Gewünschte Fremdheit: KünstlerInnen in die Kita. >> Kinder, KünstlerInnen, ErzieherInnen und Eltern begegnen sich beim Berliner Projekt TUKI – Theater und Kita
In diesem Artikel möchte ich das Phänomen Fremdheit und deren Potentiale in Bezug auf die Arbeit von KünstlerInnen in Kitas skizzieren. Erstens frage ich nach den Potentialen, die für die Beteiligten in der Konstellation selbst liegen können: Welche Erkenntnis- und Erfahrungsmomente ergeben sich, wenn mehrere Professionen und Altersstufen eng zusammen arbeiten? Zweitens möchte ich mir die direkte persönliche Begegnung der Kinder mit den KünstlerInnen anschauen. In beiden Fällen interessieren mich neben den expliziten die inzidentellen Lern- und Entwicklungsmomente der Beteiligten. Im Weiteren folge ich der Frage der Authentizität von Kunsterleben durch die Person einer Künstlerin oder eines Künstlers. Veranschaulichen möchte ich die angeschnittenen Themenstellungen unter Punkt vier mit Beispielen aus der Praxis: Von 2012-2014 habe ich das Berliner Projekt TUKI – Theater und Kita wissenschaftlich begleitet. Im Rahmen von TUKI Berlin arbeiten inzwischen 17 Kitas mit Theatern und KünstlerInnen zusammen. Es gibt feste „Tandems“, die jeweils über mindestens ein Jahr kooperieren. Im Laufe der ersten beiden TUKI-Projektjahre hat sich der Theaterbegriff sehr weit geöffnet und hin zu stark experimentellen Formen weiterentwickelt. Im Zentrum der Betrachtung stand neben der künstlerisch-praktischen Umsetzung und der Gestaltung der Kooperation immer die Frage nach dem zugrunde liegenden Menschenbild.
FREMDHEIT 1: Begegnungen in neuen Konstellationen
Geht man davon aus, dass die Ausübung einer Profession jeweils ganz eigene Denk-, Arbeits- und Kommunikationsmuster voraussetzt und erzeugt, und geht man weiter davon aus, dass die hier betrachteten KünstlerInnen ihre Tätigkeit als Hauptberuf verstehen, dann findet – soziologisch betrachtet – eine „interkulturelle“ Begegnung statt, wenn KünstlerInnen Workshops, Aufführungen oder Ausstellungen in einer Kita umsetzen. Als Person sind sie in der Kita zunächst fremd und auch ihre Art des Denkens, Sprechens, Arbeitens und ihres Umgangs ist oft anders als das in der Kita Gewohnte. Die Neuheit und die Reibungspunkte dieser Begegnungen betreffen alle Anwesenden, auch die teilzeit-anwesenden Eltern, die das Konzept der Kita mit tragen. Selbstverständlich gibt es graduelle Unterschiede im Fremdheitsgefühl. Im Laufe der Zusammenarbeit lernen sich die Beteiligten kennen, tauschen sich aus, finden in einigen Punkten Übereinstimmung und grenzen sich in anderen ab. Die Tatsache bleibt aber bestehen, dass ErzieherInnen sich in ihrem Arbeitsumfeld andere Themen und Strukturen gesucht und aufgebaut haben als ihre KollegInnen aus den performativen und bildenden Künsten – und diese jeden Tag aufs Neue „Kita-gerecht“ und damit eigenen Regeln folgend gestalten. Läuft es gut, eröffnen sich neue fachliche Horizonte. So haben die Beteiligten in der Kooperation die Gelegenheit, ihr Tun vor einer gedanklich und praktisch erweiterten Palette von Grundhaltungen, Fähigkeiten, Wissen und Erfahrung zu reflektieren. Sie entdecken Konfliktpotential und entwickeln Lösungen. Schauen wir nur auf die Erwachsenen, sind allein diese Effekte erstrebenswerte Projektziele interprofessioneller Zusammenarbeit. Diese Grundidee wird in der künstlerischen und Kulturellen Bildung bereits häufig erprobt und umgesetzt. So bezieht sich die BKJ immer wieder auf dieses Phänomen der gegenseitigen Kompetenzerweiterung in ihren Überlegungen zur Weiterentwicklung von Kooperationen in der Kulturellen Bildung (vgl. www.bkj.de). Doch selten wird auf die impliziten und inzidentellen Lern- und Erfahrungsmöglichkeiten für die Kinder geachtet, die in der interdisziplinären und interprofessionellen Konstellation in Kooperationen der Kulturellen Bildung liegen. Unter inzidentellem Lernen werden zufällige Lernprozesse verstanden. Inzidentelle Lernprozesse sind in den ersten Lebensjahren vorherrschend und stehen im Gegensatz zu expliziten, intentionellen Lernformen der schulischen Bildung. Ludwig Liegle schreibt: „Einen Großteil dessen, was wir im Laufe unseres Lebens lernen, lernen wir unbeabsichtigt und eher beiläufig“ (Liegle 2010:17-19). Inzidentellen Lernprozessen wird ein sehr hohes Maß an spontanem Lernzuwachs und Vielfalt beigemessen. In der Fachliteratur wird in diesem Zusammenhang von aktiven Konstruktionsleistungen gesprochen (ebenda). Neben den expliziten Zielen und Hoffnungen existiert meines Erachtens im Team zwischen KünstlerInnen und ErzieherInnen ein weiteres Feld für implizites und inzidentelles Lernen. Ungeplante Situationen, Überraschungen, mangelnde Absprachen, Missverständnisse, unterschiedliche – meist nicht bewusst formulierte – Definitionen von Kunst, Pädagogik, Lerninhalten und Vorhaben sowie unausgesprochene Erwartungen erweitern maßgeblich das Spektrum an Beobachtungsmöglichkeiten für die Kinder: Wie reagieren die Erwachsenen aufeinander? Was verhandeln sie miteinander? Was bedeutet das? Reibungen und Konflikte in dem eventuell noch ungeübten Team bereichern die Erfahrungspalette aller Beteiligten und es stellt sich die Frage: Was erleben und lernen Kinder und Erwachsene, wenn KünstlerInnen Ideen und Arbeitsweisen mitbringen, welche im Vergleich zum Kita-Alltag ungewohnt und fremd erscheinen?
FREMDHEIT 2: Künstlerisches Erleben und die Ernsthaftigkeit von Spiel
Die fremden Erwachsenen, die nicht täglich, sondern nur hin und wieder in die Einrichtung kommen, bringen unterschiedliche Formen von Kunst, in unserem Fall unterschiedliche Formen des Theaterspielens mit. Oberflächlich betrachtet wird in kompakter Form Bewegung, Fantasie, Sprache, Singen, Raumerleben, Malen, das Ausprobieren von emotionalem Ausdruck und seinen diversen Wirkungen, szenisches Geschichtenerfinden, Puppenspiel, das Zusammenspiel in Rollen sowie der Umgang mit Instrumenten, Stoffen und anderen Materialen miteinander kombiniert. Manches davon ist anschlussfähig an das tägliche Erleben und das eigene Ausprobieren der Kinder. Neu ist, dass Erwachsene selbst spielen und dass das Spiel in diesem Rahmen so großen Ernst zu bekommen scheint. Nach Tegtmeyer (2008), so Max Fuchs, sei der Mensch ein „primär ethisches Wesen“ (Fuchs 2011:19). Und nichts Geringeres als die eigene Auseinandersetzung mit dem Leben, den eigenen Weltzugang nennt eine freie Schauspielerin im Rahmen von TUKI als Motivation für die Weitergabe ihrer Arbeitsweise an die Kinder: „Weil ich es brauche! Weil das meine Art ist, mit diesem ganzen Wahnsinn, der in dieser Welt passiert (umzugehen, d. Verf.)“ (Steinmann 2013:16). Sie beschreibt Kunst als eine Möglichkeit, das eigene Erleben zu kanalisieren und einen Ausdruck dafür zu finden: „Diesen Job mach ich ja nicht, um Experimente zu machen, sondern wirklich, um denen das mitzugeben, was mir gut tut für mein Dasein.“ Die Künstlerin schließt dabei an ein Prinzip der Kulturphilosophie an. Fuchs schreibt: „Kunst ist reflektierte und praktische Eroberung dieser Welt durch das Selbst, dient also (...) dazu, die Welt für den Menschen erträglich zu machen. (...) Kunst hat es mit dem Menschen zu tun, der sich handelnd und reflektierend in der Welt zurechtfinden muss“ (Fuchs 2011:19). Das ist ernst! Das ist so ernst wie das Spiel der Kinder selbst (Liegle 2003:18ff. in Bezug auf die Fröbelpädagogik). Eine dieser Idee folgenden Grundhaltung in der künstlerischen Zusammenarbeit mit Kindern umzusetzen bedeutet, sich einzulassen auf eine beständige, spielerisch-ernste Suche nach adäquaten Formen und Methoden für die Entdeckung neuer Antworten und neuer Fragen – in der Kunst, auf die Welt. Und hier werden in der Person der Künstlerin in der Kita Generationengrenzen überschritten, denn sie bewegt sich als Erwachsene im Spiel und im künstlerischen Handeln mit den Kindern.
FREMDHEIT 3: Persönlichkeiten statt Bildungskanon
Sehr unterschiedlich ist die Fähigkeit der Erwachsenen, sich verständlich auszudrücken und ihre künstlerischen Vorhaben plastisch zu vermitteln. Die KünstlerInnen begegnen den Kindern in der Hoffnung, dass diese ihr Angebot interessant finden und sich gerne darauf einlassen werden. Die Bereitschaft ist da, das eigene Wissen, Denken und fachliche Handeln mitzuteilen bzw. mit den Kindern zu teilen. In diesem Punkt treffen sich die Anliegen der ErzieherInnen, Eltern und der KünstlerInnen: Sie erhoffen einen Mehrwert für die Kinder. Viel stärker aber als die fachliche Kompetenz der KünstlerInnen nehmen Kinder deren Ausstrahlung, ihre Körperhaltung, ihre Sprache, ihre Weltbetrachtung sowie ihr Kommunikationsverhalten wahr. Nicht nur die Hattie-Studie 2012 (Beywel/Zierer 2013:283ff.) weist darauf hin, dass die anleitende Person als ganzer Mensch viel intensiver von Kindern wahrgenommen wird als es bisher berücksichtigt wurde. Davon können wir ausgehen, wenn wir die aktuelle Forschung zu Wahrnehmung, Lernen und Gehirnentwicklung ernst nehmen (u.a. Rizzolatti/Sinigaglia 2008). In diesem Zusammenhang entstehen kindliche Beobachtungsperspektiven, die bisher wenig Beachtung finden in der Diskussion über die Qualität Kultureller Bildung: Es geht um die Authentizität und auch um die Integrität der Erwachsenen. Was also sehen, fühlen, hören, denken und lernen Kinder, wenn sie KünstlerInnen in ihrem Tun in der Kita oder Grundschule erleben? Worauf achten sie, was erscheint ihnen bemerkenswert, was irritiert sie, was stößt sie ab, was erscheint attraktiv und nachahmenswert? Für die Weiterentwicklung der Kulturellen Bildung in ihrem Verhältnis zwischen Pädagogik, Wissenschaft und Kunst ist also zu klären, was Authentizität und Integrität in der Person der fremden Künstlerin in diesem Zusammenhang bedeuten und welche Zuschreibungen von wünschenswerten Qualitäten sich daraus ergeben könnten.
FREMDHEIT 4: Menschenbild und Bewertungen. Beispiele aus der wissenschaftlichen Begleitung von TUKI
Um die bisherigen Gedankengänge nachvollziehbar werden zu lassen, möchte ich anhand ausgewählter Beispiele von TUKI darstellen, wie KünstlerInnen ihr Verhältnis zu der Arbeit in der Kita beschreiben. Eine Theaterpädagogin im TUKI-Projekt unterscheidet beispielsweise in einen künstlerischen Zugang des Schauens im Gegensatz zu einer Haltung des selbstverständlichen Annehmens oder etwa Wissens: „Immer wieder und wieder (neu) zu gucken. Diesen Auftrag haben wir den Erzieherinnen und auch den Kindern gegenüber“ (Steinmann 2013:17). Die positive Wirkung des Nicht-Wissens hat der Neurowissenschaftler Manfred Spitzer übrigens als besonders förderlich für das Lernen hervorgehoben (Spitzer 2004 - 2012). Sprache tritt als Hauptverständigungsmittel in den Hintergrund: „Die Künstler gucken anders. Die gucken mehr über den Körperausdruck der Kinder, die sind darauf sensibilisiert, wirklich die Kinder anzuschauen“ (ebenda). Laut einer Theaterpädagogin bei TUKI schauten die KünstlerInnen nicht so sehr darauf, was es „die Kinder lehrt“, sondern sie beobachteten, „was funktioniert?“ – im Zusammenspiel und auf der Bühne. Erwachsene und Kinder arbeiten gemeinsam mit künstlerischen Mitteln. Es geht um die gemeinsame Herstellung und Erfahrung von Kunst, nicht in erster Linie um die Reflexion von Bildungs- oder Lernprozessen. Ihr Herangehen beinhaltet ein gleichberechtigtes Menschenbild, welches sich – in den Worten einer Theaterpädagogin über die Haltung ihrer Schauspielkollegin – in zwei wesentlichen Aspekte zusammenfassen lässt: „Weil sie die (Kinder) ernst nimmt.“ Und: „Das hat was mit Vertrauen zu tun in die Kinder“ (ebenda). Daraus resultiert ein Umgang mit Menschen, mit Regeln, Räumen, Lautstärken, Freiheiten und anderen Gestaltungsmomenten in der gemeinsamen Theaterarbeit, der sich von tagtäglichen Kommunikationsformen deutlich unterscheiden lässt. Dieser andere Umgang äußert sich zum Beispiel in abweichenden Bewertungen von gruppendynamischen Situationen und individuellen Reaktionen auf das Geschehen seitens der ErzieherInnen und der KünstlerInnen. Die Zusammenarbeit zwischen den unterschiedlichen Professionen beinhaltet durchaus widersprüchliche Auffassungen der beteiligten Erwachsenen davon, was in der Theaterstunde erlaubt ist, was als Störung oder Problem dargestellt wird, was als Herausforderung definiert oder auch als akzeptable Verhaltensvariation wahrgenommen wird. Im Gegensatz zum Kita-Alltag, in dem die Bedürfnisse vieler Kinder gleichermaßen beachtet und für alle geltende Strukturen geschaffen und organisiert werden müssen, empfindet eine Theaterpädagogin die Theaterstunde als einen „Luxus, ...die Kinder anders angucken zu können“ (ebenda). Eine Künstlerin beschreibt ihren Umgang mit so genanntem Störverhalten (für die bessere Lesbarkeit wurden die folgenden Zitate sprachlich leicht korrigiert): „Ich hatte Kinder, die nie mitgemacht haben. Die waren so glücklich! (...) Ich hab gesagt: Ah. Du willst nicht mitmachen. Das ist ja spannend. Du willst nur zuschauen, das finde ich auch gut. Ich habe sie ermuntert, ja? Und ich hatte Probleme mit Erziehern, die sagen: Warum machst Du nicht mit, Tom?“ (ebenda:18). Ein weiterer Interviewausschnitt unterstreicht die andere Sicht von Künstlerinnen auf Kinder, die dazu führen kann, dass pädagogische Maßnahmen, die der Anpassung und Eingliederung in der Kita dienen sollen, auch als kontraproduktiv für den künstlerischen Prozess und darüber hinaus als gewaltsam gegenüber dem Kind wahrgenommen werden können: „Ich sehe Kinder, die sehr viele Probleme haben zu Hause, die kaum sprechen oder so. Die sind manchmal so nah an ihren Gefühlen und die können diese ganzen Theatersachen am besten nachvollziehen, nachspielen. Aber die müssen sich einfügen in einen Alltag. Das ist ein großes Paradox. Aber das Theater ist vielleicht da, um den Kindern diese Möglichkeiten zu erlauben“ (ebenda:18). Ihre Vermutung ist, dass die Wertschätzung für besonders ausdrucksstarkes Verhalten von Kindern und ein darin eingebettetes Sich-Selbst-Entdecken insbesondere durch KünstlerInnen in die Kita getragen werden kann. Diese freilassende und respektvolle Sicht auf Kinder, die in der Kita als problematisch empfunden werden, lässt sich gebündelt in folgender Situationsbeschreibung finden: „Gerade Kinder, die nichts machen wollen, die haben einen Grund dafür. Einmal hatte ich ein Kind, das sich regelmäßig auf den Boden geschmissen hat, nur weil er Lust hatte. Und dann wurde er raus genommen aus der Gruppe. Er hatte sehr viele Schwierigkeiten damals. Das war für mich ein kleiner Kinski, ein großer Schauspieler. Man entdeckt Potential in Kindern, die haben viel zu sagen. Das wünscht sich jeder Regisseur auf der Volksbühne. So ein Ausdruck. So ein klares ICH. Das fand ich großartig“ (ebenda:18).
Es wird erkennbar, dass die unterschiedliche professionelle Sicht auf die Kinder enorme Potentiale freisetzen kann, da mit künstlerischem Blick andere Facetten betont und wahrgenommen werden und die Ausdrucksstärke der Kinder in den Fokus gerückt wird, nicht die Defizite oder alltäglichen Probleme. Gleichzeitig wird durch die Person der Künstlerin und deren eigenes Spielverhalten ein intensives Mitspielverhalten aktiviert. Das hier angerissene Thema des unterschiedlichen Schauens auf die Kinder lässt bei den hier inneliegenden Chancen aber auch ein Dilemma aufscheinen, das einen vertieften Austausch über pädagogische Grundhaltungen und Konzepte erforderlich macht. Die oben zitierten Künstlerinnen beschreiben ein Aufeinandertreffen grundverschiedener Systeme mit ihren jeweiligen Regeln und Setzungen. Die daraus resultierenden Konflikte können in einer dynamischen Praxissituation, in der eine ganze Kindergruppe aktiv anwesend ist, kaum oder gar nicht angesprochen und geklärt werden. Viele KünstlerInnen haben keinen eindeutigen Pädagogikbegriff und arbeiten je nach Situation und je nach Grad der eigenen Reflexion intuitiv.Teilweise ist Unwissenheit über pädagogische Rahmungen zu bemerken und es besteht ein Mangel an Reflexion – was beides beschönigend als künstlerische Authentizität dargestellt werden könnte. Dann wieder überzeugt die erfrischende Herangehensweise, die ungehemmter, weil ungetrübter von Bedenken und bremsenden Konzepten zu sein scheint. Nach Auffassung der Verfasserin könnte hier – positiv betrachtet – ein wesentliches, nicht beabsichtigtes, nicht von den Erwachsenen kontrolliertes oder intendiertes, inzidentelles Lernpotential bestehen, das besondere Lernchancen durch die Konfrontation mit differenten pädagogischen Haltungen bietet. Und dieses Lernpotential steht Kinder und Erwachsenen gleichermaßen offen. Der Gehirnforscher Gerald Hüther schreibt über den Vorteil von überraschenden Herausforderungen gegenüber bekannten Vorgehensweisen:
„Wer sich auf einen schwierigen Weg macht, beginnt sein Gehirn wesentlich komplexer, vielseitiger und intensiver zu benutzen als jemand, der selbstzufrieden dort stehen bleibt, wo er entweder zufälligerweise gelandet oder vom Druck oder vom Sog der Verhältnisse hingespült worden ist (...). Und da die Art und die Nutzung des Gehirns darüber entscheidet, wie viele Verschaltungen sich zwischen Milliarden von Nervenzellen ausbilden, welche Verschaltungsmuster dort stabilisiert werden können und wie komplex diese neuronalen Verschaltungen sich miteinander verbinden, trifft man mit der Entscheidung, wie und wofür man sein Gehirn benutzen will, immer auch eine Entscheidung darüber, was für ein Gehirn man bekommt“ (Hüther 2002:119).
Pädagogisch nicht geglättete und nicht komplett durchstrukturierte Arbeitssituationen in der Kulturellen Bildung können demnach einen besonderen Bildungswert in Bezug auf die individuelle Gehirnentwicklung haben. Die Frage nach Authentizität und vor allem nach Integrität seitens der Verantwortlichen ist damit noch nicht geklärt. Dennoch lässt sich ableiten, dass es eine qualitativ signifikante Bedeutung hat, ob Theater in der Kita von KünstlerInnen angeboten wird oder ob dies ErzieherInnen mit Zusatzausbildung tun. Über die Qualität als solche ist allerdings auch noch kein Urteil möglich.
FREMDHEIT 5: Rollentausch, Vertrautheit statt Sperrigkeit
Im dritten TUKI-Projektjahr wurde konzeptionell eine gravierende Veränderung vollzogen: Die Erzieherinnen übernahmen die Anleitung der Theatereinheiten und die Künstlerinnen unterstützten sie dabei. Die Ergebnisse lassen sich in meinem wissenschaftlichen Bericht zum dritten TUKI-Projektjahr nachlesen und werden hier nur sehr gerafft dargestellt. Da sich die Theaterarbeit im dritten TUKI-Jahr hauptsächlich aus den Ressourcen der Erzieherinnen und der Kitas heraus speiste, wurden deren Berufserfahrung, Ausbildung und Weiterbildung die wesentliche fachliche Grundlage für die TUKI-Theaterarbeit. Dazu kamen Impulse aus den TUKI-Werkstätten, in denen methodisch und inhaltlich zu dem eigenen Theaterverständnis gearbeitet wurde, sowie diverse Theaterbesuche und Eindrücke vor und hinter der Bühne. Gemeinsam mit den Erfahrungen aus den von den Künstlerinnen angeleiteten Theaterstunden im ersten und zweiten Jahr wurden die Werkstätten und Theaterbesuche von den ErzieherInnen als wichtige Quelle für die theoretische wie praktische Orientierung ihrer eigenen Theaterangebote genannt. Die Künstlerinnen wurden zu Prozessbegleiterinnen und waren seltener persönlich anwesend. Die Theaterstunden wurden, wie im ersten und zweiten TUKI-Jahr, jeweils gerahmt von in der Kita bekannten Ritualen und Liedern. Neu war, dass stärker in der Kita vorhandenes Material einbezogen, genutzt, umgewandelt und ergänzt wurde. Inhaltlich wurden in umfangreicherem Maße die Themen und Ideen der Kinder aufgegriffen und spielerisch-szenisch umgesetzt. Von den Künstlerinnen wurde bemerkt, dass die persönlichen Kenntnisse über die einzelnen Kinder seitens der Erzieherinnen sensibel und gezielt in der Theaterarbeit berücksichtigt wurden und die Erzieherinnen hier einen großen Vorsprung gegenüber den nur einmal wöchentlich für eine Stunde in der Kita anwesenden Künstlerinnen hatten. Nicht nur die individuellen Potentiale der Kinder, auch deren Grenzen konnten offensichtlich stärker berücksichtigt werden. Die TUKI-Stunde war also auf allen Ebenen stärker in dem bereits Bekannten und Vertrauten verankert. Die vertrauensvolle Beziehung der Kinder zu ihren Erzieherinnen bot den Nährboden für die Arbeit an etwas Neuem, Fremden. Gleichzeitig kann man vermuten, dass die Konfrontation mit der Fremdheit von Kunst reduziert und die Begegnungen mit ästhetischen Mitteln auf diese Weise zahmer gemacht wurden (zu Erfahrungen durch Fremdheit vgl. Wolfgang Sting/Virginia Thielicke o.J., Stefan Bree 2014:6-16). Hierzu gibt es unterschiedliche Aussagen: Eine Künstlerin bemängelt das Fehlen einer „gewisse(n) Sperrigkeit, weil etwas nicht im bekannten Gestus stattfindet“, die sie als Anreiz wahrnimmt, um sich Fremdes anzueignen. Sie beschreibt den Unterschied ihres Ansatzes zu dem der Kita: „Mein Prozess war ja, aus meinem Kunstverständnis zu den Kleinen zu kommen und (meine) Kunst für sie zu öffnen oder die Kunst sich wieder anders durch sie öffnen lassen. Für die Erzieherinnen ist es vielleicht eher so: sich aus den Erfahrungen mit den Kindern der Kunst zu nähern (...)“ (Steinmann 2014:3). An anderer Stelle sieht dieselbe Theaterpädagogin die Situation jedoch sehr positiv: „Ich bin tatsächlich beeindruckt und berührt, wie offen Theater nicht nur gesehen, sondern wie offen es eben auch praktiziert wird. Der Aspekt des Forschens, Erkennens, Spielens, Entdeckens über ästhetische Aspekte ist ein ganz selbstverständlicher Bestandteil der Arbeit und man merkt, wie viel Freude alle darin haben“ (ebenda). Entgegen der Befürchtung, nun verstärkt ästhetische Schablonen, Vorgefertigtes und Durchgeplantes in der Theaterarbeit vorzufinden, äußert eine Künstlerin zu der Frage, was besser funktioniere als erwartet: „...die Selbstverständlichkeit sich auf die ästhetischen Spielweisen der Kinder einzulassen und ihnen einen scheinbar unendlichen und sehr vertrauensvollen Raum zu lassen.“ (ebenda:4) Bei aller Vielfalt und künstlerischer Aktivität, die sich in den Proben und Präsentationen in allen drei TUKI-Kitas im dritten Projektjahr gut nachvollziehen lässt, muss gleichzeitig kritisch nachgefragt werden, was davon künstlerische Qualität hat und im weiteren Sinne Theater ist, und was – allgemeiner gesprochen – Grundlagenvermittlung in der Kulturellen und Ästhetischen Bildung oder einfach kreatives Ausprobieren ist. Hier stoßen wir auf die Qualitätsdiskussion und die Probleme des Definierens und Eingrenzens künstlerischer Prozesse. Auffallend ist, dass in verstärktem Maße bildnerische Elemente eingesetzt werden und viel materialbezogenes Arbeiten in den TUKI-Stunden passiert: Aus dem Material heraus werden kreative Prozesse entwickelt – was ein legitimer Zugang auch für Theater ist. Gleichzeitig fehlen zielgerichtete Aktionen – als ein mögliches Merkmal von Theater – fast vollständig. Szenische Elemente sind zu einzelnen Aspekten in den TUKI-Stunden geworden, Interaktion und freies Rollenspiel sind als Ansätze vorhanden. Installatorische und performative Ansätze überwiegen, beinhalten aber nicht das Kennenlernen oder die Verfeinerung theatraler Techniken. Fazit: Die Rahmengebungen für die TUKI-Theater-Stunden könnten ebenso gut Rahmen für jede kreative, bildnerisch-künstlerische Gruppenstunde sein. Hier wird in jedem Fall die fachliche Qualität verändert und der Theaterbegriff zu einem allgemeinen Kunst- und Kreativitätsbegriff erweitert.
Mangelnde Fremdheit: Keine KünstlerInnen in der Kita
Wenn ErzieherInnen die Rolle von TheateranleiterInnen übernehmen, fehlt – neben der Veränderung der fachlichen Qualität – der Moment der direkten Begegnung zwischen KünstlerInnen und Kindern sowie zwischen KünstlerInnen, Eltern und ErzieherInnen. Die Kinder erleben ihre hoch engagierten und begeisterten ErzieherInnen in neuen Rollen, aber sie erleben keine Erwachsenen, die allein aus beruflichem Interesse heraus Maßstäbe zugrunde legen und Entscheidungen treffen, die abweichen von denen, die sie üblicherweise beobachten können: Erwachsene, die von sich selbst sagen, dass sie „anders schauen“. Es fehlen die Reibungen und unerwarteten Impulse zur Erneuerung und Erweiterung des Bestehenden, sei es auf künstlerisch-fachlicher, struktureller, pädagogischer oder individueller Ebene. Es fehlen wesentliche Bildungsimpulse, die aus interprofessionellen Konstellationen entspringen können. Als Rollenmodelle fehlen Erwachsene, die permanent nach neuen Methoden und Möglichkeiten, neuen Antworten und neuen Weltzugängen suchen, indem sie ernsthaft spielen und damit die herrschenden Regeln und Wirklichkeitskonstruktionen in Frage stellen. Es fehlt die spezifische künstlerische Qualität des Suchens und Ausprobierens, die im professionellen Nicht-Wissen verborgen liegt.