Herrschaft und Kultur - Gemeinsamkeiten und Unterschiede bei Gramsci und Bourdieu
„Wenn Gramsci hinsichtlich der Infragestellung von Herrschaft zu optimistisch war,“ schreibt der US-amerikanische Soziologe Michael Burawoy „dann war Bourdieu zu pessimistisch“ (Burawoy 2012:189). Antonio Gramsci habe den kulturellen Mystifikationen nicht genug Aufmerksamkeit geschenkt, mit denen der fortgeschrittene Kapitalismus sein Fortbestehen garantiere. Pierre Bourdieu hingegen habe die habituelle Anerkennung für zu grundsätzlich und universell gehalten, in der die kapitalistischen Verhältnisse reproduziert würden. Dieser Einschätzung, die Burawoy in einem aktuellen Aufsatz begründet, liegt eine andere zugrunde: Dass nämlich der italienische Parteikommunist und der französische Soziologe einiges gemeinsam haben. Burawoy ist zwar nicht der einzige, der diese Ansicht vertritt. Dass die Ansätze der beiden Theoretiker systematisch aufeinander bezogen wurden, geschah bislang allerdings erstaunlich selten.
Dass Bourdieu sich in seinem soziologischen Hauptwerk „Die feinen Unterschiede“ (Bourdieu 1987 [1982]) nur ein einziges Mal auf Gramsci bezieht, war schon dem mexikanischen Kulturwissenschaftler Néstor García Canclini (1984) aufgefallen. Er hatte das auf die Vermutung zurückgeführt, dass Bourdieu sein sozialwissenschaftliches Werk – in der politisierten Atmosphäre der 1970er Jahre – durch zu große Nähe zum Marxismus nicht hatte kontaminieren wollen. Das scheint auch für die Rezeption eine plausible Mutmaßung: Dass Gramsci und Bourdieu bisher so wenig zusammengedacht wurden, liegt vor allem an den akademischen wie politischen Ressentiments der jeweiligen AnhängerInnen. Bourdieu wurde von marxistischer Seite häufig vorgeworfen, sich von der politischen Ökonomie verabschiedet zu haben und zu „funktionalistisch“ zu sein, d.h. nur zu erklären, wie die Dinge funktionieren, nicht aber, wie sie zu ändern sind. Bourdieu selbst hat sich in seinen (zwischen 1989 und 1992 gehaltenen) Vorlesungen „Über den Staat“ im Zuge seiner Abgrenzung vom Marxismus auch mehrmals von Gramscis Ansatz abgesetzt, hält ihm aber immerhin zu Gute, den Staat nicht nur als Ordnungs- und Repressionsapparat zu denken, sondern ihm auch die Funktion zuzuschreiben, „Konsens herzustellen und zu reproduzieren“ (Bourdieu 2014:252). Die Bourdieu-Schule sieht in Gramsci im Wesentlichen nach wie vor häufig bloß einen marxistischen Ideologie-Theoretiker. Und den Ideologie-Begriff hatte Bourdieu hinter sich gelassen und durch das seiner Konzeption nach weitergehende Habitus-Konzept ersetzt.
In beiden Begriffen allerdings, Ideologie und Habitus, ließe sich auch die Frage erkennen, die García Canclini bereits 1984 als gemeinsame beschrieben hatte und Buroway jetzt wieder als Gramsci und Bourdieu verbindende durchspielt: Warum ist Herrschaft so stabil? Auch bei der Beantwortung dieser Frage haben beide einige recht ähnliche Ideen. Sie ausformuliert zu haben, kann bis heute als richtungsweisend gelten: Nicht Gewalt und Repression allein, wie in anarchistischen und marxistischen Analysen weithin angenommen, garantieren die Aufrechterhaltung von Herrschaft. Hinzu kommen subtilere Formen der Machtausübung, die über unhinterfragte alltägliche Praktiken, über Partizipation und Privilegien funktionieren. Gramsci sprach daher von „kultureller Hegemonie“, der Vorherrschaft bestimmter Denk- und Verhaltensweisen, Bourdieu nannte diese nicht immer erkennbaren Reproduktionsweisen „symbolische Macht“. Symbolisch heißt diese Macht nicht etwa, weil sie weniger real oder weniger effektiv wäre als physische, sondern weil sie sich – im Sinne des Symbolischen beim Philosophen Ernst Cassirer – auf grundlegende Formen des Verstehens und Erlebens bezieht.
Zum einen zielen also beide in ihren Herrschaftsanalysen auf Kultur im weiteren Sinne: Nicht allein der Zwang zur Veräußerung der Arbeitskraft und die repressiven Apparate Militär und Polizei trügen zur Stabilität der Verhältnisse bei. Auch die Denkweisen und die alltäglichen Praktiken, ja selbst die Geschmäcker hätten ihren Anteil an der Reproduktion des Bestehenden. Kultur in diesem Sinne dürfe aber nicht, so Gramsci, als „enzyklopädisches Wissen“ verstanden werden, dass dem Menschen einem „Gefäß“ gleich eingetrichtert werde. In seinen in der Haft zwischen1929 und 1935 verfassten „Gefängnisheften“ versteht Gramsci Kultur als „Lebensweise“ (Gramsci 1999:2109), zu der nicht nur die Künste im engeren Sinne, sondern allgemein Gewohnheiten, Gefühle und „Auffassungen von der Welt“ (Gramsci 1999:2108) gehören. Die besondere Bedeutung der Dominanz bestimmter Ideen und Verhaltensweisen entsteht nach Gramsci erst dadurch, dass die Kultur als eine Angelegenheit der selbsttätigen und praktischen Aneignung verstanden wird. Nicht umsonst nannte Gramsci den Marxismus, der helfen sollte, diese Praktiken zu begreifen – und schließlich zu verändern –, eine „Philosophie der Praxis“ (Gramsci 1999:2108).
Auch Bourdieus Ansatz wird – aus dem gleichen Grund – als Praxistheorie bezeichnet. Bourdieu allerdings legt noch stärker als Gramsci den Akzent auf die nicht intentionale, unbewusste und impliziten Regeln folgende Dimension von Praxis. Jede Praxis ist von (habituellen) Dispositionen und (sozialen) Positionen im sozialen Raum geprägt und trägt ihrerseits dazu bei, durch Positionierungen diesen Raum neu zu konfigurieren. Jeder Praxis liegt u.a. ein „Klassifizierungssystem“ (Bourdieu 1987:364) zu Grunde: der Geschmack. Bourdieu ging es darum aufzuzeigen, welcher Zusammenhang zwischen jedem vermeintlich persönlichen Geschmacksurteil und der jeweiligen Zugehörigkeit zu einer sozialen Klasse besteht. Der „Konsum kultureller Güter“ (Bourdieu), also der unterschiedliche Umgang mit allen möglichen Kunst- wie Alltagsgegenständen, rückte schließlich in den Fokus des analytischen wie politischen Interesses. Kulturelle Praxis beschränkt sich aber nicht nur auf die Rezeption und den Gebrauch von Gütern, sondern besteht darüber hinaus in Kämpfen um dessen und deren Sinn und Bedeutung. Es geht schließlich immer auch um die „Macht über die Klassifikations- und Ordnungssysteme“ (Bourdieu 1987:748), auf denen die Vorstellungen über die soziale Welt basieren.
Zum anderen widmeten sich Gramsci wie Bourdieu der Kultur im engeren Sinne. Sie fragten also nach der Rolle, die Büchern und künstlerischen Produktionen vom Groschenroman bis zum Opernbesuch in dieser Aufrechterhaltung von Herrschaft zukommt. Neben der Schule wird der alltägliche Umgang mit Kunst und Literatur – inklusive ablehnenden und verwerfenden Haltungen der sogenannten Hochkultur gegenüber – als Hauptumschlagplatz von reproduzierenden Ideen und Praktiken beschrieben. Während Bourdieu sich vor allem der „Macht des Schulsystems“ (Bourdieu 2014:327) widmet, bestehende soziale Strukturen zu inkorporieren und sie damit unhinterfragbar zu machen, setzt sich Gramsci mit reformpädagogischen Konzepten auseinander und skizziert als Reaktion auf die faschistische Schulreform seiner Zeit „das Modell einer sozialistischen ‚Einheitsschule’“ (Merkens 2004:9). Dass Geschmack und Klassenzugehörigkeit etwas miteinander zu tun haben, davon gingen beide aus. Bourdieu zeigte in empirischen Studien auf, dass von allen Produkten, unter denen die KonsumentInnen wählen können, „die legitimen Kunstwerke die am stärksten klassifizierenden und Klasse verleihenden“ (Bourdieu 1987:36) seien. Markenturnschuh und Klingelton, U-Bahn-Lektüre und Abendgestaltung: Man zeigt über den Umgang mit kulturellen Werken nicht nur an, welcher sozialen Klasse man angehört, sondern erneuert und festigt diese Zugehörigkeit auch. Bourdieu ging davon aus, dass im Kulturkonsum vornehmlich die herrschende Klassenstruktur reproduziert wird, auch und gerade von den unteren Klassen, die sich an den oberen orientieren. Insbesondere im Umgang mit kulturellen Gütern und Praktiken im engeren Sinne bildet sich Bourdieu zufolge eine „ästhetische Disposition“ (vgl. Kastner 2009) heraus, die jede materielle Notwendigkeit zum Kulturkonsum leugnet. Indem diese Leugnung auch die unterschiedlichen Voraussetzungen für den Kulturkonsum verschleiert, wird ein Hinterfragen der dominanten kulturellen Normen ebenso wie der Orientierung an ihnen kaum mehr möglich. Das ist die von Burawoy erwähnte, pessimistische Folgerung, die Bourdieu aus seinen Studien zieht. Gramsci hingegen war da positiver gestimmt. Der Umgang mit Werken und Ideen kann demnach prinzipiell transformatorische Wirkung entfalten. So wie in der Geschichte „die Bajonette der napoleonischen Armee [...] bereits den Weg von einem unsichtbaren Heer von Büchern und Broschüren geebnet“ (Gramsci 1967:22) sahen, so sah Gramsci auch künftige Umwälzungen durch manifestierte Gedanken vorbereitet.
An der Frage des Widerstands treten die sowohl theoretisch als auch politisch wesentlichen Unterschiede zu Tage. Theoretisch hat Bourdieu – anders übrigens als die meisten marxistischen Kulturtheorien – in die Vorstellung, Bücher und Kunstwerke veränderten politische Wirklichkeiten, noch eine Vermittlungsebene eingeschoben. Die Effekte solcher künstlerischer Produktionen sind immer nur gebrochen wirksam, d.h. Gramscis „Bücher und Broschüren“ mussten erst in bestimmten Kreisen und Kontexten zur Durchsetzung gelangt sein – in Bourdieus Worten im „intellektuellen Feld“ –, bevor sie breitere Effekte zeitigen konnten (und können). Bourdieu beschreibt prinzipiell eine „relative Autonomie der Felder“ (Bourdieu 2001:393), d.h. gesellschaftlicher Bereiche, in denen Werte, Produkte, Karrieren und Institutionen sich nach spezifischen eigenen Logiken vollziehen bzw. gestalten. So kam es (seit dem 15. Jahrhundert, endgültig aber in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts) auch zur „Herausbildung eines autonomen Kunstfeldes“ (Bourdieu 2001:397), in dem ein eigener „Glaube an den Wert der Kunst“ (Bourdieu 2001:458) etabliert werden konnte. Die Eigenlogik, der sich alle am Feld beteiligten – also von den KünstlerInnen über die GaleristInnen, Museumsangestellten und SammlerInnen bis hin zu den KuratorInnen, KunstvermittlerInnen, KunstkritikerInnen und Publikum – verpflichtet fühlen, schließt (zunächst) alle anderen Bewertungskriterien – wie etwa politische, moralische, sportliche etc. – für Gutes und Richtiges aus. Erst auf der Grundlage eines Verständnisses dieser Feldlogiken lässt sich dann fragen, wie es trotzdem zu außerkünstlerischen Effekten kommen kann. Für Bourdieu liegt der Schlüssel dafür in der Position, die die Intellektuellen im sozialen Raum einnehmen, und in der Rolle, die sie vor diesem Hintergrund spielen. In vielen, auch marxistischen Ansätzen, die sich diese Frage nach dem Zusammenhang von „Kunst und Politik“ (bzw. den Effekten von jener auf diese) gestellt haben, fallen die Antworten oft unbefriedigend aus, weil sie das Spezifische der Kunst mit dem Allgemeinen der Kultur nicht vermitteln können. Gramsci zumindest war sich des Problems der Vermittlung dieser zwei Bereiche bewusst, als er den Anspruch erhob, die Kritik der Kultur müsse mit „der ästhetischen oder rein künstlerischen Kritik [...] verschmelzen“ (Gramsci 1999:2108).
Paradigmatisch hat etwa Oliver Marchart in seinem Buch „Hegemonie im Kunstfeld“ am Beispiel der weltweit wichtigsten Ausstellung für zeitgenössische Kunst, der alle fünf Jahre in Kassel stattfindenden Documenta sehr schön gezeigt, wie der Zusammenhang von Kunst und Politik erst innerhalb des Kunstfeldes begriffen werden muss – hier gab es verschiedene Verschiebungen zwischen den Documentas dX (1997), D11 (2002) und d12 (2007) hin zu einer zunehmenden Depolitisierung. Dann erst kann verstanden werden, wie und wodurch das Kunstfeld als „wichtiges Terrain [...] auf dem ideologische Allianzen hergestellt und ständig umgebaut werden“ (Marchart 2008:13), gesamtgesellschaftlich Effekte zeitigt. Mit dem Wort „Biennalisierung“ im Untertitel weist Marchart auf den zunehmenden Event-Charakter und die Ökonomisierung der Kunst hin. So nutzt er Bourdieu und Gramsci zugleich, um zu zeigen, dass Kunstanalyse zu betreiben auch heißen muss, Machtanalyse zu betreiben (vgl. Marchart 2008:94). Er trägt damit letztlich auch der Tatsache Rechnung, dass auch Gramsci es auf institutionelle wie individuelle, auf materielle wie ideelle Dimensionen abgesehen hatte und dass deshalb – wie Ingo Lauggas herausstellt – in den „Gefängnisheften“ „Hegemonie zum Schlüsselbegriff wird und nicht Ideologie“ (Lauggas 2014:167).
Dass der Blick dabei auf ständig im Umbau begriffene Allianzen gerichtet sein muss, bedeutet dreierlei: Erstens sind ganz spezifische Konstellationen eines Feldes zu beobachten. Das Kunstfeld ist, wie jedes andere Feld auch, eines, das von Kräfteverhältnissen geprägt ist und in dem sich verschiebende, unterschiedliche „Machtverteilungen“ (Wuggenig 2012:38) auch verschiedene Effekte haben. Zweitens gehen diese Allianzen deutlich übers Kunstfeld hinaus, sie verlaufen quer zu den Feldern und finden gleichzeitig auf vielen Ebenen statt. So kann es proklamierte Gemeinsamkeiten zwischen Kunst und linken sozialen Bewegungen ebenso geben wie die von Kunstinstitutionen gewollte oder gebilligte Imagepflege für Banken durch Kunstsponsoring. Dass Bündnisse – gegen diese und für jene Kunst, für oder gegen Sponsoring etc. – hergestellt und umgebaut werden müssen, heißt drittens, dass sie sich nicht von selbst verstehen. Sie sind also nicht vom Material, vom Standpunkt im Produktionsprozess oder anderen potenziellen Determinationen vorgegeben. „Der Kampf der und um Klassifikationen“, also wie die Dinge ein- und Menschen (auch einer Klasse) zugeteilt werden, „ist eine grundlegende Dimension des Klassenkampfes“ (Bourdieu 1992:153). Diese Ein- und Zuteilungen sind nicht festgelegt und verstehen sich auch nicht von selbst, sondern sie sind stets umkämpft. Dies ist auch der Übergang zur politischen Differenz zwischen Gramsci und Bourdieu.
Politisch ist für Gramsci als Marxist-Leninist klar, es ist das Proletariat, das die Geschichte macht. Anders als viele seiner GenossInnen ergänzte Gramsci diese Überzeugung aber durch die Analyse der Notwendigkeit von Bündnissen: Da die Machtergreifung der Arbeiterklasse eben weder von Natur noch Geschichte notwendig hervorgebracht werde, müssten dafür verschiedene Strategien in Betracht gezogen werden, u.a. eben die Bildung breiter Allianzen, in Gramscis Worten eines „historischen Blocks“. Bücher und Broschüren, aber auch der Arbeitskampf und selbstverständlich die Parteiarbeit, stellten dazu die nötigen Mittel dar. „Kulturelle Hegemonie“ sollte errungen werden und galt fortan als wichtige Voraussetzung auch für soziale und ökonomische Umwälzungen. Es muss Gramsci zufolge also selbst um die Geschmäcker gekämpft werden. Er zeigte sich jedenfalls zuversichtlich etwa hinsichtlich der Möglichkeit, „den melodramatischen Geschmack des kleinen Mannes in Italien [zu] bekämpfen“ (Gramsci 2012:48). Gramsci maß der Kultur also nicht nur großen theoretischen Stellenwert zu, sondern legte auch seine politische Hoffnung in sie.
Bourdieu hingegen leitete aus dem Kulturkonsum der unteren Klassen keine emanzipatorischen Hoffnungen ab. Im Gegenteil sah er die Vorlieben und Begehren immer an den oberen Klassen orientiert und damit vornehmlich „Herrschaftseffekte“ (Bourdieu 1987:601ff.) walten. Eigensinnige, gar widerständige kulturelle Praktiken der unteren, bei Gramsci subalternen Klassen, konnte und wollte er lange Zeit nicht erkennen. Das Argument war in seinen Studien zur algerischen Landbevölkerung in der Endphase des Kolonialismus dem sehr ähnlich, das er in den 1990er Jahren auf diejenigen anwandte, die sich zunehmende Prekarisierung von Arbeits- und Lebensverhältnissen im Neoliberalismus ausgesetzt sahen: Wer nicht einmal die Spur von Macht über die eigene Gegenwart innehat, wie soll die oder der auch noch eigene Zukunftsvisionen entwickeln? Und wer nicht einmal über die Kontrolle über die eigene Zeit verfügt, wie soll die oder der noch gesamtgesellschaftliche Vorstellungen und Utopien entwickeln oder gar maßgeblich zu deren Umsetzung beitragen?
Dieser strukturelle Pessimismus hat ihm schließlich auch viel Kritik eingebracht, von marxistischer Seite ebenso wie von Seiten der Cultural Studies. Der schon genannte Néstor García Canclini etwa schloss sich zwar Bourdieus genetischem Konstruktivismus an, d.h. auch er nahm gesellschaftliche Klassifizierungen nicht als gegeben (sondern eben als sozial konstruiert). Er behauptete aber – am Beispiel lateinamerikanischer Gesellschaften –, dass das Populare, also Geschmäcker und Verhaltensweisen in den unteren Klassen, sich zwar aus Ungleichheiten entwickelt. Es entstünden aber durchaus eigenständige und auch widerständige Praxisformen. García Canclini unterscheidet dafür zwischen „Praktiken“, die die herrschende Muster und Strukturen reproduzieren, und „Praxis“, die sie verändert (vgl. Garcia Canclini 1984:176). Ganz ähnlich hat der Gramsci-Experte und Herausgeber der sozialphilosophischen Zeitschrift Das Argument, Wolfgang Fritz Haug, versucht, Formen des Denkens und Handelns gegenüber der Annahme bloß permanenter Wiederherstellung des Bestehenden zu retten. Haug unterscheidet in Abgrenzung von Bourdieu zwischen „kultureller Distinktion“ und „kultureller Unterscheidung“: Erstere trägt demnach, wie Bourdieu geschildert hat, mittels Prestige und subtiler Protzerei dazu bei, das alles bleibt, wie es ist, die zweite Form gibt schlicht „einem konkretem Etwas den Vorzug vor etwas anderem“ (Haug 2011:56). Mit Bourdieu – und letztlich auch mit Gramsci – allerdings wäre zu bezweifeln, ob es solch unschuldige Auswahlpraktiken in einer sozial und kulturell höchst ungleichen Welt geben kann.