Hey Siri! Was ist ein Kurator? – Eine Museumsforschung ohne Museum
Abstract
Das Projekt Hey Siri! Was ist ein Kurator? wird Ausgangspunkt dafür sein, darüber nachzudenken, wie mittels künstlerisch-edukativer Projekte ein Aushandlungsraum gesellschaftlichen Miteinanders in und mit einem institutionellen Kontext entstehen kann. Mit künstlerischen Interaktionen erforschten die Projektteilnehmer*innen den Raum zwischen Museum und Schule: Was sind die Bedingungen und die Möglichkeiten miteinander in Beziehung zu treten? Wie verwischen Grenzen und wie geraten Standpunkte in Bewegung? Eine Herausforderung war dabei die unvorhergesehene, temporäre Schließung der Berlinischen Galerie zum Projektstart. Das geschlossene Museum wurde zu einer Variablen, die von den Schüler*innen neu beschrieben werden konnte. Inspiriert von den Kunstwerken der Berlinischen Galerie, die die jungen Menschen aus dem Katalog der Galerie kannten, wurden eigene Narrationen erdacht und es entstanden nach ihren Vorstellungen und Ideen acht „Museen in der Schachtel“ sowie elf weitere Handlungsanweisungen. In den Museumsmodellen wurden neben Ausstellungsräumen auch Räume mit Funktionen gebaut, die in der echten Berlinischen Galerie so (noch) nicht vorkommen. Die mit der Museumsschließung verbundene besondere Annäherung zu dem Museum und seinen Werken wird im Beitrag diskutiert und wissenschaftlich reflektiert. Die Projektergebnisse, beispielsweise die verschiedenen Experimente der SIRIBOX und das Textheft, eröffnen unterschiedliche Wege, über die Gründe nachzudenken, warum bestimmte Menschen ins Museum gehen und andere nicht. Sie können Ausgangspunkt für Diskussionen sein, bisherige Vermittlungspraxen zu überdenken und weiterzuentwickeln sowie Anstoß geben, den Zwischenraum von Museum und Schule als Experimentierfeld für mögliche Zugänge zu nutzen.
Einführend: Was passierte in dem Projekt?
Das Projekt Hey Siri! Was ist ein Kurator? wird Ausgangspunkt dafür sein, darüber nachzudenken, wie mittels künstlerisch-edukativer Projekte ein Aushandlungsraum gesellschaftlichen Miteinanders in und mit einem institutionellen Kontext entstehen kann. Mit künstlerischen Interaktionen erforschten die Projektteilnehmer*innen den Raum zwischen Museum und Schule: Was sind die Bedingungen und die Möglichkeiten miteinander in Beziehung zu treten? Wie verwischen Grenzen und wie geraten Standpunkte in Bewegung? Eine Herausforderung war dabei die unvorhergesehene, temporäre Schließung der Berlinischen Galerie zum Projektstart. Das geschlossene Museum wurde zu einer Variablen, die von den Schüler*innen neu beschrieben werden konnte. Inspiriert von den Kunstwerken der Berlinischen Galerie, die die jungen Menschen aus dem Katalog der Galerie kannten, wurden eigene Narrationen erdacht und es entstanden nach ihren Vorstellungen und Ideen acht „Museen in der Schachtel“ sowie elf weitere Handlungsanweisungen. In den Museumsmodellen wurden neben Ausstellungsräumen auch Räume mit Funktionen gebaut, die in der echten Berlinischen Galerie so (noch) nicht vorkommen. Die mit der Museumsschließung verbundene besondere Annäherung zu dem Museum und seinen Werken wird im Beitrag diskutiert und wissenschaftlich reflektiert. Die Projektergebnisse, beispielsweise die verschiedenen Experimente der SIRIBOX und das Textheft, eröffnen unterschiedliche Wege, über die Gründe nachzudenken, warum bestimmte Menschen ins Museum gehen und andere nicht. Sie können Ausgangspunkt für Diskussionen sein, bisherige Vermittlungspraxen zu überdenken und weiterzuentwickeln sowie Anstoß geben, den Zwischenraum von Museum und Schule als Experimentierfeld für mögliche Zugänge zu nutzen.
Das Projekt Hey Siri! Was ist ein Kurator? (zitiert nach einer Schüler*in) fand im Mai/ Juni 2019 in Kooperation zwischen einer Grundschule in Berlin Kreuzberg, der Berlinischen Galerie und dem Künstler*innenkollektiv sideviews e.V. statt. Die Idee war, mit Grundschüler*innen die Berlinische Galerie in Bezug auf ihre Interessen zu erforschen. 50 Kinder und Jugendliche befragten und identifizierten mit künstlerischen Mitteln ihre Erwartungen, Erfahrungen und Interessen in bzw. mit diesem Museum. Das Projekt war als künstlerische Versuchsanordnung angelegt: In zwei Episoden wurden gemeinsam mit drei Künstler*innen (Seraphina Lenz, Anja Scheffer, Rainer Untch) praktische Handlungsfelder eröffnet, die sich als Experimentierfeld und -raum zwischen Museum und Schule verstanden. Zwei Klassen setzten sich entlang verschiedener Fragen mit der Sammlung der Berlinischen Galerie auseinander: Wie würde mein Museum aussehen? Was würde ich wie und für wen ausstellen? Wie kann ich mich einem Kunstwerk so annähern, dass es Spaß macht?
Entstanden sind Installationen, Texte, Modelle, Performances und Filmsequenzen, die Bezug auf die Sammlung der Berlinischen Galerie nehmen und sowohl dort als auch in der Schule inszeniert wurden. Den Abschluss des Projekts bildete eine interaktive Ausstellung in der Aula der Schule, in der die Prozesse und künstlerischen Bearbeitungen aus beiden Episoden zusammengeführt wurden. Acht Entwürfe von Museen aus Kinder- und Jugendperspektive begegneten einer Vielzahl von interaktiven Experimenten, Handlungsanweisungen und Vorschlägen, sich mit einem Werk, dem Museum und seinen Besucher*innen zu beschäftigen.
Das Projekt war nicht nur für die Grundschüler*innen, sondern auch für die beteiligten Künstler*innen, Lehrpersonen und das Jugendgremium Schattenmuseum ein Forschungsprozess. Die entwickelten Experimente wurden von den Grundschüler*innen in einer Box – der SIRIBOX – zusammengefasst. Sie ist ein weiteres Ergebnis aus dem gemeinsamen Forschungsprozess und umfasst alle Experimente und interaktiven Handlungsanweisungen – zusammengestellt von den Grundschüler*innen. Die SIRIBOX ist in einer Auflage von 40 Exemplaren von Hand hergestellt worden. Jede Box ist ein Unikat. Die Experimente können einzeln aus ihr herausgenommen und ausprobiert werden. Sie ist erweiterbar, Experimente dürfen ergänzt werden.
Diskussion des künstlerisch-edukativen Projektansatzes
Reflexionen und Gedanken der Begleiter*innen wurden darüber hinaus in einem Textheft festgehalten. Es erzählt von den Erfahrungen, Fragen, Assoziationen und Beobachtungen der beteiligten Begleiter*innen in den Ausstellungen und während des Prozesses. SIRIBOX und Textheft können gemeinsam als kritische Befragung und konstruktive Kommentierung der gemeinsamen Praxis verstanden werden.
Marcelo Rezende (Besucher der Ausstellung und Kurator des Archivs der Avantgarden formuliert in dem Textheft:
„Eine Pappschachtel ist, […] in Fillious Augen keine neutrale Wahl und könnte es auch nie sein. Im Gegenteil. Sie ist eine radikale Lösung, um einen Prozess im Kopf zusammenzufassen. Der Karton ist nicht für die Ewigkeit gemacht und verweigert die Vorstellung von Kunst (in unserem Fall auch Museum) als etwas Stabilem; auch hat der Pappkarton die Funktion eines Archivs. Er archiviert eine Chance, eine Möglichkeit. […] Laut Filliou kann Forschung nicht in herkömmlicher Weise verstanden werden: ‚[…] Forschung ist nicht das Privileg derer, die wissen, sondern das Gebiet derer, die nicht wissen […]‘ (Filliou 1995:82).“ (Rezende 2019)
In diesem Sinne eröffnen die verschiedenen Erzählungen der SIRIBOX und des Textheftes unterschiedliche Wege, über die Gründe nachzudenken, warum bestimmte Menschen ins Museum gehen und andere nicht. Sie können Ausgangspunkt für Diskussionen sein, bisherige Vermittlungspraxen zu überdenken und weiterzuentwickeln sowie Anstoß geben, den Zwischenraum von Museum und Schule als Experimentierfeld für mögliche Zugänge zu ermöglichen und zu nutzen.
engaged pedagogy als Ansatz für das Lehr- und Lernkonzept
Bezugnehmend auf eine engaged pedagogy (hooks 1994), die jeden Klassenraum unterschiedlich wahrnimmt, Strategien ständig wechselt, neu erfindet und re-konzeptualisiert, um jeder Situation neu begegnen zu können, kann die Arbeit zwischen Schule und Museum als Zwischenraum für Aushandlungen und Interaktionen verstanden werden. bell hooks (wie Filliou auch) spricht davon, dass Lehren ein performativer Akt ist. Sie betrachtet diesen Aspekt als Möglichkeit für Veränderung, Erfindungen und spontane Shifts, die das Besondere in jedem Klassenraum ermöglichen. Es geht darum, dass jede*r aktiver Teil eines Lernprozesses werden kann, ausgehend von ihren*seinen Geschichten, Erfahrungen u.a. Diese sollten immer den Ausgangspunkt bilden. Eine engaged pedagogy spricht von einem Austausch zwischen allen und meint daher, dass auch die Lehrpersonen und Begleiter*innen von den Geschichten, Erfahrungen u.a. lernen und daran wachsen können. Es geht darum, gemeinsam etwas zu riskieren und sich nicht nur einseitig verletzlich zu zeigen.
Die folgenden Überlegungen konkretisieren, wie mittels künstlerisch-edukativer Projekte ein Aushandlungsraum gesellschaftlichen Miteinanders in und mit einem institutionellen Kontext entstehen kann.
Interaktionen zwischen Museum und Schule
Am ersten Tag des Projektes war das Museum geschlossen. Für unbestimmte Zeit. Grund dafür waren statische Probleme im Dach. Eine Museumsforschung ohne Museum war plötzlich Grundlage der gesamten Forschung. Vielleicht konnten alle Beteiligten die Richtung wechseln und sich auf diesen Umstand einlassen, weil der gesamte Prozess von vorne herein als Experimentierraum zwischen Schule und Museum angelegt war. Im Verlauf des Projektes kam dem Zwischen möglicher Weise gerade deshalb eine besondere Aufmerksamkeit zu. Es war Ausgangspunkt dafür, dass sich drei Künstler*innen, zwei Grundschulklassen und drei Lehrpersonen nicht nur mit den Werken eines temporär geschlossenen Museums beschäftigten, vielmehr traten die Werke, das Museum und die Schule durch die Interaktionen der Akteur*innen miteinander in Beziehung und bewegten sich einen Moment lang miteinander.
Beim Ausstellungsbesuch in der Aula und entlang einer Erinnerung zu einem Experiment soll im Folgenden dem Gedanken nachgegangen werden, wie diese verschiedenen Positionen miteinander in Bewegung gerieten: Im Experiment Interview traf ich auf zwei Personen, die mich fragten, welches Bild mir gefallen hat. Ich redete mit ihnen über das Bild. Sie erklärten mir ihre Station: Sie werden mich interviewen, so als wäre ich die*der Künstler*in des Bildes. Anfangs schüchtert mich die Situation ein, was sollte ich ihnen als Künstler*in erzählen? Dann stellte ich fest, dass es total aufregend ist – gerade weil ich die Künstler*in im Projekt bin – mit ihnen über das Bild zu reden. Ich erfand eine Geschichte um das Bild, dadurch fielen mir Dinge auf, die ich normalerweise anders kontextualisiert hätte. Das Interview eröffnete mir einen spielerischen Zugang, wodurch ich nicht sofort die bekannten Kategorien der Bildbetrachtung abrief. Vielmehr macht es Spaß zu erklären, warum ich dieses oder jenes Detail so und nicht so gemalt hatte, und bewusst die Kategorisierungen zu verwerfen (Ballath 2019).
Die feministische Wissenschaftsphilosophin, Literaturwissenschaftlerin und Biologin Donna Haraway spricht von Standpunkten in Bewegung. Sie meint damit das Verwischen von Grenzen und die Lust am Spiel mit Veränderbarkeit als Resultat und Voraussetzung allen Erkennens. Dabei spielen Körper (Menschen und Dinge) in ihren Überlegungen eine wesentliche Rolle. Sie versteht sie als Ablagerungsorte von Interaktionen und Beziehungen (vgl. Haraway 1995:109). Einerseits bedeutet das, dass Körper miteinander verbunden sind und kollektiv produziert und konstruiert werden. Andererseits geht daraus auch hervor, dass sie veränderbare und hybride Konstrukte sind. Jede Position beschreibt einen Standpunkt, eine bestimmte Sichtweise und eine Perspektive. Jede Interaktion kann daher eine Bewegung verursachen.
Mittels künstlerischer Interaktionen erforschten die Projektteilnehmer*innen von Hey Siri! Was ist ein Kurator? das Zwischen: Was sind die Bedingungen und die Möglichkeiten miteinander in Beziehung zu treten? Wie verwischen Grenzen und wie geraten Standpunkte in Bewegung? Für den Zeitraum des Projektes wurde das Zwischen das Spiel- und Experimentierfeld für alle Beteiligten.
Haraway spricht von einer „Verknüpfung partialer Sichtweisen“, die sich in ihrem Konzept des „situierten Wissens“ als „kollektive Subjektposition“ verbinden (vgl. Haraway 1995:109). Sie geht explizit von einer inneren Differenz aus: Standpunkte sollen in Bewegung versetzt werden. Das Verbinden verschiedener Standpunkte betrachtet sie als Möglichkeit, „ein Netz zu weben, das die machtförmig organisierten Positionierungen zu transformieren vermag, ohne gleichzeitig alle Differenzen in einem zentralen Standpunkt oder in einer Zentralperspektive aufzulösen“ (Haraway 1995:24). In diesem Sinne möchte ich das Zwischen mit Beziehung übersetzen. Beziehungen verstanden als bewegliche Linien und Überschneidungen von Bedeutungen, Körpern und Positionen. Die Beziehungen sind das Netz und die Linien, die die Standpunkte miteinander verbinden. Die Interaktionen produzieren diese Beziehungen zwischen Menschen und Dingen sowie zwischen Menschen untereinander.
Eine Museumsforschung ohne Museum: Eine besondere Annäherung
Als große Herausforderung wurde die temporäre Schließung der Berlinischen Galerie zum Projektstart von den Künstler*innen beschrieben: Eine Museumsforschung ohne Museum.
Dieses unvorhergesehene Ereignis eröffnete allerdings eine besondere Annäherung zu dem Museum und seinen Werken. Das geschlossene Museum wurde zu einer Variablen, die von den Schüler*innen neu beschrieben werden konnte: mit eigenen Wünschen, Vorstellungen und Ideen entstanden acht „Museen in der Schachtel“ sowie elf weitere Handlungsanweisungen. Alle Experimente befinden sich in der SIRIBOX. Experimente im Museum (SIRIBOX. Experimente im Museum 2019).
Ein Katalog mit vielen Werken der Sammlung wurde zum ständigen Begleiter aller Beteiligten. Obwohl er als Notlösung herangezogen worden war, eröffnete er in diesem Projekt den besonderen Raum zum Experimentieren. Er stellte das Werkzeug dar, das die Beziehungen zwischen den Werken, dem Museum und den Teilnehmenden aufbaute.
Die Werke aus dem Katalog wurden zum Material für die Museumsschachteln. Die Kataloge waren der Galerieraum, aus dem die Schüler*innen ihre Sammlung zusammenstellten. Dieser Raum wurde betrachtet, es wurden Werke ausgewählt, ausgeschnitten und in die Museumsräume herein kuratiert. Aber nicht nur das, die Museumsbauten wurden ebenfalls entworfen: ausgestattet mit Außenterrassen, Gartenbereichen, großen und kleinen Räumen, Kabinetten, schwarz-weißen Räumen, Cafés, riesigen Hallen, mehrstöckig oder auch mit Räumen für Kinder, u.a. Jedes Modell war die Übersetzung eines Aushandlungsprozesses mit den Werken, den Künstler*innen und Lehrpersonen sowie den Mit-Museumsdirektor*innen und -kurator*innen. Die Beziehungen zu bestimmten Werken der Sammlung entstanden ausgehend von den individuellen Interessen und Erfahrungen der Schüler*innen, wie zum Beispiel im Kunst-Museum Technik oder Mensch. Dort wurden Werke wie die automatische Ente, ein Entwurf eines Kaugummiautomaten, eine Zeitmaschine oder ein Roboter ausgestellt. Das mehrstöckige Gebäude konnte über eine futuristische Treppe erreicht werden und war mit Oberlichtern ausgestattet, so dass Tageslicht hereinfiel. Und der Museumsdirektor lud die Besucher*innen zu einem Rundgang durch die Sammlung ein.
Auch während des zweiten Projektes waren die Galerieräume vorerst noch geschlossen. Und auch in diesem Projekt wurde der Katalog mit der Sammlung zum Ausgangspunkt der Zusammenarbeit. Der Fokus lag allerdings nicht auf dem Kuratieren der Werke in einem eigenen Museum. Im zweiten Projekt wurden die Bilder in Bezug auf ihr Interaktionspotential erforscht: Was erzählt das Bild? Was kann man sehen? Was kann man sich ausdenken und was damit machen? Entstanden sind daraus elf Experimente, darunter verschiedene Interaktionen, Handlungsanweisungen und Vorschläge. Jedes Experiment eröffnet eine neue Möglichkeit mit einem Werk, dem Museum und mit anderen Besucher*innen in Kontakt zu treten. Die Experimente sind ein Extrakt der jeweiligen Auseinandersetzung der Schüler*innen mit einem bzw. mehreren Werken der Sammlung: Sie eröffnen nicht nur neue Aneignungsprozesse, ein Museum zu erkunden und seine Werke zu „betrachten“. Beeindruckend ist, dass aus dem selbstständigen Erproben und Experimentieren, zuerst in der Schule und später im Museum, Handlungsanleitungen (SIRIBOX) entstanden sind, die in jedem Kunstmuseum angewendet werden könnten.
Fast bis zum Ende des Projektes blieb die Berlinische Galerie geschlossen, erst als die Modelle drei Wochen später in der Berlinischen Galerie im Foyer ausgestellt wurden, betraten die Grundschüler*innen des ersten Projektes erstmals das Museum. Die Künstler*innen beschrieben es als Explosion, denn die Schüler*innen erkannten überall Werke und suchten explizit nach ihren: nach den Werken, die in ihren Sammlungen ausgestellt waren. Ein ähnliches Erlebnis beschrieben die Künstler*innen auch mit der zweiten Gruppe, deren spielerische Aneignungsinteraktionen im Museum überprüft und daraufhin weiterentwickelt wurden.
Als die Modelle und Experimente ein weiteres Mal in der Schule ausgestellt wurden, hatten die Projektteilnehmer*innen die Aula in einen Ausstellungsraum verwandelt. Die Souveränität und Selbstverständlichkeit, mit der die jungen Menschen die Besucher*innen in ihre Museen einluden und mit ihnen ihre Experimente durchführten, zeigte vor allem eins: Es waren ihre Dinge. Ihre Erfahrungen. Ihre Objekte. Ihre Geschichten. Ihre Erzählungen.
Etwas verwischt
Ich selbst erlebte in dem weiter oben beschriebenen Experiment Interview, wie sich mein Standpunkt in der Interaktion mit den Schüler*innen verschob, wie ich selbst Kategorien der Bildbetrachtung und des „Richtig-falsch-Machens“ verwarf, wie etwas verwischte. Paul Mecheril beschreibt Zugehörigkeiten als „Kontexte klarer Grenzen und Regeln der Mitgliedschaft, zu einem imaginierten Raum einer oder mehrerer kultureller Lebensformen und zu einem Kontext der vorgestellten Zusammengehörigkeit und biographischen Verbundenheit“ (Mecheril 2003:18). Museen und Schulen sind solche imaginierten Räume. Ihnen liegt ein vertrauter Gemeinsamkeitskontext zugrunde, sie suggerieren Zuordnung und Zugehörigkeit. Bei genauerer Betrachtung basieren sie allerdings auf erlernten Praktiken, denen ein handlungsrelevantes Verständnis eines Regelkorpus zugrunde liegt. Wenn also „etwas verwischte“, was war dieses „etwas“?
Jedes Objekt, jede Erzählung, jede Geschichte und jede Erfahrung stellte eine Möglichkeit vor, sich mit der Sammlung, dem Museum oder einem spezifischen Werk auseinanderzusetzen. In der Ausstellung verbanden und überlagerten sich diese vielen verschiedenen Perspektiven, Geschichten, Erzählungen und Objekte miteinander. Die Ausstellung schaffte es, ein Netz zwischen den Standpunkten der Schüler*innen und dem des Museums zu weben sowie sichtbar zu machen und diese zu einer „kollektiven Subjektposition“ zu verbinden. Die Experimente banden darüber hinaus auch die Besucher*innen ein. Ihre Standpunkte konnten im Kontext der Ausstellung Teil dieser „kollektiven Subjektposition“ werden. Die Körper (Menschen und Dinge) wurden zu jenen veränderbaren und hybriden Konstrukten, die das Netz webten, das die machtförmig organisierten Positionierungen transformiert, ohne dabei alle Differenzen in einem zentralen Standpunkt auflösen zu wollen. Im Rahmen der Ausstellung löste die Vielstimmigkeit der Positionen, Standpunkte und Situierungen für einen Moment lang die Grenzen des „imaginierten Raumes“ Museum auf.
Eine der Künstler*innen formulierte: „Was ich total spannend und toll fand, war die Erkenntnis, dass dieser Zwischenraum hergestellt werden muss. Und dass wir das eben zu dritt auf so unterschiedlichen Ebenen, oder auf so unterschiedliche Art und Weise gemacht haben. Und dass es eben nichts ist, wo man sagt, die Kinder werden da abgeholt, wo sie angeblich stehen und so weiter. Stattdessen ging es um eine gemeinsame Suchbewegung, um diesen Raum herum. Wofür interessiert man sich und wo kann man anfangen, daraus etwas zu entwickeln? Mit wem? In einer kleinen Gruppe, mit einer großen Gruppe“ (Ballath/Lenz/Scheffer/Untch 2019)
Ein geschlossenes Museum und ein Katalog der Sammlung waren Ausgangspunkt dafür, dass Grundschüler*innen durch eine künstlerische Aneignung eine Beziehung zu den Werken und zu dem Museum aufbauten. Eine besondere Beziehung: Die Schachteln und die Experimente waren die Linien, auf denen Bedeutungen, Körper und Positionen übereinandergelegt wurden. Beide Ansätze waren weder Reproduktionen der Berlinischen Galerie und ihrer Werke noch re-konstruierten sie die dazugehörigen gesellschaftlichen Positionen und Standpunkte des Museums. Vielmehr verwischten sie die Grenzen zwischen normierten Hierarchien im Spiel mit der eigenen Position und eröffneten einen Aneignungsprozess in der Darstellung eines eigenen Standpunktes (es sind die Standpunkte jeder Schüler*in und jeder Besucher*in gemeint) im Verhältnis zu dem des Museums. Im Projekt Hey Siri! Was ist ein Kurator? war das Zwischen Resultat und Voraussetzung, die Standpunkte in Bewegung zu setzen. Damit in solchen Spielräumen herrschaftssichernde Ordnungen, fertige Einheiten (Geschlecht, Klasse) u.a. unterbrochen und nicht (re)produziert werden, müssen Standpunkte als veränderbar und hybrid wahrgenommen werden –, um eben jene Lücken in der kafkaesken Ordnung des Zugehörigkeitssystems auszumachen, die die Grenzen verwischen. In Hey Siri! Was ist ein Kurator? entstand diese Lücke explizit mit der temporären Schließung des Museums.
Ausblick
Welche Schlussfolgerungen lassen sich aus diesen Beschreibungen für künstlerisch-edukative Projekte formulieren?
Die anfängliche Irritation über die Schließung produzierte gemeinsame Suchbewegungen und Kompromisse zwischen allen Beteiligten. Rückblickend erwies sich beides als Grundlage für den gemeinsamen Forschungsprozess, denn beides produzierte dieses benannte Zwischen. Menschen und Dinge interagierten miteinander. Dazwischen entstand ein temporärer Aushandlungsraum gesellschaftlichen Miteinanders, in dem die bestehenden Positionen (Museum, Werk, …) und damit einhergehenden Bedeutungen erst befrag-, verhandel- und damit auch temporär veränderbar wurden.
Donna Haraway entwickelte in den 80er Jahren die Figur des Cyborgs als Wesen der Science-Fiction mit Bezug zur gesellschaftlichen Wirklichkeit (Haraway 1995:33-72). Cyborgs sind hybride Figuren, die sie entwarf, um sichtbar zu machen, dass Grenzen und das Abstecken von Rollenverhältnissen nicht „einfach“ verändert werden. Mit der Cyborg suchte sie vielmehr nach neuen Formen und Figuren, um Verständnisse, Verhältnisse und Grenzziehungen sichtbar und dekonstruierbar zu machen. Denn wenn „Körper Landkarten [sind], in die Macht und Identität eingezeichnet sind“ (Haraway 2017:300), dann ist die Metapher der Cyborg ein Verweis darauf, dass Grenzlinien des Alltags neu gezogen werden können, wenn z.B. temporäre Netzwerke gebildet und bestehende Konstruktionen von Identität, Beziehungen, Räumen, Geschichten u.a. befragt, bewegt und dadurch vielleicht sogar verändert werden. Für die Praxis künstlerisch-edukativer Projekte bedeutet das, einen Rahmen anzubieten, bestehende Konstruktionen, Positionen und Kontexte befrag- und erlebbar zu machen. Einen Rahmen, der gemeinsame Suchbewegungen und Kompromisse zwischen allen Projektbeteiligten einbezieht und nicht ablehnt. Ein solcher Rahmen eröffnet temporäre Kompliz*innenschaften und Netzwerke und zeigt darin neue Formen und Figuren gesellschaftlichen Miteinanders auf. Damit Standpunkte, Grenzziehungen und bestehende Verhältnisse zur Disposition gestellt werden können, müssten in diesem Rahmen Widersprüche und Irritationen als Teil der Zusammenarbeit wahrgenommen werden. So verstanden benötigt eine Praxis künstlerisch-edukativer Projekte einen kollaborativen Austausch zwischen den verschiedenen Positionen (Körpern), damit Standpunkte in Bewegung geraten. Eine Veränderung bestehender Zugehörigkeitskontexte und Positionen beinhaltet insofern auch, erlernte Praktiken und handlungsrelevante Verständnisse eines Regelkorpus im Sinne Gayatri C. Spivaks zu verlernen (Grosz/ Spivak 1984:9). Es bedeutet, die Schließung eines Museums im Rahmen einer Museumsforschung als Möglichkeit zu betrachten. Als Möglichkeit, gemeinsam neue Wege zu gehen und dabei neue Perspektiven kennenzulernen und zu erproben.