beobachtung empirisch belegen, dass Mädchen in Bigbands an Schulen und Musikschulen sehr viel seltener Soli übernehmen als Jungen? Welche Faktoren führen dazu, dass im Wettbewerb Jugend Jazzt, in Landes- oder Bundesjugendjazzorchestern und in Jazzstudiengängen das Geschlechterverhältnis bei weitem nicht ausgewogen ist?
Einige polarisierende Maßnahmen wurden und werden bereits realisiert, etwa die Förderung von jungen Jazzmusikerinnen in speziellen Workshops oder die Verbesserung der Arbeitsbedingungen von Jazzmusikerinnen durch Stipendienprogramme oder die Förderung von Auftrittsmöglichkeiten. Auch die allmähliche Einführung von Quoten bei Jazzfestivals trägt zu etwas mehr Ausgewogenheit bei. Gerade im professionellen Bereich bietet dies die Chance für eine Veränderung der Wahrnehmung, da mehr improvisierende Jazzmusikerinnen öffentlich präsent sind.
Eine weitere mögliche Maßnahme wäre es, Projekte zwischen Musiker*innen unterschiedlicher musikalischer Genres zu fördern. In der klassischen Musik, aber auch in einigen folkloristischen Bereichen oder in der Singer-Songwriter-Szene sind die Geschlechterverhältnisse ausgewogener. Jazz war und ist eine Musik, die auch davon lebt, dass sich immer wieder Menschen mit unterschiedlichen musikalischen Hintergründen einbringen und sich improvisatorisch aufeinander einlassen. Auf diese Weise ist es möglich, dass versierte Musikerinnen die Jazzimprovisation für sich entdecken und dabei auf ihre in anderen Genres entwickelten instrumentalen Kompetenzen zurückgreifen können.
Freie Gruppenimprovisation
In der freien Gruppenimprovisation ist die Situation eine andere als im Jazz. Diese Praxis hat sich insbesondere seit den 1960er Jahren als künstlerische Ausdrucksform entwickelt, die sich ästhetisch im Bereich der Neuen Musik bewegt und damit zu großen Teilen harmonisch und rhythmisch ungebunden gestaltet ist. Klangexploration und Interaktion nehmen einen großen Raum ein. Prägend für die Entwicklungen in diesem Bereich waren einerseits Musiker*innen mit umfangreichen Vorerfahrungen in der klassischen Musik, andererseits Musikpädagog*innen wie Gertrud Meyer-Denkmann oder Lilli Friedemann, deren Konzepte bis in die Gegenwart weiterverfolgt werden (u.a. Schwabe 2018).
Die auf Beobachtungen in Lehrveranstaltungen und Workshops beruhende Feststellung Terhags (2004), dass klassisch sozialisierte Musiker*innen sehr häufig freie Klangerkundungen bevorzugen, um den Weg zur Improvisation zu finden (s.o.), verweist auf Möglichkeiten gendersensiblen Arbeitens in diesem Feld. Aufgrund geschlechtstypischer Sozialisationsverläufe bringen Mädchen und Frauen überdurchschnittlich oft die genannte musikalische Prägung mit (vgl. Siedenburg 2006), sodass sich diese improvisatorische Praxis für den Einstieg in das musikalische Improvisieren als nicht-dramatisierende Maßnahme einsetzen lässt. Sie kann dazu beitragen, dass die Spielenden sich von traditionellen Genievorstellungen, deren Genderkonnotationen und den dadurch bedingten Spielblockaden lösen. Auch im Hinblick auf weitere Diversitätsfaktoren hat die freie Gruppenimprovisation ein hohes Potenzial für die Kulturelle Bildung, da keine instrumentaltechnischen Fertigkeiten vorausgesetzt werden.
Besonders im Hinblick auf die Arbeit mit Jugendlichen ergeben sich jedoch auch Schwierigkeiten, die ebenfalls mit Gender und weiteren Differenzfaktoren verschränkt sind. Zum einen ist die experimentelle Ästhetik sehr weit von den Präferenzen der meisten Schüler*innen entfernt. Dies erschwert es ihnen, sich diese Musik zu eigen zu machen und dadurch Anerkennung von Gleichaltrigen zu erhalten. Hinzu kommt, dass diese Formen des Improvisierens ihnen in der Regel allenfalls aus der musikalischen Früherziehung bekannt sind. In der Adoleszenz erscheinen sie ihnen daher nicht nur fremd und unzugänglich, sondern unter Umständen auch als nicht altersgemäß – sicher eine nicht angemessene Einschätzung, die aber dennoch die Einstellung zum Improvisieren beeinflussen kann. Pädagogische Felder sind eher feminin konnotiert, und Mädchen lassen sich oftmals eher auf Vorgaben von Lehrkräften ein als Jungen. Wenn die freie Gruppenimprovisation also gerade für Mädchen einen geeigneten Einstieg in das Improvisieren bieten kann, ist es möglich, dass diese Praxis als feminin konnotiert wahrgenommen wird und ihr weniger Anerkennung entgegengebracht wird als anderen Improvisationspraxen. Es ist daher sinnvoll, einer Verfestigung femininer Konnotationen entgegenzuwirken und die freie Gruppenimprovisation zu nutzen, um unterschiedlichste musikalische Ausdrucksformen unabhängig von ihren Genderkonnotationen zu erkunden. Wenn alle Geschlechter dabei ausprobieren, sich mal laut und aggressiv, mal zart und leise in das Ensemble einzubringen, kann auch dies einen Beitrag zum Undoing Gender leisten. Eine weitere Möglichkeit gendersensiblen Arbeitens besteht darin, harmonisch oder rhythmisch ungebundene Formen mit anderen Genres zu kombinieren, sodass die Beteiligten ein weites Spektrum an ästhetischen Ausdrucksformen für sich entdecken können.
Tanz- und Bewegungsimprovisation
Tanz ist eine künstlerische Praxis, die in der westlichen Tradition weitgehend feminin konnotiert ist. Auch in pädagogischen Kontexten lässt sich oftmals beobachten, dass Jungen nicht bereit oder in der Lage sind, sich auf diese performativkörperorientierten Zugänge einzulassen, während ein großer Teil der Mädchen mit Freude bei der Sache ist (vgl. Heß 2018:135 sowie Müller 1991:42f.). Auch in der Tanzimprovisation ist der Anteil der weiblichen Aktiven in der Regel deutlich überproportional. Somit bedürfen auch bewegungsbasierte ästhetische Ausdrucksformen gendersensibler didaktischer Strategien.
Frauke Heß (2018:135) widmet sich in einer qualitativen Videostudie der Entwicklung und Erprobung eines Konzepts für den schulischen Musikunterricht, „das die Distanz pubertierender Jungen gegenüber expressivkörperlichen Aktivitäten im Musikunterricht zu verringern vermag“ (ebd.). Dies wird umgesetzt, indem Klassen der Jahrgänge 8 und 9 in unterschiedlichen Gruppenkonstellationen eigenständig eine Aufgabe bearbeiten, in der es darum geht, die formale Struktur eines Werks der klassischen Moderne in Bewegungen zu transformieren (vgl. ebd.:158). Auch wenn hier Bewegungen weitgehend festgelegt werden und es sich damit eher um eine kompositorische als eine improvisatorische Aufgabe handelt, ist davon auszugehen, dass auch phasenweise aus dem Stegreif Ideen entwickelt werden und aufgrund der Verwandtschaft beider kreativer Praktiken eine gewisse Übertragbarkeit der Ergebnisse vorhanden ist.
In der Studie arbeiten Mädchengruppen, Jungengruppen und gemischte Gruppen parallel. Es erfolgt also teilweise durch geschlechtergetrenntes Arbeiten eine Dramatisierung von Geschlecht. Dabei zeigten sich unterschiedliche Arbeitsweisen: Während die reinen Mädchengruppen abstrakte Bewegungen für ihre Umsetzung wählten, bevorzugten die Jungengruppen Handlungsszenen mit Verfolgungsjagden (vgl. ebd.:167). In den gemischten Gruppen fanden sich sowohl abstrakte als auch narrative Konzepte. Diese Teams hatten jedoch gleichzeitig die größten Schwierigkeiten beim Umsetzen der Aufgabe. Es zeigte sich also, dass das polarisierende, geschlechtergetrennte Arbeiten den Einstieg in eine ungewohnte künstlerische Ausdrucksform einerseits erleichterte, andererseits aber auch zum Doing Gender im Sinne tradierter Geschlechterbilder beitrug. Hieraus ergeben sich zahlreiche Fragen: Wie kann Dramatisierung positiv genutzt werden, und auf welche Weise können Entpolarisierungen vorgenommen werden? Wie gestalten sich die Geschlechterverhältnisse in anderen Altersgruppen oder anderen pädagogischen Kontexten – etwa im Bereich der Kulturellen Bildung? Inwieweit lassen sich ähnliche Phänomene bei rein improvisatorischen Aufgaben beobachten? Hier ist weitere Forschung erforderlich, um eine bessere Grundlage für die Entwicklung didaktischer Zugänge zu erhalten.
Ein möglicher Weg zu mehr Gendersensibilität ist die Verknüpfung des feminin konnotierten Bereichs Tanz mit maskulin konnotierten Zugängen oder Handlungsfeldern. Heß wählt diesen Ansatz, indem sie rationale, analytische Zugänge, die eher mit konventionellen Männlichkeitsbildern in Verbindung stehen, mit musikbezogener Bewegung kombiniert. Eine weitere Möglichkeit wäre die Integration einer Phase der Entdramatisierung im Anschluss an das dramatisierende geschlechtergetrennte Arbeiten. So könnte eine Kooperation von Jungen und Mädchen initiiert werden, in der sie die Bewegungen der bzw. des anderen imitieren, um ihr individuelles Ausdrucksrepertoire zu erweitern und sich von konventionellen geschlechtstypischen Umsetzungen zu lösen.
Bei der Bewegungsimprovisation auf der Grundlage narrativer Konzepte ergibt sich für die gendersensible Didaktik eine besondere Situation, da dabei Rollen umgesetzt werden und so neben der Selbstpositionierung eine weitere Dimension des Doing Gender ins Spiel kommt. So ist es möglich, dass auch Rollen eingenommen werden, die der eigenen Genderposition nicht entsprechen. Wird zunächst in der Rolle von Tom oder Jerry tänzerisch improvisiert, danach aber in der Rolle von Cinderella oder Lara Croft, können die Spielenden nicht nur im Hinblick auf Doing Gender vielfältige Erfahrungen machen, sondern auch unterschiedlichste körperliche Ausdrucksmöglichkeiten und Ästhetiken für sich entdecken.
Ein hohes Potenzial für die Entwicklung von nichtstereotypen Geschlechterbildern bietet darüber hinaus das in der Hiphop-Kultur verankerte Breaking (vgl. Rappe/Stöger 2017). Diese improvisationsbasierte Bewegungspraxis hat keine feminine Konnotation inne und besitzt für viele Jugendliche eine hohe Attraktivität.
Fazit
Improvisation bietet sowohl als kreative Ausdrucksform als auch für die Konstruktion von Geschlecht ein breites Spektrum an Möglichkeiten. Diese können in Bildungskontexten genutzt werden, um Freiräume für die Erkundung vielfältiger Formen des ästhetischen Ausdrucks und der Positionierung im Hinblick auf Gender aufzuzeigen. Dafür müssen unterschiedliche didaktische Zugänge entwickelt werden, denn die Bedingungen gestalten sich in den einzelnen Praxisfeldern jeweils anders. Als Grundlage dieser didaktischen Entwicklungsarbeit ist weitere Forschung erforderlich, um die jeweiligen Spezifika noch genauer ausloten zu können. Doch auch auf dem jetzigen Erkenntnisstand ist es bereits möglich, gendersensibles Denken in didaktische Konzeptionen einfließen zu lassen. Die in diesem Beitrag vorgestellten Strategien können dafür eine erste Orientierung bieten.
Darüber hinaus sollte der Gedanke weiterverfolgt werden, Improvisation nicht nur mit Blick auf ästhetische Bildungsziele zu betrachten, sondern sie auch aus genderpädagogischem Interesse einzusetzen. Kinder und Jugendliche können so in der Entwicklung ihrer geschlechtsbezogenen Identität gefördert und dazu ermutigt werden, sich nicht von geschlechtsbezogenen Zuschreibungen einengen zu lassen. Denn auch für diese Orientierungsprozesse bietet Improvisation Freiräume, oder, in Judith Butlers Worten, „a relative domain of freedom in a rule-bound world.“