Das Hörspiel als Medium für die ästhetische Inklusionsarbeit
Am Beispiel eines Hörspielprojekts des Barner16-Netzwerks
Abstract
Der Aufsatz setzt sich zum Ziel, aus der Betrachtung der Materialität des Hörspiels die Adäquanz der literarischen Kunstgattung für die ästhetische Inklusionsarbeit zu entwickeln. Als Literatur, die man hören, die man aber nicht sehen kann, sind im Hörspiel Beschränkung und Potential dialektisch aufeinander bezogen: Seine ästhetische Kraft gewinnt das Hörspiel gerade dadurch, dass es rein auditiv den inneren und damit unbegrenzten Vorstellungsraum der Hörenden bespielt. Ein Hörspiel erlangt erst „in der nachschaffenden Phantasie“ (Schwitzke 1978:35) die Vollendung seiner ästhetischen Wirklichkeit. Somit hat die Hörspielrezeption eine produktive Seite: Die aufs Akustische beschränkten Signale verlangen ihre ästhetische Entgrenzung durch die Vorstellungskraft. Insofern ist das Hörspiel eine vollwertige, anspruchsvolle Kunstform, die insbesondere Menschen, denen der Sehsinn fehlt, ohne Verlust zugänglich ist.
Diese Entwicklung des inklusiven Potentials aus der Materialität der Gattung wird verdeutlicht am Beispiel einer Hörspielproduktion des Barner16-Netzwerks: Durch Dialoge und Erzählerkommentare sowie durch Geräusche und Musik wird auf den Aspekt der Visualität angespielt, der sich im Inneren als klanglich evozierte Bildlichkeit verwirklichen soll. Auch inhaltlich rekurriert das Barner-Hörspiel auf die inklusive Idee: Der Clou des Plots besteht darin, dass die diversen Charaktere nur im Zusammenspiel ihrer Einschränkungen und Fähigkeiten ihr Vorhaben realisieren können. Diversität wird nicht als bloß abstrakter Wert beschworen, sondern als Bedingung eines sozialen Zusammenhangs, in dem die Individuen aufgehoben sind. Aus den Differenzen der einzelnen Figuren ergeben sich ihre Beiträge zum Erreichen eines kollektiven Ziels.
Über Beschränkungen und Potentiale des Hörspiels
Bald feiert das Hörspiel seinen 100. Geburtstag: Als erstes europäisches Exemplar seiner Art gilt A Comedy of Danger von Richard Hughes, das am 15. Januar 1924 vom BBC gesendet wurde. Dieses Hörspiel ist nicht nur historisch, sondern insbesondere auch inhaltlich signifikant, insofern es mit der Wahl des Stoffes die eigene mediale Beschränkung zum Vorteil wendet: die Beschränkung nämlich, Literatur zu sein, die man hören, die man aber nicht – wie etwa im zeitgleich entstehenden Tonfilm oder im Theater – sehen kann. A Comedy of Danger spielt in einem walisischen Bergwerkschacht, in dem das Licht ausgefallen ist, und versetzt so die Hörenden in die Lage des Nicht-Sehens und des bloßen Hörens, in der sich ebenso die sprechend-handelnden Figuren befinden (Hörburger 1996:1579). Die Hinwendung zur rein akustischen Literaturgattung erhält derart seine textlogische Notwendigkeit, die zugleich die relative mediale Beschränktheit des Klangmaterials aufhebt.
Die Entstehung des Hörspiels hängt unmittelbar mit dem Aufstieg des Radios zum Massenmedium zusammen, insofern erst mit der technologischen Innovation des Rundfunks und seiner flächendeckenden Verbreitung die Entstehungsbedingungen für die neue Kunstgattung gegeben waren (Frank 1963:13). Ein zunächst vielleicht provokant anmutendes Urteil über das Hörspiel ist daher das seiner künstlerischen Nicht-Notwendigkeit. Schließlich war die Entstehung dieser dezidiert literarischen Gattung von den nichtliterarischen Bedingungen des Mediums abhängig: Auf den Möglichkeiten, die die Erfindung und Verbreitung des Radios mit sich brachten, erwuchs das „künstliche[] Bedürfnis“, eine diesem Medium adäquate Literatur zu schaffen (Döhl 1996:70). Wolfang Weyrauch (1978:20f.) unterstreicht jedoch die im Folgenden einsetzende ästhetische Emanzipation der Gattung: „Zweifellos war anfänglich das Hörspiel ein Mittel zum Zweck, zu zeigen, was es mit dem neuesten Fortschritt der Technik auf sich habe. Aber schon ein paar Jahre später wurde die Apparatur zum Mittel, und das Hörspiel wurde zum Zweck, zum Ziel.“ In der Mediengeschichte der Künste vermag das Hörspiel mithin keine eigens für sich reservierten Materialien zu beanspruchen: Das Wortmaterial des Manuskripts ist der Literatur – und hier insbesondere dem Theater(text) – zuzuschlagen, während sich der Schall dem Material der Musik bedient, die oftmals in ein Hörspiel eingebunden ist. Das Hörspiel ist somit ein dramatisches Werk, das sich zwar aus der Tradition des Theaters herleitet, aber auf das Radio – oder allgemeiner: auf das Abspielen von Klang – bezogen ist (Hörburger 1996:1575). Mit einem weiten Textbegriff gesprochen handelt es sich um einen akustischen literarischen Text.
Insbesondere das Verhältnis zum Theater wurde immer wieder kontrovers diskutiert: Galt das Hörspiel anfangs „als eine wegen der Beschränkungen des ,blinden Mediumsʻ notwendig unvollkommene Derivatform des Bühnenspiels“, so befindet die Forschung in den frühen Sechzigerjahren hingegen, das Hörspiel sei „vom Bühnenspiel losgelöst und zu einer eigenständigen Kunstform umgestaltet“ (Frank 1963:7). Sowohl in Bezug auf seine technischen Voraussetzungen als auch in Bezug auf die verwandten Kunstformen lässt sich also ein Prozess der ästhetischen Selbstlegitimierung feststellen.
Das Radio, das für lange Zeit der einzige Vertriebsweg des Hörspiels bleiben würde, brachte des Weiteren eine neue Rezeptionssituation mit sich. So schrieb Walter Benjamin (1991:671) im Jahr 1932 von der neugewonnen „Möglichkeit, […] an unbegrenzte Massen sich zu gleicher Zeit zu wenden,“ und sah darin ein aufklärerisches Potential angelegt, welches er in seinen „Hörmodellen“ zu realisieren suchte: Im Rundfunk sah er die Chance, große Bevölkerungsteile verständlich und unterhaltend mit Bildung zu versorgen. In einem nur scheinbaren Gegensatz zu der von Benjamin attestierten Breitenwirkung des neuen Mediums steht die Beobachtung Erwin Wickerts (1978:26), dass der ästhetischen Erfahrung eines Hörspiels – entgegen einer potentiell gleichzeitigen Rezeption durch eine große Zahl von Menschen – nur das vereinzelte Hören adäquat ist: „Das Hörspiel spricht nur den einzelnen an. Gemeinschaftsempfang eines Hörspiels […] verfälscht den Eindruck. Die Technik, […] durch die das Hörspiel ja nur möglich wird, hat hier also eine Form entstehen lassen, durch die zwar viele Menschen gleichzeitig angesprochen werden können, aber nie als Masse, sondern nur als einzelne, nur in ihrem Innern.“
Diese Ansprache an den Einzelnen ist wiederum in der Materialität der Kunstgattung begründet. Was Hegel (2018:135) in seiner Ästhetik über die Musik schreibt, gilt zunächst auch für das Hörspiel, nämlich „daß für sich, als reale Objektivität genommen, der Ton dem Material der bildenden Künste gegenüber ganz abstrakt ist.“ Der immaterielle Klang findet daher als die ihm entsprechende rezeptive Instanz „das ganz objektlose Innere, die abstrakte Subjektivität als solche. Diese ist unser ganz leeres Ich, das Selbst ohne weiteren Inhalt“ (Hegel 2018:135). Die Tonkunst hat keine gegenständliche Existenz, stattdessen existiert sie prinzipiell nur in uns, wo sie ihre „sinnlich-affektive[] Wirkung“ (Hörburger 1996:1573) zu entfalten vermag.
Das erklärt auch, warum Christian Hörburger im Historischen Wörterbuch der Rhetorik auf den emotiven Aspekt des Hörspiels abhebt. Dort definiert er das Hörspiel als „ein akustisches Ereignis, das […] eine akustische Emotion, eine lineare oder nicht-lineare Geschichte im Zeichensystem des Klangs und der Pausen vermittelt“ (Hörburger 1996:1575). Von der Musik unterschieden ist das Hörspiel also auf die Weise, dass es das Vorstellungsvermögen auf eine spezifische Weise anspricht, nämlich indem es das Selbst mit einem je bestimmten Inhalt des klangvermittelten Narrativs konfrontiert: „Es erregt die Phantasie nur durch das Ohr, das, wie schon Carl Gustav Carus bemerkte, ,der innerlichste Sinn ist, welcher von den verborgensten Erzitterungen der raumerfüllenden Erscheinung bewegt wirdʻ“, so Erwin Wickert (1978:26), der deswegen als optimalen Rezeptionsmodus den sinnlichen Alleinfokus aufs Ohr vorschlägt: „Das Hörspiel schließt den Augenmenschen aus; es wirkt daher auch im abgedunkelten Raum stärker als im hellen.“
Beschränkung und Potential des Hörspiels sind demnach dialektisch aufeinander bezogen: Seine ästhetische Kraft gewinnt das Hörspiel gerade dadurch, dass es rein auditiv den inneren und damit unbegrenzten Vorstellungsraum der Hörenden bespielt. Benno Meyer-Wehlack (1981:40) spricht in seiner Rede anlässlich der Verleihung des Hörspielpreises der Kriegsblinden deswegen von einer nur scheinbaren Beschränkung:
„Was für Möglichkeiten? Was ist denn das Material? Was sagt es, was verlangt es? Was daran lockt? […] Man kann durch Mikrophon und Lautsprecher und durch die wunderbar dazwischen vermittelnde Technik Menschen zeigen, rund, von A bis Z, durch und durch. Man kann alle Menschen zeigen –, aber nur durch die Stimme… Was für eine Notlösung! Was für eine Beschränkung, eine Einengung… Nein! Was für ein Zwang zur Konzentration, was für Spielfelder für die Phantasie, was für ein Spaß, aus der scheinbaren Not heraus erfinderisch werden zu müssen!“
Das Hörspiel als blinde Literatur?
Im Nachdenken über das Hörspiel wurde dieses „ganz objektlose Innere“ (Hegel 2018:135) immer wieder als „innere Bühne“ (Wickert 1978:26) oder auch als „blinde Bühne“ (Hörburger 1996:1579) bezeichnet: als Bühnen also, deren Inszenierung erst noch von der Vorstellungskraft des rezipierenden Subjekts zu leisten ist. In dieser Charakterisierung ist der Bezug aufs Drama augenfällig: Während sich der Dramentext auf eine Theaterbühne bezieht, so bezieht sich – der These nach – der Hörspieltext auf eine Bühne im Kopf, die ungleich größer ist als die Theaterbühne: „Die Bühne, auf der das Hörspiel handelt, ist so weit wie die Phantasie des Hörers. Die Beschränkung auf das Akustische ist eher ein Vorteil als ein Nachteil“ (Wickert 1978:27). Wird der Begriff der Bühne jedoch derart ausgeweitet, dass diese als prinzipiell unbegrenzt gedacht wird, taugt er nur noch zu einer vagen Metapher. Tatsächlich ist das Hörspiel ja, anders als das Theater, nicht – und nicht einmal in der Vorstellungswelt – auf eine Bühne bezogen: Wer ein Hörspiel hört, stellt sich das Geschehen nicht auf einer Bühne, sondern als einen fiktiven Wirklichkeitsraum vor, der durch die Vorstellungskraft evoziert wird. Ein Hörspiel erlangt also erst „in der nachschaffenden Phantasie“ (Schwitzke 1978:35), „in der mitvollziehenden Imagination des Hörers die Vollendung seiner ästhetischen Wirklichkeit“ (Frank 1963:89): „Durch das mit dem Wort beschworene Bild wird der Hörer ständig gezwungen, das ,Sichtbareʻ dem Gehörten selbst hinzuzufügen, es zu ergänzen. Er wird so in den schöpferischen Prozeß mit einbezogen, weil er in sich das Bild noch einmal hervorbringen muß“ (Kühner 1978:31).
Das Nachdenken über das Hörspiel bezieht also das Momentum des Visuellen ganz stark mit ein, das – sozusagen in Form einer abwesenden Anwesenheit – als Bestandteil des Werks gedacht wird. Bei Wolfgang Weyrauch (1981:52) etwa ist es das, was im Hörspiel nicht gesehen werden kann, das sich über die hörbare Wirklichkeit des Werks an das hörende Subjekt richtet: „Hörspiele sind Dialoge mit dem Unsichtbaren.“ Und Heinz Schwitzke (1978:38) zitiert ein „Aristoteles-Wort: ,Sprich, damit ich dich sehe!ʻ“ und schlägt mit Blick aufs Hörspiel die Erweiterung vor: „Sprich, damit ich euch sehe, dich und die Welt, in der du lebst!ʻ“ Hörspiele sind demnach stets in dem Maße visuell, in dem der Klang die Vorstellungskraft Bilder produzieren lässt.
Die innere Inszenierung des Geschehens, die dem rezipierenden Subjekt quasi unbemerkt abverlangt wird, ist gleichzeitig ästhetischer Genuss und die Schulung der „Fähigkeit zur Imagination, zur Entzündung der nachvollziehenden Phantasie an gegebenen Signalen“ (Frank 1963:86). Die vom Hörspiel gegebenen, aufs Akustische beschränkten Signale verlangen ihre ästhetische Entgrenzung durch die Vorstellungskraft des rezipierenden Subjekts. Oder wie Dieter Wellershoff (1981:49) formuliert: „Wenn ein Hörspiel gelingt, dann hat es seine Kraft aus einem Mangel gewonnen, dann hat sich im Unsichtbaren eine neue Welt konzentriert.“ Diese entgrenzende imaginative Leistung in Bezug auf die begrenzten sinnlichen Informationen, die im Inneren etwas Unsichtbares sichtbar zu machen vermag, ist es, die das Hörspiel als eine inklusive Kunstform prädestiniert: Es ist eine „vollwertige“, anspruchsvolle Kunstform, die insbesondere Menschen, denen der Sehsinn fehlt, ohne Verlust zugänglich ist.
Dieses erste, aus der Betrachtung der Materialität der Gattung gewonnene Resultat spiegelt sich im höchsten Preis, der im deutschsprachigen Raum für ein Hörspiel verliehen wird: Der Hörspielpreis der Kriegsblinden wurde bereits im Jahr 1950 initiiert und ist nicht nur in seinem Bereich der bedeutendste Preis Deutschlands, sondern auch darüber hinaus einer der renommiertesten deutschen Literaturpreise, der als solcher maßgeblich dazu beigetragen hat, die kulturelle Wertschätzung des Hörspiels in der allgemeinen Wahrnehmung zu heben (Meyer-Wehlack 1981:43). Die Jury des Preises besteht seit dessen Bestehen sowohl aus Literaturkritiker*innen als auch aus Delegierten des Kriegsblindenbunds. Gerade die letztere Gruppe der Jurymitglieder wurde von den Hörspielautor*innen in den frühen Preisreden – also noch lange bevor das Wort Inklusion überhaupt in den Diskurs getreten ist – häufig als die weitaus wichtigere ästhetische Beurteilungsinstanz adressiert. So freut sich etwa der Preisträger Erwin Wickert (1981:14) im Jahr 1950 ganz besonders über den Zuspruch seitens der blinden Jurymitglieder. Diese seien die „Menschen […], die am ernsthaftesten hören, die Nur-Hörer sind und für die das Wort ein größeres Gewicht hat als für uns Augenmenschen, Menschen, zu denen wir Zugang nur durch das Ohr finden, und die ein viel sichereres Gefühl für das falsche und richtige Wort, für den falschen und den richtigen Ton haben.“
Während Wickert hier auf der einen Seite – mit Rekurs auf eine normative Richtig-Falsch-Dichotomie – auf das besondere ästhetische Geräusch- und Klanggespür blinder Menschen abhebt, so wurde auf der anderen Seite – und diese Dichotomie implizit aufweichend – auf die prinzipielle ästhetische Offenheit des Hörspiels verwiesen. So meinte etwa Helmut Heißenbüttel (1972a:222f.): „Das Hörspiel ist eine offene Form. Die Hörsensation, die allein den Hörer vom Fernsehapparat weglocken kann […], wird realisiert von Autoren, Dramaturgen und Regisseuren. Sie sollten sich stets bewußt sein, daß sie machen können, was sie wollen, daß es für das, was sie ausprobieren wollen, keine Grenzen gibt […].“ Und er fügte hinzu: „Alles ist möglich. Alles ist erlaubt“ (1972a:223). In Anspielung an Gotthold Ephraim Lessings dramentheoretische Textsammlung und ihre normative Strahlkraft sagte Günter Eich (1981:22) in seiner Dankesrede beim Hörspielpreis: „Ich bin froh, daß es für das Hörspiel noch keine Hamburgische Dramaturgie gibt, und ich fühle mich in diesem anarchischen Zustand, der Experimente weder fordert noch verbietet, recht wohl.“ Und Franz Hiesel (1981:47) formulierte dies zum gleichen Anlass so: „Das Hörspiel wird immer Autoren finden, weil es dem echten Experiment offen ist, vielleicht auch, weil sein literarischer Bereich die lyrische, epische und dramatische Form einschließt.“
Zusammengenommen heißt das, dass das Hörspiel zwar seine Qualitäten aus der je besonderen Gestaltung seines Klangnarrativs gewinnt, dass es also die Anordnung der akustisch-sinnlichen Reize ist, die das Hörspiel zu einer „Hörsensation“ macht, aber dass das Hörspiel darin, also hinsichtlich seiner Gestaltungsmöglichkeiten, über eine Offenheit verfügt, die es für ein freies Experimentieren geeignet macht. Daraus ergibt sich zugleich, dass das Medium Hörspiel weder in rezeptiver noch in produktiver Hinsicht erst für die ästhetische Inklusionsarbeit zurechtgestutzt werden müsse und dass es daher nicht zu einem bloßen Mittel der ästhetischen Sozialarbeit herabzusetzen ist. Umgekehrt hat die ästhetische Sozialarbeit, will sie die Wahl der künstlerischen Disziplin nicht als Willkür zu erkennen geben, ihren Zweck schlussendlich im Produkt ihrer künstlerischen Anstrengungen: im Hörspielresultat, an das demnach auch entsprechende qualitative Ansprüche zu stellen sind. Insofern gilt für das Hörspiel – wie für alle künstlerischen Disziplinen –, was Adorno (1973:108) programmatisch über die Musikpädagogik formuliert hat, nämlich, dass der Zweck ästhetischer Pädagogik darin besteht, ihre Adressat*innen dazu zu befähigen, „das Geistige wahrzunehmen, das den Gehalt eines jeden Kunstwerks ausmacht.“ Die Pädagogik ist demnach nicht schon der Zweck, für den das Kunstwerk bloß Mittel zu sein hat, sondern umgekehrt, die Pädagogik ist das Mittel, den Zweck zu erzielen, ein Kunstwerk zu erschaffen oder aber – in Rezeptionsprozessen – es dem jeweiligen Kunstgegenstand adäquat zu durchdringen, also zu einer „Erfahrung der Werke“ zu verhelfen. Weiter schreibt Adorno:
„In der Kunst läßt sich kein ,artifizielles‘ von einem wie immer gearteten anderen Moment unterscheiden: was in ihr für natürlich gilt, ist meist nur vergangen Geschichtliches, und human wird sie nicht, indem sie Menschen in Gemeinschaften eingliedert, ihren sogenannten Spieltrieb befriedigt, sie zur Mitwirkung an irgendwelchen gestellten Aufgaben veranlaßt, sondern allenfalls, indem sie an authentischen künstlerischen Gebilden der Möglichkeit dessen innewerden, was mehr ist als die bloße Existenz, die sie führen, mehr als die Ordnung der Welt, auf die sie eingeschworen sind.“ (ebd.)
Die technologischen Aspekte von Produktion und Distribution unter inklusiven Gesichtspunkten
Der Umsetzung eigener ästhetischer Ansprüche wurden freilich mit den gewandelten digitalen Produktionsbedingungen gewisse Hürden genommen. Mit einem Computer, der entsprechenden Aufnahmesoftware und einem Mikrofon lassen sich bereits konzeptuell anspruchsvolle Hörspiele produzieren. Und was für die Produktion gilt, gilt ebenso für die Rezeption: War das Hörspiel lange Zeit „eine recht flüchtige Kunst […], deren Grundlage, das Manuskript, nach einer oder zwei Sendungen im Staub der Rundfunkarchive verschwand“ (Frank 1963:8), so hat es von Schallplatte und Kassette bis hin zur heutigen Form des Musikstreaming seinen Weg auf Tonspeichermedien gefunden, mittels derer es möglich wurde, ein Hörspiel mehr als nur während seiner Ausstrahlung einmal zu hören. Insofern ist die Geschichte des Hörspiels bis ins heutige „digitale Zeitalter“ immer auch eine Geschichte seiner technischen Bedingungen und Möglichkeiten geblieben.
So erklärt sich vielleicht auch, dass sich die Hoffnungen, die ans Hörspiel gestellt wurden, mit jedem technologischen Innovationsschub sowohl teilweise erfüllten als auch mit leichten Verschiebungen erneuerten. Im Jahr 1932, also gerade mal neun Jahre nach der Installierung des Hörfunknetzes, stellen sowohl Bertolt Brecht als auch Walter Benjamin von technologischen Gesichtspunkten ausgehend Überlegungen über die Potentiale des neuen Massenmediums an. Brecht zufolge (1982a:129) gilt es erst noch, „das Positive am Rundfunk aufzustöbern“. Seine Kritik bezieht sich auf die unidirektionale und deswegen defizitäre Sendeweise, die eine Kommunikation nur vom Sendenden zum Empfangenden aber nicht umgekehrt ermöglicht. Deswegen unterbreitet er einen bis heute uneingelösten „Vorschlag zur Umfunktionierung des Rundfunks“:
„Der Rundfunk ist aus einem Distributionsapparat in einen Kommunikationsapparat zu verwandeln. Der Rundfunk wäre der denkbar großartigste Kommunikationsapparat des öffentlichen Lebens, ein ungeheures Kanalsystem, das heißt, er wäre es, wenn er es verstünde, nicht nur auszusenden, sondern auch zu empfangen, also den Zuhörer nicht nur hören, sondern auch sprechen zu machen und ihn nicht zu isolieren, sondern ihn in Beziehung zu setzen. Der Rundfunk müßte demnach aus dem Lieferantentum herausgehen und den Hörer als Lieferanten organisieren. Deshalb sind alle Bestrebungen des Rundfunks, öffentlichen Angelegenheiten auch wirklich den Charakter der Öffentlichkeit zu verleihen, absolut positiv.“ (Brecht 1982a:129)
Kurz, Brecht kritisiert die Exklusion der Hörenden, über deren Kopf hinweg die Produktion des Programms bestimmt wird: „Was die auszubildende Technik aller solcher Unternehmungen betrifft, so orientiert sie sich an der Hauptaufgabe, daß das Publikum nicht nur belehrt werden, sondern auch belehren muß“ (Brecht 1982a:131). Er sieht im Radio das unerfüllte Potential, den Menschen, die nicht ohnehin an der Gestaltung der gesellschaftlichen Wirklichkeit beteiligt sind, eine Stimme zu geben: Die Belehrung durch das Publikum, die von einer dialogischen Sendeform ausgehen würde, ist demnach als eine Aufklärung über die disparaten Lebenslagen der Bevölkerung zu deuten.
Auch Walter Benjamin versteht Radio und Hörspiel potentiell als Organ der Aufklärung und der sozialen Inklusion, insofern dort (insbesondere wissenschaftliche) Inhalte popularisiert werden könnten. Für diese Form der Popularisierung sei Rücksicht zu nehmen „auf das […], was man unter Volkstümlichkeit versteht“ (Benjamin 1991:671). Benjamin spielt hier auf den Begriff von Volkstümlichkeit an, der Gemeinverständlichkeit, Popularität und somit ein Entgegenkommen gegenüber den – wie es heute heißt: – bildungsfernen Schichten meint. Vor der Erfindung des Rundfunks habe es laut Benjamin kein Medium gegeben, das in der Lage gewesen wäre, dem Zweck der Bildung breiterer Bevölkerungsschichten wirklich dienlich zu sein. Im programmatisch formulierten Bildungsauftrag des Rundfunks ist sich Benjamin mit Brecht (1982b:124) einig, der Ende der Zwanzigerjahre, die Kunst miteinbeziehend, schreibt: „Kunst und Radio sind pädagogischen Absichten zur Verfügung zu stellen.“
Die so verstandene Volkstümlichkeit sei mithin die wesentliche Aufgabe des Rundfunks. Um dieser gerecht zu werden, genüge es allerdings nicht, die zu verbreitenden Inhalte auf althergebrachte Weise übers Radio zu senden. Es müsse auf die eigene Medialität des Rundfunks reflektiert werden: „Kraft der technischen Möglichkeit, die er eröffnete, an unbegrenzte Massen sich zu gleicher Zeit zu wenden, wuchs die Popularisierung über den Charakter einer wohlmeinenden menschenfreundlichen Absicht hinaus und wurde zu einer Aufgabe mit eigenen Form-Artgesetzen, die sich nicht minder deutlich von der älteren Übung abhebt als die moderne Werbetechnik von den Versuchen des vorigen Jahrhunderts“ (Benjamin 1991:671). Die technologische Innovation, so ist Benjamin hier zu verstehen, habe sich formal wie inhaltlich danach auszurichten, dass sie der adressierten Masse dienlich sein könne. Dafür habe der Rundfunk unbedingt an die bereits bestehenden Interessen der Menschen anzudocken: „Vielmehr kommt alles darauf an, [dem gespannt Aufhorchenden] die Gewißheit mitzuteilen, daß sein eigenes Interesse einen sachlichen Wert für den Stoff selber besitzt“ (Benjamin 1991:672). Auch formal schwebte Benjamin ausdrücklich „eine gänzliche Umgestaltung und Umgruppierung des Stoffes aus dem Gesichtspunkt der Popularität heraus“ vor (Benjamin 1991:672): Der Umstand, dass der Rundfunk unzählig viele Menschen erreiche, verlange ihm seine „Volkstümlichkeit“ ab, eine Art und Weise, Radio zu machen, die letztlich drei Ansprüche zugleich zu realisieren habe: 1) eine Stoffauswahl, die an die Interessenslage der Gesellschaft anknüpft statt belehrend über sie hinwegzugehen, 2) „Lebendigkeit“ der Form und Allgemeinverständlichkeit statt akademischem Sprachgebrauch und 3) wissenschaftliche Akkuratesse im Dienste der Aufklärung.
Es zeigt sich also, dass Brecht und Benjamin mit Rundfunk und Hörspiel schon im Jahr 1932 inklusive Ziele verbanden – nicht aber in der heutigen Hinsicht, dass einer partikularen, ausgegrenzten Menschengruppe zu gesellschaftlicher Partizipation verholfen werden sollte, sondern mit Blick auf die soziale Frage der gerade vergehenden Weimarer Republik: Es ging ihnen um eine diskursive Teilhabe der arbeitenden, wenig gebildeten Mehrheitsgesellschaft, die (mitunter über ihre soziale Rolle) aufgeklärt werden sollte und – dies nur bei Brecht – selbst aufklären sollte. Dass wenig später die Nationalsozialist*innen die durch die neuen Medien möglich gewordene Ansprache an die Gesamtbevölkerung in ihrem Sinne – und das heißt auch: ausschließlich in einer von oben nach unten laufenden Kommunikation – nutzten, würde Benjamin 1935 im Nachwort seines vielleicht bekanntesten Essays „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ reflektieren.
Das inklusive – und das meint hier zunächst: das integrierende, sozial verbindende – Potential von Rundfunk und Hörspiel hatten Benjamin und Brecht bereits sehr deutlich vor Augen. Dabei blieben ihre Überlegungen dem zeitgenössischen Stand der Technik entsprechend eng an die Rundfunktechnologie gebunden. Im Jahr 1961 fragt dann Wolfgang Weyrauch (1978:20), inwieweit das Radio überhaupt noch Relevanz für das Hörspiel habe: „Hat sich das Hörspiel nicht längst selbständig gemacht? So selbständig, daß es sogar existieren und sich entwickeln und vervollkommnen würde, wenn das Radio längst untergegangen wäre?“ Nun ist das Radio heute zwar nicht untergegangen, aber schon lange wurde ihm vom Internet der Rang des wichtigsten Massenmediums abgelaufen. Weyrauch behielt somit recht, denn auch das Internet dient heute (etwa mit Streaming-Portalen oder aber Online-Radiosendern) als Distributionskanal für Hörspiele.
Derart blieb das Hörspiel affin zu Massenmedien und behielt damit auch in einer weiteren Hinsicht sein – wenn auch uneingelöstes – inklusives Potential, das Brecht und Benjamin vorschwebte: Tatsächlich blieb das Hörspiel stets für Interessierte tendenziell kostenfrei (resp. indirekt zu bezahlen qua Rundfunk- und Internetgebühren) und hielt sich damit jedenfalls in Distanz zum Theater, das dem Hörspiel gegenüber „aristokratischer Natur“ ist, da es eher auf das Bildungsbürgertum zielt und stets Eintritt kostet. Zudem hüllt sich das Hörspiel nicht wie das Theater in eine Aura des Hochkulturellen und schwer Zugänglichen, weswegen es auch nicht im gleichen Maße für einen Distinktionsgewinn geeignet ist, der ja stets auf das Trennende, die Differenz zwischen Menschen hinausläuft. Das Hörspiel ist, kurz gesagt, auch hinsichtlich dieser äußeren Modalitäten eine inklusive Kunstform, die keine sozialen Barrieren vor sich errichtet. Der Genuss eines Hörspiels ist stets „voraussetzungslos“: „Jeder ist willkommen, daran teilzunehmen“, so Peter Hirche (1981:64), demzufolge sich dies zudem derart inhaltlich niederschlage, dass das Hörspiel stets „das Gemeinsame in allen Menschen“ adressiere (Hirche 1981:63).
Zur inklusiven Arbeitsweise und der Idee des Hörspiels
Die bisher angestellten Überlegungen, in denen es darum ging, aus der Materialität des Hörspiels dessen Aufgeschlossenheit gegenüber einer inklusiven Praxis zu entwickeln, sind im Folgenden anhand eines Hörspielprojekts des Barner16-Netzwerks zu konkretisieren. Für alle an der Produktion Beteiligten handelte es sich um die ersten Erfahrungen in der Hörspielpraxis, denen zudem keine theoretische Befassung mit dem Medium vorausging. Dies entspricht in gewisser Hinsicht dem Entstehungsmoment des Hörspiels, der von den neuen medialen Möglichkeiten Gebrauch machte, ohne einer formulierten Hörspielpoetik zu folgen, der aber sogleich von theoretischen Ansätzen begleitet wurde (Döhl 1996:70). Für das Hörspiel gilt somit, dass ihre Praxis der Theorie vorgelagert ist – ein Befund, den Helmut Heißenbüttel (1972b) mit seinem Aufsatztitel „Hörspielpraxis und Hörspielhypothese“ pointiert hat, dessen beide Begriffe als Chronologie zu verstehen sind. Die zu treffenden Entscheidungen im kreativen Prozess erfolgten demnach nicht aufgrund hörspieltheoretischer Reflexion, sondern aufgrund ästhetisch-praktischer Erwägungen, die auf das Gelingen des gemeinsamen Plans, ein Kinderhörspiel zu schreiben und zu produzieren, gerichtet waren. Die stattgefundene Praxis findet nun also im Nachhinein ihre theoretische Reflexion.
Für das Barner16-Kollektiv, das vielfältige professionelle Kulturproduktionen als Zusammenarbeit von Menschen mit und ohne Behinderung durchführt und hierbei also auf ein direktes Miteinander angewiesen ist, erwies sich die Idee einer Hörspielproduktion gerade in Corona-Zeiten als geeignet: Gerade weil das Hörspiel – denkt man an Ideenfindung, Textgestaltung, Lektorat, Mikrofonierung, Aufnahme, Musikbeiträge, Sounddesign, Stimmschauspielerei, Schnitt etc. – aus so vielen einzelnen Arbeitsschritten besteht, ließen sich diese auch in vereinzelter Durchführung organisieren, sodass der kreative Betrieb der Barner16 auch im Homeoffice-Lockdown fortgesetzt werden konnte. Erst die Stimmaufnahmen verlangten nach geschützter Präsenzarbeit. Insofern eine Hörspielproduktion auf dem Weg zur gespeicherten Aufnahme nicht an den Realisationsstufen, erst der Erstellung eines Manuskripts mit dem Sprechtext, dann der Erstellung eines Tonmanuskripts, das Anweisungen für Geräusche und Musik enthält, vorbeikommt, ist mit der Schilderung des Entwicklungsprozesses einzusetzen.
Die Idee, ein Hörspiel zu produzieren, basierte auf einem bereits vor vielen Jahren durchgeführten Projekt, im Zuge dessen eine Geschichte erdacht worden war, die bereits die Hauptfigur, einen Maulwurf namens Winze, eingeführt hatte. Diese Geschichte wurde bereits als kurzes Hörbuch aufgenommen, das auch hörspielhafte Züge aufwies, insofern es nur wenige dialogische Szenen und Klanggestaltung enthielt und hauptsächlich von einer Erzählerinnenstimme getragen war. Diese Geschichte wurde von zwei Beschäftigten der Barner16 zusammen mit einem Mitarbeiter entwickelt und später zusätzlich mit Papier, Stoffen und Folie als unaufwendiger Stop-Motion-Film inszeniert.
Im Jahr 2019 entstand mit Beschäftigten die Idee, für Maulwurf Winzes Reise eine Fortsetzung zu schreiben, für die die bestehende Vorarbeit als Ausgangspunkt dienen sollte. Dafür wurde zunächst gemeinsam mit allen Beschäftigten ein Brainstorming betrieben, bei dem nach und nach einzelne Kategorien – so etwa Personen, Orte, Handlungsmotive, Umfang und Verlauf der Reise – eingebracht wurden, die dann zu diskutieren waren. Mit Benjamin gesprochen stand also von Anfang an programmatisch fest, „daß [das] eigene[] Interesse einen sachlichen Wert für den Stoff selber besitzt“ (Benjamin 1991:672).
Als dann die Pandemie den Arbeitsprozess zu unterbrechen drohte, wurden gemeinsam (d.h. von Mitarbeiter*innen und Beschäftigten) Homeoffice-Aufgaben erarbeitet, die dann per Mail ausgegeben wurden und von Montag bis Freitag zu bearbeiten waren. Aus dem auf diese Weise gesammelten, kollektiv gesichteten und zusammengesetzten Material wurden dann wiederum neue Aufgaben herausgearbeitet, aus deren detailreichen Ideen sich ab September 2020 Stück für Stück der Hörspieltext zusammenstellen ließ. Insgesamt haben auf diese Weise circa 30 Menschen am Skript mitgearbeitet. Bereits 1974 hielt Alfred Behrens (1981:94) bei der Entgegennahme des Hörspielpreises der Kriegsblinden fest: „Hörspiele von heute, neue Hörspiele sind – weniger noch als in der Vergangenheit – nicht Einzelleistungen eines Autors, sie sind Produkt intensiver Gruppenarbeit eines ganzen Realisationsteams.“ Der Gedanke, es mit einer ganz bestimmten, nämlich inklusiven Gruppenarbeit zu tun zu haben, sollte sodann auch die Kernidee des Hörspiels selbst werden, die inklusiv-kollektive Arbeitsweise sollte sich im Hörspiel spiegeln, denn: „[I]m Mittelpunkt des Hörspiels steht eine Idee“ (Kühner 1978:33). Auch das Narrativ des Hörspiels würde also – dazu später mehr – eine nur im Kollektiv lösbare Aufgabe beinhalten.
Insofern es dem Barner16-Netzwerk um die Kunst nicht bloß als Mittel inklusiver Arbeit, sondern eher umgekehrt, um die inklusive Arbeit als Mittel zur Schaffung von Kunst geht, stellte sich angesichts der großen Anzahl an Mitverantwortlichen die Frage, inwieweit bei der künstlerischen Arbeit im Kollektiv als Resultat nicht bloß eine Montage, sondern die Schaffung eines Werkganzen möglich sei. Georg Lukács (1971:328) etwa, der bei diesem Urteil avantgardistische Experimente der Moderne im Blick hat, warnte davor, dass die Montage disparater Einzelteile nur „eine tiefe Monotonie“ zum Resultat haben könnte: „Die Einzelheiten mögen in den buntesten Farben erglänzen, das Ganze ergibt ein trostloses Grau in Grau, so wie die Pfütze schmutziges Wasser bleibt, auch wenn ihre Bestandteile die verschiedenartigsten Farben aufweisen.“ Um der Gefahr zu entgehen, schlussendlich nur „ein trostloses Grau in Grau“ zu produzieren, wurde das zusammengestellte Manuskript deswegen von einer am Prozess bislang unbeteiligten Person lektoriert und hinsichtlich seiner Kohärenz überarbeitet.
Der damit erreichte Zwischenstand, das Sprechskript, beinhaltete nun also das fertige Narrativ. Daher sei hier nun der Inhalt des Hörspiels mit dem Zitat seines später verfassten „Klappentexts“ in aller Kürze umrissen:
„Der kleine Winze Wurfmaul liest leidenschaftlich gern Abenteuergeschichten. Plötzlich findet er sich jedoch selbst in ein schier unglaubliches Abenteuer verstrickt: Er muss Käpt’n Kalle Schaufel, den verschollenen Helden seiner Lieblingsbücher, wiederfinden. Auch wenn sein gesamter Erfahrungsschatz allein aus diesen Geschichten stammt, zögert er nicht lang und nimmt das Wagnis auf sich.
Es entspinnt sich eine aberwitzige Reise ins Weltall und bis ins Innere von Planeten, auf der er viele verrückte Bekanntschaften macht, die ihm mit ihren ganz eigenartigen Talenten helfen, seine schwierige Aufgabe zu lösen.“
Das Hörspiel ist somit der Gattung des „Literarischen Hörspiels“ zuzuschlagen, d.h. die Handlung wird von der Erzähler- und Figurenrede getragen, während Geräusche und Musik eine handlungsstützende Funktion übernehmen. Heinz Schwitzke, der in den Sechzigerjahren die Funktion des Hörspielleiters beim NDR innehatte, schreibt zu dieser Gattung, es handle sich um „das eigentliche Hörspiel“ (Schwitzke 1963:77). Insofern ist es womöglich kein Wunder, warum die am Hörspiel beteiligten Personen noch vor jeder theoretischen Reflexion auf dieses Genre zusteuerten.
Der Klappentext macht zudem augenfällig, dass das Hörspiel deutlich „märchenhafte Züge“ (Frank 1963:7) trägt, die für Hörspiele oftmals charakteristisch sind. Schwitzke (1978:41) weitet den Aspekt des Nicht-Realistischen grundsätzlich auf das Material des Hörspiels aus: „Die Hörspielkunst ist von Hause aus nicht realistisch – schon wegen des spirituellen ,Materialsʻ von Sprache, Klang, innerer Anschauung, aus denen die Gestalten und Bilder gebaut sind.“ Insofern das Hörspiel seine fiktiven Welten rein klanglich evoziert, hat es tatsächlich nicht die produktionstechnischen Problemstellungen zu bewältigen, die ein Weltraumabenteuer etwa für den Film bedeuten würde. Ob das Material des Hörspiels deswegen als „spirituell“ und ob also das Hörspiel „von Hause aus“ als nicht-realistisch zu charakterisieren ist, bleibt damit aber noch unentschieden.
Allerdings haben sich für ein intensives ästhetisches Empfinden selbst fantastische Inhalte in der Vorstellungswelt scheinhaft zu verlebendigen: Vor dem „inneren Auge“ wird die Handlung, die es außerhalb des Fiktiven niemals geben könnte, quasi-real. Für diesen Effekt ist die Rolle des Erzählers von großer Bedeutung. Dieser ist ein episches Element mit einer klaren dramaturgischen Funktion: Als Schilderer der fiktiven Umgebungen liefert er der inneren Inszenierung die nötigen Anhaltspunkte, als Berichter von Handlung ermöglicht er Fortschritte im Plot, die sonst – nämlich allein über Dialoge vermittelt – sehr viel Zeit in Anschlag nehmen würden. Daher darf der Erzähler nicht erst später im Hörspiel als Behelf eingeführt werden, da dies davon zeugt, dass die Vorgänge erst jetzt nicht länger mit den gleichen, rein szenischen Mitteln erzählt werden können. Wenn es einen Erzähler gibt, dann muss er also von Anfang an als „dramaturgisches Stilmittel“ eingesetzt sein (Kühner 1978:29).
Die im Barner-Hörspiel am Anfang stehende Einführung durch den Erzähler ermöglicht zugleich einen weiteren erzählerischen Effekt: Dieser eröffnet zunächst eine Rahmenhandlung, die in einem graduell realistischeren Setting angesiedelt ist, in dem die Hauptfigur als Geschichtenleser statt als Abenteurer eingeführt wird. Der Übergang zur Binnenhandlung fällt zusammen mit dem Übergang in den Traum, in dem die Figur nun selbst zum Akteur wird. Zugleich „plausibilisiert“ sich damit das ungleich größere Maß an Fantastik, das die Binnenhandlung dominiert. Der Erfahrungsraum des Traums ist auf besondere Weise für das Hörspiel geeignet, da er in gewisser Weise strukturelle Parallelen zum imaginativen Raum des Hörspiels aufweist: Ein Hörspiel ist da effektiv, „wo es die Einbildungskraft anregt und eine Art von immateriellem innerem Vorstellungsraum schafft“ (Heißenbüttel 1972a:220). Während die Erfahrung des Hörspielraums aber eine aktiv-rezipierende ist, ist die Erfahrung des Traumraums – paradox formuliert – eine passiv-konstruierende. Nach Heißenbüttel (ebd.) erreicht die Hörspielerfahrung dann eine besondere Intensität, wenn sich in der Rezeption diese Erfahrungsweisen scheinbar vermischen: „Ein Hörspiel mußte klingen wie geträumt.“
Sowohl Hörspiel als auch Traum evozieren eine Visualität im Inneren. Auf diesen Aspekt wird im Barner-Hörspiel vielfach angespielt, wie sich im häufigen Gebrauch der Wörter „Auge“ und „sehen“ zeigt. So ermuntert der Maulwurf Winze die Drachenfrau Pandorga etwa zur gemeinsamen Suche nach einem Ei, das ihr abhandengekommen ist: „Vier Augen sehen bekanntlich mehr als zwei.“ Worauf Pandorga erzürnt reagiert: „Meine Augen sehen schon lange nicht mehr viel.“ So wird immer geschildert, wer was sieht – oder eben nicht sieht. Dabei kommt die Sehfähigkeit keineswegs nur als eine fixe Eigenschaft vor, die einer Person fest anhaftet. So befindet sich Winze nach einem Raketenabsturz mit seiner Crew im Erdkern: „Winze öffnete die Augen. Stille Schwärze umgab den Maulwurf.“ So werden hier – in zufälliger Anspielung an A Comedy of Danger – die Dunkelheit der erzählten Situation und die Bildlosigkeit des Hörspiels in Deckung gebracht. Während das rezipierende Subjekt das zeitweilige Nicht-Sehen hier recht leicht als eine mit der Figur gemeinsame Erfahrung imaginieren vermag, so erhält es wenig später angesichts einer besonders fantastischen Szenerie den Hinweis auf den vermeintlich defizitären Charakter des akustischen Mediums. Dort kommentiert der Erzähler: „Was Winze nun sah, kann man sich wohl kaum vorstellen, wenn man es nicht mit eigenen Augen gesehen hat.“ Darauf folgt gleichwohl eine so lebhafte und genaue Schilderung einer fantastischen Naturumgebung, die als solche ja im Gegenteil allein aufs Vorstellen und keineswegs aufs Sehen zielt.
Die fantastischen Züge des Hörspiels finden insbesondere auch ihren Niederschlag in der Figurenkonzeption, die mitunter absurd anmutet: Die Drachenfrau Pandorga strahlt aufgrund ihrer Größe aber auch aufgrund ihrer tiefen, ohrenbetäubenden Stimme Macht aus, ist aber tatsächlich schon alt und kann nur noch schlecht sehen; der fliegende Leuchtkäfer Blue wiederum ist stumm und kann sich nur umständlich durch Auf- und Ab-Bewegungen verständlich machen; Leela ist ein ominöses Tentakelwesen, das aufgrund eines technischen Defekts hilflos auf einem Planeten gestrandet ist, sich später aber dadurch hervortut, dass es durch äußerst kleine Löcher schlüpfen und seine Arme als Fessel benutzen kann; der berühmte und listenreiche Weltraumabenteurer Käpt'n Kalle Schaufel wiederum, den es zu befreien gilt, sitzt im Rollstuhl. Der Clou des Hörspiels besteht nun darin, dass die gemeinsame Mission nur im Zusammenspiel all dieser Einschränkungen und Fähigkeiten gelingt: Diversität wird durch das Narrativ nicht bloß als abstrakter Wert beschworen, sondern als Bedingung eines funktionalen sozialen Zusammenhangs, in dem die Individuen aufgehoben sind. Aus den Differenzen der einzelnen Figuren ergeben sich ihre Einzelbeiträge zum Erreichen eines kollektiven Ziels, das zugleich mit ihren individuellen Zielen kommensurabel ist. Hierin hat das Hörspiel seine dezidiert utopische Dimension.
Für das auf die Fertigstellung des Skripts folgende Stimmcasting wurden sodann solche Textstellen herausgesucht, in denen die einzelnen Charaktere besonders deutlich zur Geltung kommen. Diese Textpassagen wurden wiederum als Homeoffice-Aufgaben an alle Beschäftigten und Mitarbeiter*innen geschickt: Alle konnten sich mit einer eingesandten Stimmaufnahme auf die Rollen bewerben. Nach Einsendung der Stimmen wurde in einem Online-Meeting eine erste Vorauswahl getroffen, über die wenig später final entschieden wurde. Abgesehen von einer Mitarbeiterin und einem Mitarbeiter der Einrichtung wurden die Rollen mit Beschäftigten besetzt, derer einige blind sind. Die Stimmaufnahmen fanden dann in Kleinstgruppen statt: Neben einer Person für die technische und einer weiteren für die inhaltliche Betreuung war nur die je sprechende Person vor Ort. Die schauspielerische Herausforderung bestand somit mitunter darin, die Dialoge dialogisch klingen zu lassen, auch wenn sie gar nicht gemeinsam in dialogischer Form aufgenommen werden konnten. Alle Stimmschauspieler*innen zeichneten sich durch ein außerordentliches Stimmgeschick und eine enorme Ausdauer in der Kohärenz ihrer Stimmperformance aus.
Nachdem im Anschluss die Stimmaufnahmen zum basalen Hörspielgerüst zusammengeschnitten wurden, ging es daran, das Hörspiel mit illustrierenden Sounds und mit Musik zu versehen, die im Hörspiel „traditionell eine zentrale Rolle“ beansprucht (Hörburger 1996:1574). Entsprechende Regieanweisungen waren zuvor in einem extra dafür angelegten Tonskript gesammelt worden. Während die Wahl handlungsstützender Geräusche sozusagen vom Narrativ selbst getroffen wurde und sich nur mehr die Frage stellte, wie die geforderten Geräusche zu erzielen wären, war der Einsatz von Musik im Hörspiel zunächst weniger durch die Handlung vorherbestimmt. Im Fall des Barner-Hörspiels allerdings ist die Musik, abgesehen vom Titelstück, selbst in die Narration eingebettet. Während das Titelstück in klanglicher Hinsicht eine affektive Einführung und in inhaltlicher Hinsicht eine erste Charakterzeichnung der Hauptfigur vornimmt, so ergeben sich weitere Lieder tatsächlich aus der Handlung selbst – nicht einfach „als Untermalung und Gliederung inhaltlicher oder zeitlicher Abläufe“ (Hörburger 1996:1574), sondern wenn im Narrativ selbst Musik thematisch wird: Wenn also mysteriöse Vogelwesen musizieren und dazu rituell ums Lagerfeuer tanzen oder wenn der Erdkernbewohner Hektor Hitzi, unwissentlich, dass er beobachtet und belauscht wird, ein Lied über seine eigene Rolle anstimmt, dann sind diese Lieder auch im Hörspiel hörbar.
Erwägungen dieser Art ergaben sich stets in einem kollektiven Aushandlungsprozess, der nicht von theoretischen Erwägungen, sondern von Wirkungsabsichten bestimmt wurde: Wie musste ein kindergerechtes Hörspiel beschaffen sein, dass die Bespielung des inneren Erfahrungsraums ästhetisch initiiert und damit einen Beitrag zur ästhetischen Rezeptionsschulung der jungen Hörenden leistet? „Wer seine Hörer in neue Erfahrungen verstricken, sie in bisher unbekannte Vorstellungsräume einführen, wer Sprachlosigkeit mildern, Abhängigkeiten lockern und Selbständigkeit steigern will, der muß die Wirkung der von ihm gewählten Ausdrucksmittel ständig überprüfen. Literatur ohne den Gedanken an jene, die von ihr unberührt bleiben könnten, ist unmenschlich“, so der Hörspieldramaturg Christoph Buggert (1981:112) in seiner im Jahr 1978 gehaltenen Rede zur Verleihung des Hörspielpreis der Kriegsblinden. Positiv formuliert, im ständigen Mitdenken der Wirkung eines Hörspiels, das niemanden ausschließen soll, steckt somit das inklusive Potential des Hörspiels, das hier nun nicht mehr nur auf produktiver, sondern gleichermaßen auf rezeptiver Seite zu verorten ist. In seiner Preisrede im Jahr 1966 unterstrich auch Peter Hirche, man könne von der Kunstform sagen, „sie sei eminent demokratisch“ – dies gerade im Gegensatz zum „aristokratischen“ Theater (Hirche 1981:63). Und geradezu feierlich proklamiert er:
„Wichtiger aber ist noch, daß es sich wendet an das Gemeinsame in allen Menschen: an die Summe von Wissen und Erfahrung, die ein jeder mit jedem gemein hat. Daraus holt es seine Bausteine, die es zu Mustern zusammensetzt, zu immer neuen Mustern voller Schönheit und voller Bedeutung.“ (Hirche 1981:63f.)