Von der Hausmusik zur House Music >> Musik und Jugendkultur im Wandel der Zeiten

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von Peter Wicke

Erscheinungsjahr: 2015/2012

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Jugendkultur und Popmusik sind längst zu Synonymen geworden. Das war nicht immer so. Erst mit dem Rock’n’Roll in den 1950er Jahren erhielt Musik eine symbolische Funktion, die charakteristisch geworden ist für die Kultur Jugendlicher. Und erst das Medium Musik verschaffte Jugendkultur nach und nach jene Autonomie, die sie heute besitzt. Dennoch reicht das Verhältnis Jugend und Musik in die Geschichte viel weiter zurück.

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Als Heranwachsende die ersten Spuren in der Musikkultur hinterließen, gab es das Wort Jugend noch gar nicht und auch nicht die Vorstellung von einer mehr oder weniger ausgeprägten Übergangsphase zwischen Kind und Erwachsenen. 1852 erschien im Leipziger MusikVerlag Carl Rühle mit der Nummer 28 in der Reihe Musikalische 20-Pfennig-Bibliothek ein „Salonstück für Pianoforte zu zwei Händen“ von der damals gerade achtzehnjährigen Thekla Badarzewska-Baranowska. Es trägt den Titel „La Priére d'une Vierge“ – das Gebet einer Jungfrau. Nun hatte es zwar auch zuvor schon den einen oder anderen Fall eines musikalischen Wunderkindes gegeben. Wolfgang Amadeus Mozart etwa verfasste seine ersten Kompositionen bekanntlich als Fünfjähriger. Aber das Wunder bestand hierbei ja eben gerade darin, dass ein Kind scheinbar mit der Reife eines Erwachsenen zu komponieren und zu musizieren vermochte. „La Priére d'une Vierge“ dagegen ist mit seiner etwas verkitschten Innerlichkeit in der Erlebniswelt zumindest des weiblichen Teils einer in der Mitte des 19. Jahrhunderts zahlenmäßig keineswegs klein zu veranschlagenden Gruppe Heranwachsender verankert, für die sich diese Lebensphase mit der meist eher ungeliebten Erfahrung häuslicher Klavierexerzitien verband. Der Klavierunterricht war für die Mädchen aus gutem Hause gleichsam das Pendant zum Militärdienst der Söhne, ein unerlässliches Pflichtprogramm. Hinter der Fassade der Gutbürgerlichkeit entstanden dabei die ersten Anzeichen altersspezifischer kultureller Zusammenhänge, auch wenn die seinerzeit noch nicht als solche wahrgenommen wurden. Obwohl das häusliche Musizieren zunächst eine relativ exklusive Angelegenheit des Bildungsbürgertums war, reichte dessen kulturelle Vorbildwirkung dann doch so weit, dass um die Jahrhundertmitte selbst in vielen proletarischen Haushalten ein Klavier zu finden war. Wer irgendwie konnte, ließ seine Tochter Klavierspielen lernen, denn das erhöhte die Chancen auf dem Heiratsmarkt beträchtlich. „Bis in die unteren Stände hinab wird ein gewisses Repertoire an Liedern und Klavierstücken zur unentbehrlichen Aussteuer der Töchter gezählt,“ – heißt es in einer zeitgenössischen Betrachtung hierzu. (Gumprecht 1876:20)

„La Priére d'une Vierge“ war mit seinem beziehungsvollen Titel nicht nur ein Inbegriff für das obligate Ständchen bei den abendlichen Renommierveranstaltungen in der guten Stube des Bürgertums und all derjenigen, die dazugehören wollten. Das Stück gestaltete sich als eine Orgie des gefühlvollen Schwelgens in schönem Klang, die mit relativ einfachen spieltechnischen Mitteln zu haben war. Der Tonraum ist weitgreifend ausgeschritten, was die linke wie die rechte Hand in die Randzonen ihrer Hälfte der Klaviatur führt. Die Inbesitznahme des Instruments in seiner vollen Breite umgibt den Vortrag nicht nur mit der unwiderstehlichen Aura der Virtuosität. Es verlangt auch einen körperlichen Einsatz, der die Reize der jungfräulichen Tochter am Klavier wohlgefällig zur Geltung brachte. Und das alles mit einem spieltechnischen Aufwand, der auch für weniger begabte Naturen zu bewältigen war. Kein Wunder also, dass schon die LoseblattVersion der Originalausgabe aus dem Jahre 1852 in unzähligen Auflagen gedruckt wurde. 1859 erschien das Stück dann als Notenbeilage zur Revue et Gazetta Musicale in Paris, womit es seinen Siegeszug um die Welt antrat. In den folgenden Jahrzehnten fehlte es in keinem der von den Musikverlagen in Fortsetzung auf den Markt gebrachten Klavieralben. Allein 1864 fand es sich gleich in sieben verschiedenen Editionen. Und dieser Boom hat sich bis weit ins 20. Jahrhundert gehalten, ohne dass ein Jahr vergangen wäre, in dem es nicht irgendwo eine Neuveröffentlichung gegeben hätte. Insgesamt 140 Verlage hatten die Originalversion für Klavier in ihrem Programm, hinzu kommen Fassungen für jedes nur denkbare Instrument. Keiner hat die millionenfache Gesamtauflage je gezählt oder bislang auch nur exakt ermitteln können, in wie vielen verschiedenen Arrangements für wie viele verschiedene Besetzungen das „Gebet einer Jungfrau“ inzwischen vermarktet worden ist. Die populäre Internet-Plattform YouTube listet selbst heute noch über 180 Video-Versionen mit Einspielungen des Stücks. Die einunddreißigjährig früh verstorbene polnische Pianistin Thekla Badarzewka-Baranowska hatte mit „La Priére d'une Vierge“ das geschaffen, was man heute einen Mega-Hit nennt. Es war ein Zeugnis des Heranwachsens, was sich gleichsam durch die Hintertür in die Öffentlichkeit stahl, denn auch wenn es üblicherweise die unverheirateten Töchter waren, die am Klavier die Hausmusik bestritten, ein musikalisches Zeugnis ihrer Jugend ließen weder der gute Geschmack noch die bürgerliche Etikette im 19. Jahrhundert zu. „Infantil“ gehörte dann auch zu den eher harmlosen Adjektiven, mit denen das Stück von der Kritik belegt wurde. Für den Musikwissenschaftler Hugo Riemann war es Ausdruck einer „den niedrigsten musikalischen Instinkten der Menge huldigenden Afterkunst“ (Riemann 1901:313).

Als zu Beginn des 20. Jahrhunderts dann die Phase des Heranwachsens als Jugend ins öffentliche Bewusstsein trat, war diese bei den Betroffenen noch lange von dem Drang gekennzeichnet, ihr möglichst schnell wieder zu entwachsen und frühzeitig als das zu gelten, was Heranwachsende sich unter erwachsen vorstellten. An den Vergnügungen der Erwachsenen teilhaben zu dürfen, charakterisierte bis zur Jahrhundertmitte die Dynamik des kulturellen Verhaltens Jugendlicher. Es war Musik für Erwachsene, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert der entstehenden Jugendkultur einen Rahmen gab. Die in den 1910er Jahren ins Leben gerufene Jugendmusikbewegung dagegen blieb mit ihrer Ausrichtung auf die Pflege des Volksliedgutes eine pädagogische Bemühung um die musische Erziehung der Jugend, auch wenn in diesem Kontext der Begriff „Musikalische Jugendkultur“ (Jöde 1918) geprägt worden ist. Die Jugendlichen selbst suchten zunächst mit Grammophon und Schallplatte und dann am Radiogerät einen Vorgeschmack auf die Freuden des Erwachsenenlebens zu erahnen, denn die einschlägigen Amüsiertempel waren ihnen natürlich verschlossen. Vor allem der Swing zog dann ab Mitte der 1930er Jahre Jugendliche unwiderstehlich in seinen Bann. Die berühmt gewordenen New Yorker „Battles of the Bands“ – Wettkämpfe der populärsten Swing-Bigbands – fanden eigens in den frühen Abendstunden statt, um Jugendlichen den Zugang zu ermöglichen. Und sie strömten zu Tausenden. Über 20.000 waren Zeuge des legendären Wettkampfs zwischen den Bands von Chick Webb und Benny Goodman am 11. Mai 1937, aus dem die Band von Chick Webb als Sieger hervorging. So entstand in den 1930er Jahren im Umfeld der Swing-Bigbands eine Jugendkultur, die mit ihrer geheimbündlerischen Musikbegeisterung, ihrer peniblen Kleiderordnung und einem spezifischen Jargon in der Zeit des Zweiten Weltkrieges dann weder vor dem besetzten Europa noch vor dem faschistischen Deutschland haltmachte (vgl. hierzu die überaus informative Studie von Mike Zwerin (1985): La tristesse de Saint Louis. Swing under the Nazis sowie den von Bernd Polster (1989) herausgegebenen Band »Swing Heil«. Jazz im Nationalsozialismus). Die französischen Zazous oder die deutsche Swing-Jugend waren die aktivsten Repräsentanten dieser Jugendkultur in Europa.

Obwohl insbesondere der sportive, körperbetonte Tanzstil – Jitterbug und Lindy Hop – eine altersspezifische Grenzlinie auf dem Tanzboden zog und den jungen Leuten vorbehalten blieb, war die Kultur der Swing-Kids noch eine nachahmende Vorwegnahme des Erwachsenseins und von dem Wunsch geprägt, durch Teilhabe an den Vergnügungen, Geheimnissen und Privilegien der Erwachsenen die Brücken zur Kindheit hinter sich abzureißen. Da aber die Bigband-Variante des Swing die Musik der Ballrooms war, zu denen Jugendliche, wenn überhaupt, dann nur bis 22:00 Uhr und unter Begleitung Erwachsener Zugang hatten, standen die Schallplatte und der privat organisierte Umgang mit Musik hier im Zentrum des jugendkulturellen Verhaltens. Erst als die Kino-Ketten in den USA ihre Häuser für musikalische Show-Veranstaltungen öffneten, um der jugendlichen Musikbegeisterung Raum zu schaffen, geriet in die Öffentlichkeit, was sich bis dahin hauptsächlich hinter verschlossenen Wohnungstüren abgespielt hatte. Da ohne Alkoholausschank, galten die Film-Tempel als jugendtauglich.

Hier, im New Yorker Paramount Theatre am Broadway, sorgte am 30. Dezember 1942 der für die damalige Zeit sensationell junge Sänger der Big Band von Tommy Dorsey, Frank Sinatra, für ein spektakuläres Konzert, das als eines der ersten Zeugnisse einer eigenständigen, im Alltag und den darin verankerten kulturellen Werten Heranwachsender verwurzelten musikbezogenen Jugendkultur gilt. Das durchweg minderjährige Publikum zelebrierte hier eine derart emotionsgeladene Musikbegeisterung, dass den Kommentatoren die Worte wegblieben. Sinatra erinnerte sich später:

„Der Lärm, der mich begrüßte, war einfach ohrenbetäubend. Es war ein gewaltiges Tosen. 5000 Kids trampelten, schrien, kreischten und applaudierten. Ich war zu Tode erschrocken.“
(Zit. n. Summers/Swan 2005:135)

Erstmals sah die Welt kreischende Fans zu Füßen eines Stars. Als Sinatra im Oktober 1944 erneut hier auftrat, legten 35.000 seiner Anhänger, denen der Zugang zu dem restlos ausverkauften Konzert verwehrt blieb, den Verkehr auf New Yorks Prachtmeile lahm. Die Bobby Soxers – weibliche Sinatra-Fans im Teenager-Alter mit Pudelrock und heruntergerollten Ringelsöckchen – hatten die Öffentlichkeit erobert. Ihr Idol war nicht mehr nur, wie die Schauspieler zuvor, ein unerreichbares Objekt zum Anhimmeln. Sinatra besaß ein klingendes Erscheinungsbild, das fühlbar war, den Körper umfasste, Resonanzen in der Seele auslöste und für diese halbwüchsigen Mädchen zu einem ihr Innerstes erreichenden Medium der Selbsterfahrung wurde. Durchdrungen von Musik sich selbst in einer sehr unmittelbaren und direkten Form zu erfahren, die sowohl privat und individuell als auch gemeinschaftlich und öffentlich ist, der eigenen Subjektivität in klingender Form habhaft zu werden und dabei zugleich, wie durch ein unsichtbares Band, mit allen jenen verbunden zu sein, die Gleiches erfahren, das sollte eine immer entscheidendere Rolle im Prozess des Heranwachsens spielen. Als Medium der Vermittlung von Öffentlichkeit und Privatheit, Individualität und Gesellschaftlichkeit in einer Entwicklungsphase, in der sich die sozial relevanten Züge des Selbst formen, erhielt Musik nun einen Stellenwert, der sie, begleitet von den Medien Rundfunk und Schallplatte, wenig später auch dem Fernsehen, zu einer der wirkungsmächtigsten Sozialisierungsinstanzen im Prozess des Heranwachsens werden ließ.

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Was das bedeutete, begann offenbar zu werden, als Elvis Presley am 17. Juli 1953 mit „That’s Allright Mama“ und „Blue Moon of Kentucky“, den beiden Songs seiner ersten Single, im Bon Air Club von Memphis das erste Mal eine Bühne betrat. Die Idolisierung dieses etwas schüchternen Südstaaten-Jungen erreichte schon bei seinem ersten Auftritt Ausmaße, die jedes bis dahin bekannte Maß übertrafen. Fortan beschränkten sich die Auffälligkeiten im kulturellen Verhalten Jugendlicher nicht mehr auf die Begeisterungsrituale bei Konzertauftritten, sondern entfalteten eine Dynamik, die, vorangetrieben von den Medien und Hollywood-Produktionen wie Rebel Without a Cause (… denn sie wissen nicht, was sie tun, 1955) oder Blackboard Jungle (Die Saat der Gewalt, 1955), in eine immer rebellischer werdende Jugendkultur mündete. Herwachsende, für die die New York Times 1945 die Bezeichnung Teen-Ager aufbrachte (The New York Times, 7. Januar 1945, 12), entdeckten auf dem Tonträgermarkt, vor dem Kofferradio und als immer massiver umworbene potenzielle Konsumgüterkonsumenten, für die in dieser Zeit ein eigener Jugendmarkt geschaffen wurde, dass Konsum mehr ist als bloßer Güterverbrauch. Sie begannen die Probleme des Heranwachsens auf die Konsumgüterwelt zu projizieren, die sich ihnen so aufdringlich andiente, lernten mit Statusgewinn, Sinngebungs- und Differenzierungsstrategien durch Konsum umzugehen. Die Musik war dafür eine besonders geeignete Ressource, denn sie ließ sich mühelos in die Lebenswelt Jugendlicher einbinden. Peter Guralnick, einer der Zeitzeugen und Biograf von Elvis Presley, schrieb später:

„Rock’n’Roll befreite uns mehr von vergangenen Zeiten, als man damals hätte annehmen können. Seine Energie war explosiv […] Er diente als Ausdruck einer noch nicht genau definierten Sehnsucht. Er bestätigte uns unsere eigene Realität ... Er war eine Welt, in der 'verrückte, durchgedrehte Jugend' ein gängiger Ausdruck und 'wüstes Boogie-Tanzen' ein Akt des sozialen Widerstandes war ... Gerade seine zügellosen Posen, seine protzende Sexualität, die Gewalttätigkeit, die die Radiostationen jener Tage dem Rock’n’Roll zusprachen, sein verbotener und verderblicher Einfluss – dies machte die unfehlbare Attraktion des Rock’n’Roll aus.“ (Guralnick 1971:212)

So wurde Musik, die eigentlich doch nichts anderes sein wollte als Entertainment, gleichsam unter der Hand zu einem Symbol des Heranwachsens, in dem und an dem sich Jugend zu definieren begann. Mit dem Aufkommen des Rock’n’Roll verlor die Kultur Jugendlicher endgültig ihre Ambivalenz im Dazwischen von Kind- und Erwachsensein. Sie wird nicht nur auf eine jeweils altersspezifische Weise eigenständig und autonom, sondern zu einem normativen Leitbild, das den sich formierenden Massenkonsumgesellschaften im Prinzip bis heute den Traum von ewiger Jugend vorgaukelt. Eine entscheidende Bedeutung besaß dafür das durchweg jugendliche Alter der ProtagonistInnen dieses neuartigen Jugendmusikkults, auch wenn es noch immer die A&R-(Artist & Repertoire)-Abteilungen der Plattenfirmen waren, die entschieden, was an Musik produziert wurde und auf Tonträger, über das Radio und schließlich auf den Bühnen Zugang zur Öffentlichkeit erhielt. Doch die Idole waren nun kaum älter als ihr Publikum. Der Umstand, dass es Erwachsene waren, die die musikalischen Ausdrucksformen kontrollierten, die Jugendliche mit dem Rock’n’Roll bald schon nahezu weltweit für die ihren hielten, spielte zunächst keine Rolle. Anders dagegen in den 1960er Jahren, als die britische Beatmusik, allen voran die Beatles, in die Studios und auf die globalen Tonträgermärkte strömten. Sie hatten sich, wie seither noch jede jugendkulturell relevante Entwicklungserscheinung der Popmusik, ihr gleichaltriges Publikum zunächst live und ohne Eingriffe aus der Erwachsenenwelt in den Kellerklubs und Musikkneipen erspielt. Im Studio wurden die selbstgeschriebenen Songs durch einfühlsame Produzenten, wie George Martin bei den Beatles, dann lediglich medientauglich gemacht. Die authentische Wiedergabe der Gefühlswelt und Weltsicht Jugendlicher stand nun im Zentrum von Musik und ließ aus ihr das zentrale Leitmedium der Jugendkultur werden.

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Der immense Erfolg der Beatles hatte allerdings zunächst erst einmal damit zu tun, dass sie in aller Öffentlichkeit vom uneingeschränkten Sieg Heranwachsender auf allen häuslichen Konfliktfeldern kündeten. Ihre Musik war das Lauteste, was es bis dahin zu hören gab. Traten die Beatles auf, war dies eine einzige Lautstärkeorgie, ohne dass da jemand sagen konnte: „Leiser drehen!“ In ihrem Aussehen bündelten sie genau das, was jeden Erwachsenen in einen Zustand der Panik versetzte, weil sie die textilen Statussymbole der Mannbarkeit – Anzug, Schlips und Kragen – mit ihren femininen Langhaarfrisuren zu einer Zeit, wo jede männliche Haarsträhne, die die Ohren auch nur berührte, schon als weibisch galt, treffsicher in eine Karikatur verwandelten. Und obwohl kaum älter als ihr Publikum, mussten sich die Beatles durch ihren Erfolg von keinem mehr bevormunden lassen und kosteten diesen Umstand in zahllosen Interviews, in denen sie nichts und niemanden ernst zu nehmen schienen, auch demonstrativ aus. Damit verkörperten sie in aller Öffentlichkeit – unüberhörbar und unübersehbar –, was bis dahin immer nur vereinzelt und isoliert stattfand, das trotzige Aufbegehren gegen Autoritätsmuster, die sich allein dadurch legitimierten, dass das eben immer schon so war. Das stärkte die Position der vielen kleinen Einzelkämpfer in den Kinderzimmern und ließ die Eltern angesichts der Welle, die da vor ihnen ablief und von den Medien ins Gigantische projiziert wurde, hilflos zurück. Die Beatgruppen, die Anfang der sechziger Jahre zunächst in England, dann im übrigen Europa – West wie Ost – aus dem Boden schossen, lieferten den Soundtrack für das insgesamt problematisch, widersprüchlich und ambivalent gewordene Heranwachsen in einer sich rapide verändernden Gesellschaft.

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Die öffentlich zelebrierten Irritationen, die in den 1960er Jahren diese Entwicklung begleiteten und zu der Begriffsprägung „Beatlemania“ führten, hatten mit dem Umstand zu tun, dass „Jugend“ zu einem intensiv verhandelten Problem-Thema geworden war und dies bis heute in gewisser Weise ja auch geblieben ist. Dass Jugendliche aus den tradierten Verhaltensmustern auszubrechen begannen, wurde in diversen Fachöffentlichkeiten, unter LehrerInnen, SozialpädagogInnen, SoziologInnen und JugendfürsorgerInnen vehement diskutiert und von einer Mehrheit des Medienpublikums an den eigenen Kindern erfahren. Im Konstrukt des Beatles-Fans als eines pathologisch verhaltensgestörten Heranwachsenden, der von der Musik in einen Zustand unkontrollierbarer Hysterie versetzt ist, schien die Jugendproblematik ihren griffigsten Ausdruck gefunden zu haben. Dabei wurde geflissentlich übersehen, dass vor allem die Bildmedien die Verhaltensweisen, die sie mit ihren Schnappschüssen porträtierten, in nicht unerheblichem Maße erst hervorbrachten. Die jugendlichen Musik-Fans agierten, umlagert von Fotografen und Kamerateams, in einem Spektakel auf einer imaginären Bühne, in dem sie die Hauptrolle spielten. Wo sonst wurde Heranwachsenden eine ähnlich große Aufmerksamkeit entgegengebracht? Der nachdenkliche Teil der Zeitgenossen stellte sich allerdings schon damals mit Bezug auf die jugendlichen Bands und ihr Publikum die Frage:

„Sind sie Revolutionäre oder Konformisten; ahnungslose Opfer einer raffinierten Freizeitindustrie, die es auf den kläglichen Rest der Freiheit, die dieses Zeitalter einmal versprach, die Freizeit, abgesehen hat; Verlorene im geplanten Dschungel des Showbusiness – oder augenzwinkernde Eulenspiegel, die in den Rissen und Spalten eines brüchigen Systems leben, das so monolithisch fest gefügt nicht ist, wie es sich ausnimmt?“ (Seuss/Dommermuth/Maier 1965:o.P.)

Auch wenn sie stets beides waren, um die Musik herum entstand nun ein Diskurs, der sie zur Projektionsfläche für den Zeitgeist werden ließ. Dass dieser sich in der Jugend verkörperte und zu verkörpern hatte, galt inzwischen als allgemeiner Konsens. In den Songs der als Rockmusik firmierenden Jugendmusik wurden ab Mitte der 1960er Jahre Themen verhandelt, die wenige Jahre zuvor auch die kühnsten Visionäre nicht mit dem entstandenen Musikkult Jugendlicher in Zusammenhang gebracht hätten. Aus dem pubertären Geschrei kreischender Teenies war Ende der 1960er Jahre der „Sound der amerikanischen Kulturrevolution“ (Eisen 1969) geworden, im Wortsinn die Stimme einer Generation, die in der Musik die Erfahrung ihrer Gemeinschaft, gemeinsame Werte und Sinnkonstruktionen suchte. Es lag nahe, dass Heranwachsende die Welt, die sie sich klingend erlebbar machten, mit der Welt konfrontierten, die ihnen als Wirklichkeit gegenübertrat. Und je mehr sie sich selbst dabei in der Gemeinschaft mit Gleichgesinnten – besser Gleichgestimmten – als soziale Kraft erfuhren, desto realistischer schien der Anspruch, alternative Lebensentwürfe, Wertmuster und Sinnzusammenhänge per Musik auf eine Weise vorzuleben, vorauszuleben, die die Gesellschaft, deren Zukunft jede heranwachsende Generation verkörpert, nicht unverändert lässt. Jugendkultur und Musik waren zu einer sozialen Kraft geworden, die die Hoffnung auslöste, mit der Gitarre in der Hand die Welt verändern zu können. Nahezu alle prominenten Musiker und Bands haben in den Jahren 1967-1969 dieser Entwicklung Tribut gezollt. Die Beatles veröffentlichten 1968 als B-Seite ihrer Single Hey Jude den Song Revolution und die Rolling Stones steuerten im gleichen Monat mit Street Fighting Man von ihrem Album Beggars Banquet (1968) eine Straßenkämpfer-Ballade bei. Mick Jagger hatte den Text nach eigenem Zeugnis auf Anregung des Studentenführers und Vordenkers der Neuen Linken, Tariq Ali, geschrieben. Country Joe and the Fish, die in den USA zu den Wegbereitern des Psychedelic Rock gehörten, lieferten mit I-Feel-Like-I’m-Fixin’-To-Die Rag 1967 der Antivietnamkriegsbewegung einen der populärsten Protestsongs.

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Je näher die Musik dann mit dem Punk Rock, der New Wave, mit Heavy Metal und Grunge an die Lebensrealität Jugendlicher heranrückte, sich in jugendlichen Subkulturen entfaltete, denen sie zugleich einen Rahmen gab, desto mehr differenzierte sie sich in eine unüberschaubar gewordene Vielfalt an Spielweisen und Stilrichtungen aus. Es ist die „Subversion der Selbstbestimmung“ (Bianci 1996), die diesen Prozess bis heute ungebrochen in Gang hält, auch wenn der stets wechselnde mediale Fokus den Eindruck erweckt, hier folge in immer kürzerem Abstand nur eine Welle jugendlicher Musikbegeisterung der nächsten.

Was sich mit der in den 1980er Jahren heranwachsenden Generation allerdings gründlich verändert hatte, war der gesellschaftspolitische Anspruch des Musizierens in den diversen jugendkulturellen Kontexten. Die Kinder der 68er haben den musikalisch und kulturell formulierten Emanzipationsanspruch ihrer Eltern zwar aufgegriffen, aber in einen gänzlich ideologiefreien, konsumorientierten und hedonistischen Lebensstil umgesetzt, zu dem sie sich mit den sequenzergenerierten Loops und computergesteuerten Rhythmuspatterns von Techno und House einen geeigneten Soundtrack schufen. Die unablässige Arbeit am eigenen Körper als Ressource der Lustgewinnung, die jedermann offensteht, ist das Credo, das hinter dieser Musik steht und in den Clubs oder den Raves genannten Großveranstaltungen in immer ausgedehnteren Tanzorgien entfaltet wurde. Die Produkte der Musikindustrie sind in den Diskotheken mit einem als subversiv verstandenen Repertoire an kreativen Techniken in ein Rohmaterial verwandelt worden, das den Status von Musik als verpackter Fertigware mittels Plattenspieler und Crossfader unterläuft. Aus dem Mixen, Sampeln und Dekonstruieren von gängigen Hits, zu denen die ausgemusterten Sequenzer der Rockbands von einst die wummernden Bass Lines liefern, wird hier eine musikalische Erfahrung generiert, die an den Live-Zusammenhang gebunden und somit den traditionellen Verwertungsschemata durch die Musikindustrie entzogen bleibt.

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Diese Verlagerung der Auseinandersetzung von der Ideologie und der kulturellen Symbolwelt auf die reale Ebene der Produktions- und Vermarktungszusammenhänge, eingeschlossen die Piraterie im Internet, gehört inzwischen zu den Kennzeichen der wichtigsten musikbezogenen Jugendkulturen, wie am Hip-Hop mit besonderer Deutlichkeit ablesbar. Während der Medien-Hype die meisten jugendlichen Subkulturen schnell verschlissen hat, geschah mit dem in den 1980er Jahren entstandenen Hip-Hop das genaue Gegenteil. Je hektischer die Kulturindustrie Kasse zu machen suchte, umso stärker lokalisierte sich die Szene und partizipierte mit eigenen kommerziellen Unternehmungen am Boom, die den etablierten Firmen an allen Fronten das Wasser abgruben. Mit Def Jam Records, gegründet 1984 von Rick Rubin, dem ehemaligen DJ der Beasty Boys und Russell Simmons, der mit Rush Communication, einer Managementfirma, verschiedenen Film- und Fernsehproduktionsfirmen sowie den Modelinien „Phat Farm“, “Argyleculture“ und „American Classics“ eines der erfolgreichsten Hip-Hop-Imperien aufgebaut hat, entstand ein Vorbild für viele ähnliche Operationen, die hinter der globalen Erfolgsgeschichte des Hip-Hop als eine Art Do-It-Yourself-Kapitalismus stehen. Jugendkultur wird hier zum markenbewussten Zelebrieren eines Kapitalismus der Zu-kurz-Gekommenen, der in die eigenen Hände nimmt, was dem Sozialstaat nicht abzunötigen ist. Obwohl Bad Boy Entertainment von Rapper Sean Combs, Death Row Records von Dr. Dre und Suge Knights, Ruthless Records von Gangsta Rapper Eazy-E, Lench Mob Records von Ice Cube, Doggy Style Records von Rapper Snoop „Snoopy“ Dog oder Roc-A-Fella Records von Jay-Z – um nur einige der Wichtigsten zu nennen – mit ihren dazugehörigen Modelinien wie Sean Combs Marke „Sean John“, Snoops „Snoopy“ Dogs „Snoop Dogg Clothing“ und Jay-Zs „Roc-A-Wear“ nichts anderes sind, als der Boutiquen-Kapitalismus schon immer war, nur erfolgreicher und umsatzstärker, gelang es ihnen, ein Alternativ-Image zu konservieren.

Das hat erheblich dazu beigetragen, dass sich Hip-Hop immer wieder regenerieren und zu einer der langlebigsten Jugendkulturen werden konnte. Trotz des kommerziellen Drucks, der auch hier natürlich nicht ausblieb – seit den 1990er Jahren hat jede große Plattenfirma eine Hip-Hop-Schiene im Katalog –, konnte hier von Ausverkauf keine Rede sein, weil ein kommerzieller Gegendruck von Innen kam. Allerdings hat sich der subkulturelle Gegendiskurs dabei verengt auf antisoziale Grundwerte – Hyper-Sexualismus, Homophobie, Gewaltverherrlichung und eine übersteigert machohafte Maskulinität, die den komplexen und widersprüchlichen Dialog der Anfangsjahre auf einige wenige Grundmuster reduziert haben. Die Ikonografie des Hip-Hop, wie sie vor allem seit MTVs Yo, MTV Raps! in unzähligen Musikvideos entfaltet ist, trägt durch fortwährende Überzeichnung inzwischen alle Züge der Projektion einer unwirklichen, infantilen Gangsterwelt, die der Marginalisierung nur noch mit sexualisierten Allmachtsphantasien zu begegnen weiß.

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Dennoch gilt auch hier: In einer Gesellschaft, die durch wachsende Individualisierungsprozesse gekennzeichnet ist, in der die Zunahme von Handlungsmöglichkeiten für den Einzelnen sich mit seiner gleichzeitigen Herauslösung aus den sozialen Milieus verbindet, in der individuelles Kosten-Nutzen-Denken Integrationsmuster wie Tradition, soziale Rituale und Utopien weitgehend verdrängt hat, liefert die durch Musik hergestellte Sozialität in der Kultur Jugendlicher mit ihren Gemeinschaftsritualen und der Ritualisierung des Körpers als Form der Selbsterfahrung einen unersetzbaren Rahmen des Heranwachsens, weil Individualität nur in Gesellschaft erfahrbar ist, der Gesellschaftszustand aber eben diese Erfahrung immer problematischer macht. Überraschend ist es deshalb nicht, wenn auch dieser Rahmen schließlich immer problematischer wird.

Verwendete Literatur

  • Bianci, Paolo (1996): Subversion der Selbstbestimmung. Assoziationen im Spiegel von Kunst, Subkultur, Pop und Realwelt. In: Kunstforum international, 134, Mai-September, 56-75.
  • Eisen, Jonathan (1969): The Age of Rock. Sounds of the American Cultural Revolution. New York: Crowell-Collier Press.
  • Gumprecht, Otto (1876): Die Frauen in der Musik. In: Ders.: Neue Musikalische Charakterbilder, 1-62.
  • Guralnick, Peter (1971): Feel Like Going Home. Portraits in Blues & Rock’n’Roll. New York: Back Bay Books.
  • Jöde, Fritz (Hrsg.) (1918): Musikalische Jugendkultur. Anregungen aus der Jugendbewegung. Hamburg: Freideutscher Jugendverlag.
  • Polster, Bernd (Hrsg.) (1989): »Swing Heil«. Jazz im Nationalsozialismus. Berlin: Transit.
  • Riemann, Hugo (1901): Geschichte der Musik seit Beethoven (1800-1900). Berlin/Stuttgart: W. Spemann.
  • Seuss, Jürgen/Dommermuth, Gerold/Maier, Hans (1965): Beat in Liverpool. Frankfurt/M.: Europ. Verl.-Anstalt.
  • Summers, Antony/Swan,Robbyn (2005): Sinatra: The Life. New York.
  • The New York Times (o.J.): A Teen-Age Bill Of Rights, 7. Januar 1945, 12.
  • Zwerin, Mike (1985): La tristesse de Saint Louis. Swing under the Nazis. London: Quartet.

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Peter Wicke (2015/2012): Von der Hausmusik zur House Music >> Musik und Jugendkultur im Wandel der Zeiten. In: KULTURELLE BILDUNG ONLINE: https://www.kubi-online.de/index.php/artikel/hausmusik-zur-house-music-musik-jugendkultur-wandel-zeiten (letzter Zugriff am 14.09.2021).

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