Es geht um Freiheit. Über die ländliche Kultur als Gegenstand öffentlicher Förderung und eine Kulturelle Bildung als Landschaftliche Bildung
Abstract
Ländliche oder provinziell geprägte Räume erscheinen nicht erst seit dem Aufblühen des demografischen Diskurses (Beetz 2007) als mangelhaft, denn sie bieten weniger Möglichkeiten für Bildung, Karriere und Konsum. Der Beitrag vertritt die These, dass diese strukturell bedingten Merkmale im Zeitalter der Versorgungsgesellschaft positiv gewendet werden können: Als Chance auf Souveränität im individuellen und sozialen Lebenszusammenhang. Die Voraussetzungen für diesen Perspektivwechsel müssen allerdings geschaffen werden, vor allem in Form einer entsprechend instrumentell gedachten öffentlichen Kulturförderung. Der Text basiert auf einer Auseinandersetzung mit dem Thema ländliche Kultur, die seit 2015 im Zuge einer Konzeption für das „Oderbruch Museum Altranft – Werkstatt für ländliche Kultur“ geführt und durch das Programm „TRAFO – Modelle für Kultur im Wandel" unterstützt wird (Anders et al. 2015).
Was ist ländliche Kultur?
Möchte man ein kulturpolitisches Interesse an ländlichen Regionen formulieren, stößt man schnell auf Ungenauigkeit und Flüchtigkeit in der Sprache, in der das Thema beschrieben wird. Was stellt man sich vor, wenn von Stadt und Land gesprochen wird? Es gibt kaum noch spezifische Raumbilder. Nur im historischen Kontext spricht man von „typischen“ Dörfern und Städten. Heutzutage sind Siedlungen ausgefranst, ihre Lesbarkeit nimmt ab und die Zuordnungen werden trügerisch (Henkel 2016). Eine Kleinstadt in Thüringen gehört aus gegenwärtiger Sicht eher zum ländlichen Raum als zu einer Ballungsregion, während so manches Dorf zum selbstbewussten Stadtteil einer Großstadt geworden ist. Entstanden sind Ähnlichkeiten und Unähnlichkeiten, in denen die Begriffe „Stadt“ und „Land“ allenfalls relativ gebraucht werden können.
Deshalb wird hier zunächst versucht, das Feld entlang einer Unterscheidung von Urbanisierung und Suburbanisierung zu ordnen. Denken wir beide Begriffe im Zusammenhang, wird plausibel, dass Suburbanisierung die Unterordnung von Landschaften unter die Raumbedürfnisse der Städte beschreibt. Diese Landschaften werden zu Wohnsiedlungen, Verkehrszonen, Produktionsgebieten oder Vergnügungs- und Sportanlagen. Man spricht in diesem Zusammenhang von „Flächenverbrauch“. Zahllose Konflikte zwischen kleineren Gemeinden und ihren benachbarten Städten illustrieren diese Prozesse, die sich seit über 100 Jahren im Zuge wachsender Agglomerationen abspielen: Niemand möchte suburbanisiert werden, also zum bloßen Funktionsraum degenerieren. Auch wenn ökonomische Vorteile winken, die Kommunen kämpfen im Falle ihrer Eingemeindung oder der Ausweitung von Infrastruktur meist um Formen der Selbstbestimmung. Warum tun sie das?
Es hängt mit der Selbstbestimmung zusammen. Im Begriff der Urbanisierung ist diese Selbstbestimmung mitgedacht: Urbanisierung ist nicht einfach Verstädterung. Sie bedeutet zunächst einmal die Entwicklung und Ausdifferenzierung moderner Institutionen auf Siedlungsebene: eine selbstbewusste kommunale Selbstverwaltung, unbedingte Rechtssicherheit und eine vitale Diskursöffentlichkeit sind dabei wohl die wichtigsten Aspekte. Solche Qualitäten werden durch die Modernisierung auch in ländlichen Regionen ermöglicht, wir haben aber hierfür keinen eigenständigen Begriff. Dass die Technologieentwicklung das Erscheinungsbild des Landes radikal verändert, tritt dagegen in den Hintergrund. Der Gestaltwandel des Landes wird übrigens selten von den Landbewohnern selbst beklagt; sie wissen, wie beschwerlich das Leben einst war.
Die entscheidende Differenz zum verdichteten Stadtraum wird allerdings durch die geringe Bevölkerungsdichte gebildet. Wo weniger Menschen wohnen, müssen sie mit einer schlechteren Versorgung oder zumindest mit einer geringeren Angebotsdichte und also auch beschränkten Wahlmöglichkeiten für medizinische Hilfe, Konsum, Bildung oder Kultur rechnen. Gelingt es ihnen unter diesen Bedingungen, die unerlässlichen Institutionen und Prozesse einer Demokratie zu entfalten, kann man von einer Art ländlicher Urbanisierung sprechen. In letzter Zeit hat sich in diesem Zusammenhang der programmatische Begriff „Rurbanisierung“ etabliert (vgl.: arch+ 2017; Langner 2016). Rurbanisierung meint die „Verschränkungen von urbanen und ruralen Praktiken, Imaginationen, Projekten und Raumstrukturen“ (ebd.) >>> http://www.bpb.de/apuz/236843/rurbane-landschaften?p=all.
Doch was ist in einem solchen Fall ländliche Kultur? Ich würde „das Ländliche“ an drei Merkmalen erfassen, die alle relational zur Stadt gedacht sind, also in dieser auch zu finden sein können, dort aber schwächer ausgeprägt sein müssen.
- Eine erhöhte Selbstorganisation und Selbstverantwortung für die Organisation des täglichen Lebens. Das ist zunächst ohne Emphase postuliert, es soll lediglich die Bewältigung der geringeren Versorgungsdichte auf dem Land markieren. Die Taktung des öffentlichen Nahverkehrs ist schlechter, die Schule nur selten zu Fuß zu erreichen, der Einkauf lässt sich selten um die Ecke realisieren und ehe man einen Kaffee trinken geht, kocht man sich meist besser selbst einen. Wer auf dem Land lebt, muss sich um mehr Dinge kümmern, um den allgemein etablierten Lebensstandard zu erlangen.
- Eine Ressourcenbeziehung zu Wasser und Boden, den wichtigsten Ressourcen unseres Lebens. Das mag in einer Zeit, in der nur noch verschwindend wenige Menschen in der Land- und Forstwirtschaft tätig sind, wie Nostalgie klingen. Aber man unterschätze weder den Einfluss dieser wenigen Menschen auf die ländlichen Gesellschaften, noch die zähen subsistenzwirtschaftlichen Aneignungen der Bewohner selbst, die von der Jagd über das Brennholz bis zum Garten oder zum Schaf auf der Koppel reichen. Außerdem probiere man einmal, den Begriff ländlich zu verwenden, wenn jede Form der Landbewirtschaftung aus der Alltagskultur verschwunden ist. Das wird schwierig.
- Eine geringere soziale Segregation als in der Stadt. Auch dieses Merkmal verwechsle man nicht mit einem Harmonieprogramm. Wo Menschen verschiedener sozialer Prägung, unterschiedlichen Einkommens und ungleichen Bildungskapitals miteinander Nachbarschaften, Kirchgemeinden oder Vereine bilden, herrscht nicht mehr Einvernehmen als in den sozial ausdifferenzierten Stadtquartieren. Aber die soziale Ungleichheit auf dem Land hat eine interpersonale Dimension. Wo wir von ländlicher Kultur sprechen, hat der unterprivilegierte Nachbar ein gewisses Recht auf Teilhabe an dem, was sich im Dorf abspielt. Wie sollte man es ihm auch verwehren? Er ist ja schon da. Das schönste literarische Beispiel für dieses Phänomen finden wir in Ehm Welks Figur des Kuhhirten Krischan (Welk 1968). Es ergeht ihm in dieser Geschichte letztlich nicht gut – aber im Gegensatz zu einem segregierten Raum kann sich niemand dieser Erfahrung verschließen.
Diese Kriterien, so würde ich es aus meiner Arbeit am Oderbruch Museum Altranft resümieren, scheinen durchaus fruchtbar zu sein, um ländliche Kultur als offenes Feld zu betreten und zu entwickeln, welches nicht nur von gewohnten Erscheinungsformen des Ländlichen formiert wird: die Kuh auf der Weide, das Bauernhaus, die Dorfkirche. An diesen Bildern wird immer noch das Ländliche fest. Es kommt aber darauf an, auch hinter den Fassaden von Neubauten oder modernen Stallanlagen Ländliches erkennen zu können. Denn wenn das Engagement für ländliche Kultur eine Chance in der modernen Gesellschaft haben soll, dann nicht in folkloristischer und nicht einmal in konservatorischer Hinsicht, sondern, indem die Herausforderung des Lebens auf dem Land als Gewinn eigener Gestaltungsmöglichkeiten verstanden wird– und nicht als Hinnahme eines Defizits. Um ein Beispiel zu geben: In unserem Projekt „Heim(at)arbeit“ erkunden Schüler*innen der neunten Klassen im Fach Wirtschaft-Arbeit-Technik die ländlichen Arbeitsmodelle im Oderbruch. Sie besuchen Tierärzt*innen, Landwirte*, Künstler*innen, aber auch Automechaniker*innen, Kommunalpolitiker*innen und Verwaltungsleute* und befragen sie nach ihrer Arbeit. Welchen Ressourcen verdanken sie ihre Arbeit? Wo gehen die Akteure über die Logik der Erwerbsarbeit hinaus? Wie realisiert sich ihr Raumbezug und welche Bindungen haben sie an die Menschen und ihre Landschaft aufgebaut? Den Jugendlichen wird schnell klar: Es gibt wenige Jobs, aber einen großen Reichtum an Arbeitsbiografien, die sich in der Regel im Dreieck zwischen Erwerbsarbeit, Subsistenzarbeit und Engagement für den geteilten Raum entfalten. Dieser Reichtum ist für junge Menschen in der Berufsorientierung interessant und wird in den Standardangeboten der Studien- und Berufsorientierung meist systematisch ausgeblendet (Kulozik et al. 2015).
Ein anderer Freiheitsbegriff
Folgt man diesen Überlegungen, so besteht die gesellschaftliche Programmatik ländlicher Kultur darin, einen alternativen Freiheitsbegriff zu formulieren und erfahrbar zu machen. Je mehr nämlich die Ballungsräume zu Orten der Verfügbarkeit aller denkbaren materiellen und kulturellen Güter und ihres Verbrauchs werden, umso mehr wird Freiheit synonym mit der Möglichkeit, zwischen möglichst vielen Angeboten wählen zu können und unbeschränkte Mobilität zu erlangen. Freiheit wird auf diese Weise letztlich mit Geld verrechnet, ganz gleich ob es um Eissorten, um Reisen oder um weiterführende Schulen geht. Das Gefühl, aus diesen seit Marx bekannten Mechanismen des Kapitals keinen ernsthaften Ausweg zu finden, prägt eine gegenwärtig weit verbreitete Beklommenheit in der Gesellschaft. Leider ist auch von einer intensiven Auseinandersetzung mit der ländlichen Kultur nicht zu erwarten, dass sie im alternativen Sinne einen solchen Ausweg bietet, zumal die Logik des Verbrauchs vor den ländlichen Räumen nicht Halt macht. Dennoch ist es im gesellschaftlichen Interesse, Freiheitserfahrungen zu fördern, die in der Verbrauchslogik nicht aufgehen, auch und gerade dort, wo kaum symbolisches Kapital verfügbar ist.
Der mit einer dünnen Besiedlungsdichte einhergehende relative Versorgungsmangel bietet solche Erfahrungen. Ein Schlüsselphänomen ist dabei die enorme Vielfalt subsistenzwirtschaftlicher Praxen auf dem Land. Immer noch und immer wieder halten Menschen Nutztiere, gehen zur Jagd, sammeln Brennholz und versorgen sich aus dem eigenen Garten. Auch werden kleine Ackerflächen für den Futteranbau genutzt, in Nachbarschaften und Familiengruppen Heu gemacht und Kartoffeln angebaut. Die bemerkenswerte Persistenz dieser Tätigkeiten wird gern mit einem provinziellen Beharrungsvermögen erklärt. Aber diese Erklärung greift viel zu kurz, wie ein Blick auf immer neue Impulse zur Selbstversorgung in den Städten, zuletzt im urban gardening, leicht belegen können.
Subsistenzwirtschaftliche Strategien tragen zum Selbsterhalt sozialer Systeme bei. Dank der eigenen Fähigkeiten und Ressourcen gewinnen die Menschen Souveränität über das eigene Leben. Menschen, die diese Erfahrungen machen, gehen nicht in Zielgruppen auf. Ihr Engagement bietet nicht nur Chancen für die ländlichen Räume, die im Zuge des Demografiediskurses allzu oft als Verliererregionen hingestellt wurden. Meiner Überzeugung nach ist dies für die ganze Gesellschaft wertvoll: Praxen der Subsistenz können zu Kooperationen und Kommunikationen über soziale Barrieren hinweg führen und das Ressourcenbewusstsein verbessern. Im Kontext der Nachhaltigkeitsdebatten kann es kaum etwas Dringlicheres geben.
Arbeit an der ländlichen Kultur durch Kunst und Kulturpolitik
Für die Kulturpolitik geht damit die Entscheidung einher, dass touristische Effekte und Imagegewinn nur zu den Sekundäreffekten der Kulturförderung gehören können. Wer zuerst auf die Wahrnehmung durch andere zielt, dem wird es nicht gelingen, den „zivilisatorischen Mangel“ des ländlichen Raums produktiv zu machen. Die Stärkung der ländlichen Gesellschaft ist bzw. muss der Ausgangspunkt aller Kulturpolitik sein oder einfach gesagt: Die Kultur ist für die Leute da.
Damit sind dann auch Zweifel an den Kernaussagen des vor allem in Fernsehen und Zeitung gern gepflegten Raumpionierdiskurses angebracht, wonach, vor allem durch die Einwanderung neuer urbaner Milieus im Sinne einer ruralen Gentrifizierung, eine Transformation der ländlichen Gesellschaften angestrebt werden könnte. Natürlich ist hier zwischen landläufigen Erwartungen (Anders 2016) und einer Beschreibung neuer Strategien zu unterscheiden (Oswalt/Faber 2013). Allerdings sollte man sich immer vor Augen halten, dass sich diese Gesellschaften ohnehin verändern – sie müssen sich jedoch aus ihrem eigenen Vermögen entwickeln! Neue Sichtweisen, Fähigkeiten und Aneignungen sollten am Wissen und Vermögen der Menschen anschließen, das vorgefunden wird. Neu hinzukommende Menschen hindert der „Pionierstatus“ allzu leicht daran, sich wirklich in die ländlichen Gesellschaften hineinzubegeben.
Aus dieser Position heraus ergeben sich spezifische kulturpolitische Anforderungen und Arbeitsweisen: Kulturpolitik für das Land sollte Kooperation fördern und dabei einen anderen Begriff von „Kulturakteur“ zugrunde legen. Auch Feuerwehrleute (Anders/Schick 2014) oder Landwirte können Träger von Kultur sein, wenn sie das, was sie in ihrer Selbstverantwortung tun, als gesellschaftliche Gestaltungsweise begreifen. Kultur und Kunst müssen sich wieder vermehrt für diese Menschen interessieren, wenn sie einen Beitrag zur Regionalentwicklung leisten wollen (Anders et al. 2018). Gemeinsam gilt es, den Raumbezug der Kultur zu vertiefen und eine autopoietische Auseinandersetzung mit den Landschaften zu stiften. Die ländlichen Landschaften sind voller aufregender Erzählungen und beziehungsreicher Bilder. Das Leben auf dem Land wird gern als provinzielles Mittelmaß kolportiert, eine solche Abwertung verstellt aber den Blick auf die Schicksale und Herausforderungen, die das Landleben aufgrund der o.g. Merkmale ländlicher Kultur mit sich bringt.
Ein Grundsatz der Arbeit am Oderbruch Museum Altranft ist deshalb, dass die Kulturproduktionen aus den Kommunikationen der Menschen in der Region heraus entwickelt werden – und die Zielgruppe wiederum die Menschen der Region sind. Jedes Jahresthema im Oderbruch Museum wird mit ethnografischen Interviews begonnen, in denen die für Themen wie Landwirtschaft, Wasser, Handwerk, Baukultur aussagefähigen Akteure ihre Sichtweisen darlegen können. Diese Interviews werden zu gut lesbaren Texten verarbeitet, aus denen ein Buch entsteht: Die Fülle an Wissen und Erfahrungen, die aus dieser Methode der konkreten Aneignungen entspringt, ist immens und wird bislang weder wissenschaftlich noch kulturell hinreichend genutzt. Aus diesem Exzerpt erfolgt die Entwicklung von Ausstellungsdrehbüchern, Theaterstücken, Bildungsprojekten oder Salongesprächen: Die Menschen erleben sich als Expert*innen ihrer Landschaft – in der Kultur werden ihre Sichtweisen für die Gestaltung, für das Spiel, die Bühnenrolle oder die Debatte frei. Gelingt dieser Prozess, ist er auch für ein Publikum interessant.
Kulturelle Bildung als Landschaftliche Bildung
Dass sich Kultur und Bildung in vielen Fällen von diesen ländlichen Welten abgewendet haben, kann man gut in den Schulen sehen. Es ist zwar möglich, innerhalb der Rahmenlehrpläne der Länder die jeweils eigene Region zu behandeln, aber es ist ebenso möglich, seine Schule nach zehn oder zwölf Jahren zu verlassen, ohne sich ein einziges Mal mit der eigenen Landschaft beschäftigt zu haben. Unsere Erfahrungen in der Landschaftlichen Bildung zeigen, dass in den Grundschulen und auch in den weiterführenden Schulen beinahe sämtliche zu vermittelnde Fächer mit einem Raumbezug ausgestattet werden sollten und dabei erheblich an Farbe gewinnen können (Anders et al. 2012).
Der Impuls, die Landschaft des Oderbruchs zum Bildungsthema zu machen, geht auf Anne Kulozik zurück. Sie schrieb ihre Diplomarbeit über Bildung im Kontext der Europäischen Landschaftskonvention (ELC 2000) auf den Shetland-Inseln und entwickelte zu diesem Zweck ein riesiges Puzzle, das von Grundschulkindern gestaltet werden konnte. Das Puzzle zeigte einen einfachen Aufbau der Landschaft in ihren Grundbausteinen – Meer, Himmel, Grünland, Ackerland. Die Kinder sprachen über diese Bausteine und zeichneten kulturelle und natürliche Elemente ein, die ihnen vertraut waren. Vögel, Fahrzeuge, den Vater auf dem Trecker. Das Prinzip war ganz einfach: Puzzeln, Reden, Malen. Von hier aus schien sich ein Panorama an Möglichkeiten aufzutun.
In der Übertragung auf den Oderbruch wurde aus dem Puzzle ein ganzes Programm Landschaftskundlicher Bildung. In einer Sommerschule mit Landschaftsarchitektur-Student*innen der Technischen Universität Dresden kulminierten die Ideen in einem Füllhorn an Möglichkeiten:
- ein Tag mit Performances, Spielen und Lieder singen am Oderdeich,
- eine Befragung verschiedener Menschen der Region, welche landschaftliche Inhalte sie in der Bildung sehen wollen,
- ein Gang in drei Grundschulen und der Aufbau eines ganzen Unterrichtsprogramms quer über alle Fächer,
- eine Darstellung zur Entstehung des Oderbruchs mit Sand, Seilen und Kugeln sowie seine Besiedlung in einfachen Choreografien nachzuempfinden,
- Schreiben, Geschichten erzählen, Malen und Singen – das Programm ließ sich scheinbar unendlich fortschreiben.
Noch ehe die inhaltlichen und politischen Beziehungen zum Feld der zeitgleich gedeihenden kulturellen Bildungsaktivitäten geklärt werden konnten, tat sich mit der Landschaftspolitischen Bildung ein weiteres Feld auf. Ausgehend vom Grundprinzip, dass Landschaft geteilter Raum ist, wurde der Doppelcharakter von Teilen deutlich: voneinander – miteinander teilen. An der Partnerschule, dem evangelischen Johanniter-Gymnasium Wriezen, konnte der fächerübergreifende Versuch, den Raumbezug im Unterricht einer neunten Klasse herzustellen, erprobt werden. Das Spektrum reichte von den Fächern Politische Bildung, Wirtschaft-Arbeit-Technik über Deutsch, Geschichte, Geografie, Physik bis Musik, Kunst und Religion. Schnell wurde sichtbar, dass zwischen den Möglichkeiten, die sich in so kurzer Zeit auftaten, und der Wirklichkeit des Schulalltags ein breiter Abgrund klafft. Dabei ist es tatsächlich auch in höheren Klassenstufen überhaupt kein Problem, einen Teil der Ziele des Curriculums bzw. des Rahmenlehrplans mit landschaftlichen Bezügen zu versehen oder sie sogar aus dem Raum heraus zu generieren. Im Oderbruch Museum Altranft haben wir nun zum ersten Mal die Möglichkeit, diese Ansätze institutionell zu verankern und sie finanziell auszustatten.
Ein politisches Modethema oder eine neue und umfassende Programmatik?
Die gegenwärtige politische Trendwende scheint diesen Überlegungen Rückenwind zu geben. Seit 2018 haben wir ein Bundesheimatministerium und Schlagworte wie „regionale Identität“ und „Heimatverbundenheit“ stehen wieder hoch im Kurs (Thiemeyer 2018). Es ist gar nicht zu leugnen, dass diese politischen Veränderungen auch zu günstigeren kulturpolitischen Rahmenbedingungen für solche Arbeitsweisen führen können, wie sie zuvor skizziert wurden. Dennoch sollten die derzeit viel gebrauchten Begriffe mit Vorsicht genutzt werden. In der Forderung nach regionaler Identität steckt auch ein Identifikationsgebot, beinahe ein Essentialismus – man hat eine Identität, sodass die Vieldeutigkeit und Offenheit menschlicher Möglichkeiten allzu leicht überdeckt werden. Noch einmal sei daran erinnert: Es geht um Freiheit, nicht um ein Label.
Dem Menschen eine Identität zu vermitteln oder sie aus ihnen herauszukitzeln, ist ohnehin wenig aussichtsreich, wie auch ein allzu langes Herumstochern in Mentalitätszuschreibungen selten Erfreuliches zutage bringt. Richtet sich der gemeinsame Blick aber auf die von allen geteilte Landschaft, können die Gestaltungschancen und Freiheitsgrade am gemeinsamen Gegenstand ausgelotet werden. Kultur und Bildung bieten in ihren vielfältigen Formen ideale Medien für diese Erkundung, die aber dann weit über das Feld der Künste, des Museums oder der Musik hinausreichen muss – in Politik, Planung und Wirtschaft. Erst dann wird aus der öffentlichen Kultur eine Investition in die Demokratie.
Spätestens seit der Systemtheorie wissen wir, dass sich soziale Systeme durch Kommunikation organisieren (Luhmann 1987). Die ländlichen Räume – auf der Ebene der Dörfer – sehen sich derzeit vor allem mit der Auflösung einer über Jahrhunderte äußerst vitalen und wirkungsmächtigen Kommunikation konfrontiert. Solange die Menschen in den Dörfern eine hohe sozioökonomische Interaktionsdichte und die Dörfer mithin eine hohe Systemqualität hatten, war auch die dörfliche Kommunikation für sie absolut dominierend. Der sprichwörtliche Dorftratsch erneuerte täglich die kollektive Unterscheidung zwischen System und Umwelt. Er stellte sicher, dass Mitteilungen, die Gemeinschaft betreffend, getätigt, verstanden und ausdifferenzziert wurden. Dadurch wuchs innerhalb der Dörfer ein feines Bewusstsein von der eigenen Welt (Mak 1999). Man rekapituliere die vielfältigen Beschreibungen und Bezeichnungen, die in den Dörfern von den Nachbarn, den naturräumlichen Elementen und den Siedlungsstrukturen entfaltet worden sind, um sich dies vor Augen zu führen. Es geht hierbei nicht darum zu entscheiden, ob die dörfliche Kommunikation besonders angenehm für die in ihnen gebundenen Menschen war, sondern lediglich um die Selbstorganisationsfähigkeit des sozialen Systems durch seine Kommunikation. Mit dem Zerfall der Dörfer als wirtschaftlicher Siedlungsgemeinschaften ist diese an einem sehr niedrigen Punkt angelangt und den Versuchen, diesen Verlust auf der dörflichen Ebene wieder wettzumachen, sind enge Grenzen gesetzt. Die Menschen stehen heute (auch als Dorfbewohner*innen) in vielfältigen Kommunikationen, die weit über den Horizont ihres Ortes hinausgehen: durch ihren Konsum, ihren Mediengebrauch, ihre Arbeitswelten und durch das Reisen. Insofern ist das, was die Heimatvereine, Freiwilligen Feuerwehren oder Kirchengemeinden zur Wahrung eines dörflichen Zusammenhalts leisten, wahrscheinlich genau das, was gerade so noch möglich ist.
Entsprechend dringlich ist es aber, eine regionale Kommunikation zu fördern, in der die Interaktionen, die auf der Ebene kulturlandschaftlicher Handlungsräume stattfinden kann, in ihrer Systemqualität gestärkt werden.
Regionale Selbstbeschreibung stärken!
Auf diese Ebene zielt die Konzeption einer regionalen Selbstbeschreibung als zentrales Anliegen einer ländlichen Kulturarbeit und Kulturpolitik. Als ein offener, zeitlich nicht abschließbarer und verschiedene Sichtweisen involvierender Prozess, kommt diese Konzeption ohne Identitätsfestlegungen aus, führt dafür aber stets den geteilten Raum vor Augen. Die damit einhergehende Abgrenzung von der Umwelt ist dabei keine Form der Borniertheit, sondern eine der Konzentration. Wer immer den Landbewohner*innen mangelnde Weltoffenheit vorwirft, sollte sich die Menschen anschauen, die uns aus alten Fotos vom Land oder aus solchen aus anderen Weltregionen anschauen. Es sind Menschen, die das Eigene so gut kennen, dass sie mit Neugier in die Welt blicken können.
Will man ländliche Regionen dabei unterstützen, dass sie sich wieder mit ebensolcher Neugier und mit Selbstvertrauen auf die Globalisierung einlassen, dann sollte man sie darin bestärken und Unterstützung dafür leisten, eine möglichst qualifizierte und interessante Selbstbeschreibung zu entwickeln. Wo das Eigene in kulturellen Formen Kraft und Schönheit gefunden hat, wächst die Offenheit für die Welt und für Veränderungen.
Die Bedeutung dessen lässt sich an den für das Land wirkungsmächtigen Diskursen der Gegenwart und der jüngeren Vergangenheit erkennen. Ihnen ist durchweg gemein, dass über das Land gesprochen wird, statt das Land in seiner Sprach- und Ausdrucksfähigkeit zu fördern. Täglich werden derzeit im Agrardiskurs über die moderne Landwirtschaft Urteile verbreitet. Die Landwirte erscheinen als Opfer oder Täter einer verwerflichen Praxis u.v.m. – dafür, dass sie ihre Tätigkeit selbst beschreiben, wird kein Platz geboten. Auch im Demografiediskurs finden wir kaum Formen der Selbstbeschreibung. Und im schon viel länger wirkungsmächtigen Ökologiediskurs wird Landschaft ohnehin gern als eher unzulässig angeeignete Natur thematisiert und die Tatsache, dass es sich bei „Landschaft“ in Deutschland fast immer um Siedlungsräume handelt, ist in den attraktiven Bildern von neuen Wildnissen untergegangen (Gerdes 2010).
Außenperspektive statt Selbstbeschreibung? Für einen modernen Ballungsraum ist das keine Frage. Jede Region mit Selbstvertrauen erzeugt eine eigene Vorstellung von dem, was sie ist und sein will. Sofern es nicht um bloßes Stadtmarketing geht, lässt sich also von den großen Städten für eine regionale Selbstbeschreibung einiges lernen. Auch hier stoßen wir also wieder auf das Motiv der Urbanisierung als einer Form der selbstbestimmten Modernisierung. Ob diese gelingen kann, hängt nicht zuletzt von der kulturpolitischen Unterstützung entsprechender Strategien ab. Man kann aber davon ausgehen, dass die deutschen und überhaupt die europäischen ländlichen Räume vergleichsweise gute Voraussetzungen haben, um sich selbst in dieser Weise zu entwickeln. Denn sie verfügen ja über kommunale Selbstverwaltung, bieten Rechtssicherheit und haben meist eine lokale Presse. Allerdings dürfen sie bei diesen Errungenschaften nicht stehen bleiben, sondern müssen lernen, ihre Möglichkeiten in kulturlandschaftlichen Kontexten mit neuer Kraft zu entfalten.
Landschaftliche Bildung als spezifische Form der Kulturellen Bildung anzuerkennen und weiter zu entwickeln sowie künstlerische Auseinandersetzung mit der ländlichen Kultur und ein Anschluss an das Wissen und die Erfahrung der Menschen in diesen Räumen bilden eine Programmatik für öffentliche Kulturförderung, die noch längst nicht ausbuchstabiert worden ist.